David Foster Wallace - In alter Vertrautheit. Storys

  • Titel: In alter Vertrautheit. Storys
    Originaltitel: Oblivion
    Autor: David Foster Wallace
    Verlag. Rowohlt
    Erschienen. März 2008
    Seitenzahl: 256
    ISBN-10: 3499245787
    ISBN-13: 978-3499245787
    Preis: 8.95 EUR


    Ein Giftanschlag mit Schokoriegeln, ein verbrühtes Kind, ein durchgedrehter Lehrer – darüber schreibt David Foster Wallace in seinen in diesem Buch versammelten Stories. Die Geschichten von Wallace sind großartig – aber sie sind auch gewöhnungsbedürftig und sicher wird es Leser geben, die dieses Buch entnervt beiseite legen. Denn eines sind die Geschichten von David Foster Wallace sicher nicht: Sie sind nicht rund und griffig. Sie fließen nicht einfach nur so dahin. Nein – ganz im Gegenteil. Manchmal stehen sich die Sätze und Wörter gegenseitig im Weg, manchmal stolpert man über die Ecken und Kanten in der Handlung – die Handlung oder der Sinn der Handlung erschließt sich nicht immer sofort. Alles das aber macht den ganz besonderen „Wallace-Reiz“ aus, das Unkonventionelle, das nicht Vorhersehbare. Eine ganze besondere erzählerische Brillanz spricht aus dem erzählerischen Werk von Wallace. Das sich eben nicht in „eine-Schublade-stecken-lassen“. Wallace ist seinen ganz eigenen schriftstellerischen Weg gegangen, hat sich von niemanden vereinnahmen lassen, schreibt eben über das über was er schreiben will.


    Selten beobachtete jemand so gnadenlos wie Wallace, selten werden diese Beobachtungen so gnadenlos präsentiert – eine Präsentation nicht mit dem Holzhammer, sondern eher vorsichtig und dadurch besonders eindringlich.


    Wallace war Professor für Englische Literatur und litt laut seinem Vater zwanzig Jahre an Depressionen. Am 12. September 2008 setzte dieser großartige und eigenwillige Autor seinem Leben ein Ende. Ein riesiger Verlust nicht nur für die zeitgenössische amerikanische Literatur, sondern für die Literatur schlechthin.


    Harald Schmidt bezeichnete David Foster Wallace als einen „Megageheimtipp der amerikanischen Literaturszene“. Recht hat er – der Harald Schmidt.


    Ein sehr lesenswertes Buch.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • In den letzten paar Monaten habe mich mit verschiedenen Vertretern des Absurden beschäftigt und dabei wurde mir auch David Foster Wallace empfohlen. Allerdings bekam ich hierbei die Warnung, das ein Einstieg in sein Werk nicht ganz einfach wäre und man mit diesem Kurzgeschichtenband eine wage Vorstellung bekommen könne.


    Diese fünf sehr unterschiedlichen Geschichten haben mich wirklich nachdenklich zurückgelassen. Wallace zwingt den Leser durch seine unterschwellig schonungslose Darstellung zum Nachdenken und auch Überdenken. Besonders die letzte Geschichte und die Figur des Neal werde ich mit Sicherheit nicht so schnell vergessen. Selbst Tage nachdem ich diese Geschichte beendet habe, gibt es noch zahlreiche Aspekte zu erforschen. Eine relativ kurze Geschichte und doch so tief und ergreifend.


    Auch wenn mich nicht alle Geschichten so gepackt haben wie die letzte, so ist es auch insgesamt ein mehr als gelungenes Werk, von mir gibt es ganz klar eine Leseempfehlung :wave

    :lesend
    Rachel Aaron - The Spirit Rebellion
    Patrick Rothfuss - Der Name des Windes
    Stefan Zweig - Sternstunden der Menschheit

  • Ich kann Euch nur zustimmen, der Erzählband ist mal wieder herausragend. Was an DFW auch immer wieder erstaunt - abgesehen von seinem unerschöpflichen Wortschatz - ist seine kreative und verspielte Art die Geschichten des Lebens einzufangen.


    Während in Mister Squishy (86 Seiten) eine Konferenz der Focus Group zu einem schokointensiven High-Concept-Mister-Squishy-Pausenriegel stattfindet, wird die Sitzung prompt durch eine Gestalt - die mit Saugnäpfen an Füßen, Händen, Kniekehlen und Mütze die Fenster des Hochhauses hinaufklettert - unterbrochen. Das total absurde Geschehen und Benehmen der Teilnehmer wird durch die analytische, protokollhafte Erzählweise parodiert.


    Das Gegenstück dazu bietet Die Seele ist kein Hammerwerk (64 Seiten), indem ein minderbegabter Schüler über einen Vorfall von 1960 erzählt. Damals hatte ein
    Aushilfslehrer im Gemeinschaftskundeunterricht die Tafel mit "TÖTET SIE ALLE" vollgeschrieben und die Schüler damit in Todesängste verschreckt, bis diese den Raum flüchteten. Nur der minderbegabte Junge und drei weiteren Schüler "[verfügten] nicht über die Geistesgegenwart, zusammen mit den anderen Kinder aus der Gemeinschaftkundeklasse zu fliehen". Aus seinen vorgetragenen Erinnerungen geht hervor, dass der Junge die ganze Schulstunde aus dem Drahtgitterglas schaute und die Außengeschehnisse in eine eigene Geschichte bündelte. Die Vortragsweise ist - wie der Titel - sehr symbolhaft und faszinierend.


    In Inkarnationen gebrannter Kinder (5 Seiten) monologisiert ein Vaters über einen Unfall. Trotz der Kürze schockierte mich die Geschichte zutiefst und stimmte mich sehr traurig.


    Noch ein Pionier (34 Seiten) erzählt von einem Indianerstamm, indem ein Junge geboren wurde, dessen besondere kognitiven Fähigkeiten allen anderen Mitgliedern übersteigen und er fortan als Berater des Stammes fungiert; mit dem Resultat, dass der Stamm in kürzester Zeit fortschrittliche Entwicklungen durchmacht. Doch als ein benachbarter Stammesführer den Jungen besucht, scheint sich die Lage zu ändern. Ein interessantes Gedankenspiel und sicher allegorisch auf unsere Gesellschaft übertragbar.


    In der letzten und - meiner Meinung nach - besten Erzählung des Bandes, In alter Vertrautheit (59 Seiten), referiert ein Heuchler über sein Heuchlerdasein, für dass er sich zutiefst schämt und hasst. Es ist erschreckend mit welcher Scham er über sich selbst berichtet. Erschreckend dadurch, weil er sich einerseits immer während des Heuchelns der Heuchelei bewusst und andererseits weil man als Leser selbst zu überlegen beginnt, inwiefern man sich bei bestimmten Personen durchs Leben heuchelt. Seine letztliche - durch Modallogik abgeleitete -Schlussfolgerung, wie man das Heucheln beendet, stimmt sehr nachdenklich.


    Allerdings braucht man für einige der Erzählungen wirklich einen langen Atem (insbesondere bei Mr. Squishy), aber am Ende wird man immer durch die feinsinnige Schreibweise DFWs belohnt. Denn DFW schafft es, das absurdeste und unverständlichste Handeln, dem Leser verstehen zu geben.