Schreibwettbewerb September 2009 - Thema: "Nachbarn"

  • Thema September 2009:


    "Nachbarn"


    Vom 01. bis 20. September 2009 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb September 2009 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!

  • von arter



    01. September, 11:33 Uhr


    Herr Pröll, der manisch depressive junge Mann ohne Anhang, verlässt das Haus. Er hält sich die Hüfte und humpelt ein wenig. Das hängt ganz offensichtlich mit dem polternden Geräusch zusammen, welches in der Nacht gegen 02:54 Uhr zu hören war. Er hatte gestern wieder seine Sorgen im Alkohol ertränkt und war sturzbetrunken um 01:33 Uhr von einer Kneipentour zurückgekehrt.


    Fräulein Witt empfängt gerade den dritten Herrenbesuch. Alle Achtung, es ist gerade erst halb Zwölf. Der Erste war ein älterer Herr mit Mantel und Aktentasche. Er war bereits um 07:40 da und blieb 33 Minuten. Um 09:02 Uhr kam ein schwarzhaariger Hüne mit einem karierten Baumwollhemd für 55 Minuten. Gerade vor sieben Minuten ist dieser schüchtern wirkende, blonde Büromensch mit der viel zu großen Brille eingetroffen. Wie gewöhnlich hatte er sich vor dem Betreten des Hauses ständig umgeschaut, in der Furcht, jemand könne ihn beobachten. Sein Name ist Wolfgang Steuer. Er weiß nicht, dass Frau Steuer über den mittäglichen Aufenthaltsort des Gatten längst im Bilde ist.


    Dieser nichtsnutzige Bengel aus dem ersten Stock schwänzt heute wieder die Schule. Bereits um 08:20 Uhr, nur fünf Minuten nachdem seine Mutter das Haus verlassen hatte, ist er zurückgekehrt und bereits kurze Zeit danach dröhnte diese unerträgliche Hottentottenmusik durch das Haus. Vielleicht sollte jemand der Mutter bei Gelegenheit einen Hinweis geben.


    Herr Selmar hat heute wieder den Müll nicht ordentlich getrennt. Die Plastiktüte, die er vor wenigen Minuten im Hausmüll entsorgte, enthielt diverse Rotweinflaschen, Tetrapacks für den grünen Punkt und sogar Kartoffelschalen. Diese Ignoranz belastet das friedliche Zusammenleben der Hausgemeinschaft und ist nicht hinzunehmen. Es ist ernsthaft zu überlegen, ob man hier nicht geeignete Maßnahmen ergreifen sollte. Druckmittel gäbe es durchaus. Beispielsweise könnte man sein regelmäßiges Verschwinden mittwochs zwischen 20 und 22 Uhr genauer untersuchen. Aus gut informierten Quellen ist bereits durchgesickert, dass Selmars politische Wertvorstellungen ziemlich weit rechts angesiedelt sind. Es ist aber fraglich, ob diese Begeisterung wirklich politischer Natur oder nicht viel mehr darin begründet ist, dass er als NPD-Anhänger leicht und unverdächtig Kontakte zu jungen kernigen Burschen aufnehmen kann.


    So liebe Leute, dass war’s für heute Vormittag von Opa Helmuth, Eurem rüstigen Rentner, immer auf der Lauer. Ich melde mich morgen wieder.


    3 Kommentare >>


    01.09. 11:52
    Wegen Selmar sind wir dran. Übrigens hat er gestern Abend bei Maxdome einen Schwulenporno runtergeladen. Also keine Frage, Opa Helmuth. Du liegst mit der Vermutung ganz richtig.


    Des Dämona.


    01.09. 14:00
    Übrigens, die E-Mail-Adresse von Fräulein Witt ist salome@1001nacht.de. Sie nimmt 50 Euro pro halbe Stunde, „französisch mit“ inklusive. Hier sind auch noch ein paar Bilder. Wer ein Video von dem Date mit dem Hünen haben möchte, kann sich als Gold-Mitglied registrieren lassen und downloaden.


    Karl zu Hälter.


    01.09. 15:23
    OPA HELMUTH WIR HABEN DICH.


    Slipknot.


    ---


    02. September, 09:30 Uhr


    Der heutige Eintrag von Opa Helmuth muss leider entfallen. Auch wird es weder morgen noch sonst irgendwann weitere Neuigkeiten in diesem Blog geben. Das mit der Hottentottenmusik hätte er nicht sagen dürfen.


    Tobi.

  • von Zaniah



    Ein Blick, mehr nicht. Schüchtern winkte sie ihm zu, doch er bewegte sich nicht. Kurz fragte sie sich, ob sie sich geirrt hatte und im Fenster gegenüber nur eine Statue stünde, doch nun drehte er sich um und ging. Seufzend wandte sie sich schließlich wieder ihren Hausaufgaben zu.
    Allmählich wurde dies zu ihrem Ritual. Jeden Abend schaute der seltsam ruhige Junge aus dem Fenster und sah sie eindrücklich an. Leider sah sie ihn nie draußen spielen und sie traute sich nicht, ihn einfach mal zu besuchen. Da er immer so traurig aussah, schrieb sie ihm Briefe. Sie wusste nicht einmal seinen Namen, geschweige denn, was er mochte oder wie alt er war. Also schrieb sie über sich. Fast täglich erzählte sie ihm lustige Geschichten aus der Schule oder Witze, die sie von anderen gehört hatte. Manchmal beschrieb sie ihm, wie gemein ihr Lehrer sie heute behandelt hatte, aber sie bemühte sich, ihm die Laune nicht zu verderben. Ein andermal malte sie ihm schöne Bilder. Warum antwortete er nie? Niemand verstand sie, alle sagten, sie solle aufhören, den „traurigen Jungen von nebenan“ zu nerven. So nannte sie ihn immer. So adressierte sie auch ihre Briefe. Eines Abends schauten sie sich wieder an und Sophie winkte wieder. Sie erwartete, dass er sich wie immer umdrehen würde, doch er blieb. Er lächelte sie an und nickte ihr zu. Dann schloss er die Vorhänge.
    Am nächsten Tag, es war ein Samstag, klingelte es an ihrer Tür. Die Mutter rief nach Sophie und sie kam überrascht nach unten. „Ja?“ fragte sie mit großen Augen, als sie einen schwarzgekleideten Mann an der Türschwelle sah. Seine Augen waren rot und man sah, dass er geweint hatte. „Du musst es sein“ brachte er heraus. „Hier, dieser Brief ist anscheinend für dich.“ Mit zitternden Fingern nahm sie den Brief an und dankte. Der Mann ging, ohne eine Verabschiedung, wieder fort. Sophie zog sich auf ihr Zimmer zurück und besah den Brief. „An den lieben Engel von nebenan“ stand in großen Buchstaben vorne drauf. Er war von dem traurigen Jungen. Er war sehr krank, schrieb er und wenn sie dies lesen würde, wäre er im Himmel und würde ihr von dort oben zusehen. Doch er wolle ihr noch einmal für ihre wunderschönen Briefe danken.
    Mit Tränen in den Augen sah Sophie aus dem Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, doch über dem Haus, am blauen Himmel, thronte eine einzelne, kleine Wolke und es sah beinahe so aus, als hätte sie einen erhobenen Arm, mit dem sie ihr zuwinkte.

  • von Syddy



    Ich lief über die Straße zu meinem Reihenhaus. Rechts neben mir wohnte Frau Müller. Ich hatte sie schon ein paar mal gesehen, doch nie großartig mit ihr geredet. Außer die paar Floskeln: Hallo, wie geht es ihnen und Schönen Tag noch, redete man einfach nicht viel miteinander.
    Doch meinen Nachbar der links von mir wohnte, hatte ich noch nie gesehen. Seit meinem Einzug im Herbst nicht.
    Ich wusste noch nicht einmal wie mein mysteriöser Nachbar hieß.
    Ich ging die Auffahrt zu meinem Haus hoch. Dabei warf ich einen Blick auf die Fenster des Nachbarhauses. Blaue Vorhänge verdeckten die Sicht ins innere des Zimmers.
    Ich wandte meinen Blick von dem verdeckten Fenster ab und schloss meine Haustüre auf. Ich betrat mein Haus und ging in die Küche.
    Gerade als ich mir einen starken Kaffee machen wollte, klingelte mein Telefon. Ich hob ab und sagte wie beiläufig „Hallo, hier ist Nina Fischer am Apparat!“, während ich den Filter der Kaffeemaschine auswechselte.
    „Oh, Frau Fischer. Hier ist Frau Müller.“
    Ich war so überrascht, das sie mich anrief, das mir der Filter aus der Hand glitt und auf den Boden fiel.
    Wir hatten unsere Nummern mal genauso wie unsere Ersatzschlüssel ausgetauscht. Man konnte ja nie wissen, wann man mal ausgesperrt war oder Hilfe brauchte.
    „Oh, hallo Frau Müller. Was gibt es denn?“
    Sie räusperte sich kurz und sagte dann etwas leiser „Nun ja, da sind sehr komische Männer vor dem Reihenhaus ihres anderen Nachbarn!“
    Ich runzelte angestrengt die Stirn. Was meinte sie damit? Frau Müller war genau wie eh und jeh eine wirkliche Traschtante. Sie war schon über 80 und wusste immer über alles Bescheid was hier in der kleinen Siedlung vor sich ging. Mir fiel es jedoch schwer nachzuvollziehen, was sie mir gerade mitteilen wollte.
    „Was meinen sie damit, Frau Müller?“
    „Schauen sie doch mal aus dem Fenster!“
    Ich tat wie geheißen und beugte mich über die Anrichte um aus dem Küchenfenster sehen zu können. Ich erschrak als ich sah was sich vor meinen Augen abspielte.
    „Ähm, Frau Müller, ich denke ich gehe mal kurz raus!“, murmelte ich.
    Sie faselte irgendetwas von wegen: Das wäre eine gute Idee und ich solle es machen.
    Ich legte auf und ging mit einem seltsamen Gefühl im Magen zurück auf die Straße. Ich sah wie Frau Müller ihre Augen gegen die Scheiben ihres Fensters gedrückt hatte um ja nichts zu verpassen. Ihr hatten es viele gleich getan. Manche waren jedoch wie ich auf die Straße getreten und sahen fassungslos dem Schauspiel zu, das sich vor uns abspielte.
    Mein Nachbar wurde von schwarz gekleideten Männern auf einer Trage über den Gehweg zu einem dunklen Auto getragen. Er war tot. Anscheinend hatte er schon einige Wochen in seiner Wohnung gelegen ohne das es jemand bemerkt hatte.
    Ich sah die ganze Zeit auf seinr regloses, altes Gesicht und konnte kaum glauben das ich seinen Tod nicht bemerkt hatte. Immerhin waren wir Nachbarn.

  • von Elisa



    Eilig steige ich aus der U-Bahn und dränge mich zwischen den vielen Menschen hindurch, die wie ich auf dem Heimweg sind. Es ist früher Abend und die Leute sind voller Vorfreude auf ihre Familien und einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher. Ich sehne mich nicht danach. Mich erwartet nur die Stille.
    Ich seufze und steige die Treppe hinauf an die frische Luft. Meine Wohnung liegt direkt an dem kleinen, heruntergekommenen Park, in dem auch die U-Bahn Haltstelle ist. Die Gegend ist ruhig und die Menschen freundlich.
    Der Makler deutete aus dem Fenster auf den kleinen Park. “Eine sehr schöne Lage. Hier kann ich abends sicher auch joggen gehen, um ein wenig abzuschalten.”, sagte ich lächelnd an ihn gewandt.
    Nicht ein einziges Mal bin ich joggen gewesen und ich weiß, dass ich es auch nie tun werde. Als ich hier neu angefangen habe, wollte ich mehr für mich und meinen Körper tun, aufraffen konnte ich mich jedoch nie.
    Bevor ich zu Hause bin, gehe ich kurz in den Kiosk, um mir etwas Brot zu kaufen. Mein Kühlschrank ist ständig leer. Wenn man allein lebt, vergisst man häufig die eigenen Bedürfnisse.
    Der Verkäufer im Laden ist höflich, verdreht allerdings die Augen, als ich nach dem Kleingeld krame. Ich verstehe ihn sehr gut. Man arbeitet hart, Tag für Tag und schlussendlich wird es einem nie gedankt.
    Mutter legte mir die Hand auf den Arm. Sie war zuversichtlich, dass ich hier glücklicher sein würde. “Ich verspreche dir, dass ich mehr Rücksicht auf die Leute und ihre Gefühle nehme und nicht mehr so leicht aus der Fassung gerate.”, sagte ich ernst.
    Es ist mir nicht gelungen mehr Einfühlungsvermögen mit den Menschen und ihren Schicksalen zu haben. Mutter ist alt geworden und hat schon lange aufgegeben, mich zu ermahnen, wenn ich schlecht von meinen Patienten im Krankenhaus spreche.
    Ich gehe die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Ich beeile mich, damit ich keine Nachbarn treffe. Ich scheue jeden Kontakt zu anderen Menschen, bin unfähig eine Beziehung lange aufrecht zu halten.
    Manchmal frage ich mich, wozu ich überhaupt lebe. Die Jahre ziehen an mir vorbei und was mir bleibt ist die Einsamkeit. Nichts bereitet mir Freude und nichts berührt mich.
    Als ich an meiner Wohnungstür stehe, geht plötzlich die Tür neben mir auf. Mein Nachbar tritt heraus. Ich weiß, dass seine Freundin gerade eine Fehlgeburt hatte. Sie war Patientin im Krankenhaus. Er sieht abgekämpft und fertig aus - so wie ich mich fühle. Mein Blick streift ihn flüchtig. Ich verschwende keine Zeit für Höflichkeiten.
    Endlich habe ich die Tür aufgeschlossen. Plötzlich höre ich: “Guten Abend, Frau Wagner. Ich hoffe, sie hatten einen schönen Tag.” Überrascht drehe ich mich um. Mein Nachbar lächelt.

  • von churchill



    Ich hätte nicht dran gehen sollen. Manchmal scheint im Klingeln des Telefons ein unangenehmes Geräusch enthalten zu sein, ein Warnton, eine Alarmsignal. Geh nicht dran – rrrrrrrring – bleib im Sessel sitzen – rrrrrrrrrring.


    Ich bin ein neugieriger Mensch. So neumodisches Zeug wie Anruferkennung aktiviere ich nicht. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich das aktivieren könnte. Ich ging dran und murmelte meinen Namen, von dem ich vermutete, dass er der Anruferin, so sie denn eine sei, bereits vorher bekannt gewesen sein dürfte. „Guten Tag, mein Name ist Kristin Engel, spreche ich mit Herrn Stephan Guth?“


    Ich hätte auflegen sollen. Sofort. Unverzüglich. Schließlich kenne ich keine Kristin und keinen Engel. Aber ich war nach wie vor neugierig. Auf mein genuscheltes „Ja, mit mir höchstpersönlich“ erklang in professioneller Fröhlichkeit des Engels glockenhelles Stimmchen. „Haben Sie einige Minuten Zeit für eine Umfrage zum Thema ’Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt’?“


    Eigentlich hatte ich Zeit. Nur keine Lust. Aber der Engel ließ sich nicht abwimmeln. „Es geht ganz schnell, die Fragen sind ganz einfach.“ Traute Kristin mir nicht zu, auch schwierigere Fragen zu beantworten? Mein Ehrgeiz war geweckt, die Eitelkeit angekratzt. „Schießen Sie los!“


    Sie schoss. „Frage Nummer eins: Wie kommen Sie grundsätzlich mit Ihren Nachbarn aus? Verwenden Sie bitte eine Notenskala von eins bis sechs.“ „Eins“ lautete meine unverzügliche Wertung. Stille bei Kristin. „Sind Sie noch da?“, fragte ich vorsichtig. „Ja“, antwortete sie, um nach weiterem Zögern zu erläutern: „Eins ist in dem Fall die beste und sechs die schlechteste Wertung!“ Ich bemerkte, dass mir das durchaus bewusst sei. Offensichtlich war Kristins Erwartungshaltung eine andere.


    „Frage Nummer zwei: Nennen Sie spontan drei Dinge, die Ihnen an ihren Nachbarn gefallen.“
    „Toleranz, Ruhe, Naturverbundenheit“
    Pause. Notierte sie? Oder staunte sie nur?


    „Ach ja. Gut. Dann Frage Nummer drei: Nennen Sie spontan drei Dinge, die Sie an Ihren Nachbarn nerven.“
    „Da gibt es nichts.“
    „Wenn Sie Zeit brauchen, können Sie gerne kurz nachdenken. Ich bräuchte drei Dinge.“
    „Nein, da gibt es nichts. Absolut nichts.“
    „Gar nichts? Keine Sträucher, die in Ihren Garten ragen? Rasenmäher zur Unzeit? Schlagzeug spielende Teenager? Auf den Gehweg scheißende Hunde? Neugierige Nachbarsfrauen am Fenster, die genau wissen, wann Sie Damenbesuch hatten, als Ihre Frau gerade zur Kur war?“
    „Nein, mich nervt an meinen Nachbarn wirklich nichts.“


    Sie schien nun etwas irritiert zu sein. Und mir machte das Interview langsam aber sicher Spaß. Nach einer weiteren Atem- oder Gedankenpause verließ Kristin Engel den ausgelatschten Pfad vorurteilsbehafteter vorformulierter Fragen. „Herr Guth, ich glaube, Sie sind da die große Ausnahme im Rahmen meiner Umfrage. Alle bisher Interviewten hatten jede Menge Punkte, die sie an ihren Nachbarn kritisierten. Nur Sie nicht.“


    „Das ist ja schön, liebe Frau Engel. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie weiterhelfen?“„Nein. Eher nicht. Sie passen doch nicht ins Profil. Entschuldigen Sie die Störung.“


    Kristin legte auf. Ich auch. Und schaute aus dem Fenster meines kleinen feinen Häuschens. Links Bäume. Rechts auch. Überall. Der nächste Ort Kilometer entfernt. Das Leben ist schön.

  • von Quetzalcoatlus



    Auf dem großen Baum des Lebens
    Sucht man oft sein Glück vergebens
    Drum kommt so mancher zu dem Schluss
    Dass es woanders liegen muss


    Der Orang-Utan dachte dies
    Weshalb er einst sein Heim verließ
    Und sich begab in schnellem Lauf
    Zu dem Schimpansen-Ast hinauf


    „Mein Freund“, rief er, „ich will nicht stören.
    Doch kam ich nicht umhin zu hören:
    Hier läuft das Leben wunderbar.
    Wie kommst du so fantastisch klar?“


    „Ich will dir nicht die Hoffnung nehmen
    Doch auch hier wimmelt’s von Problemen“,
    Sprach der Schimpanse daraufhin.
    „Die Nachbarn steh’n mir bis zum Kinn.


    Dieser Gorilla dort links unten
    Lärmt jeden Tag drei volle Stunden
    Anscheinend hat er ständig Lust
    Sich laut zu trommeln auf die Brust


    Doch noch schlimmer, sage ich dir,
    Ist dieses seltsam kahle Tier
    Es hält sich für besonders schlau
    Jedoch hat es ’nen echten Hau


    Glaub mir einfach, wenn ich sage:
    Dieser Narr, der dort so schwitzt
    Sägt den lieben langen Tage
    An jenem Ast, auf dem er sitzt.“

  • von Bildersturm



    Die Sonne steigt über die Bäume am Dorfrand und bemüht sich an diesem Septembervormittag eifrig, die Schlappen der vergangenen Monate auszubügeln. Langsam tasten sich ihre Strahlen über die Hecke am Lerchenweg Nummer 10 und vertreiben die Schatten vom Dach des dahinterliegenden Geräteschuppens. Verspielt springen sie in die Fugen der Bretterverkleidung und fallen im sanften Halbdunkel zwischen Gartenschlauch und Liegestuhlauflagen auf den nackten Hintern von Herrn Palitzke. Schamvoll dämpfen sie ihr Licht und schälen weitere Einzelheiten aus der Dämmerung: verschlungene Beinpaare, wippende Schenkel, Arme, die sich um Schultern schlingen und Lippen, in Ekstase aufeinandergepresst. Dann setzt die Sonne ihre Entdeckungsreise auf jugendfreiem Terrain fort und überlässt das Fleisch sich selbst.


    Herr Palitzke schnauft zum Abschluss. So macht er das immer. Kein Stöhner, kein Seufzer. Er schnauft. Natürlich gehört der blonde Lockenkopf, der nun erschöpft an seiner Schulter ruht, mitnichten zu Frau Palitzke. Die weilt zum Einkauf im Nachbardorf und hätte ihrem Mann ein en Vogel gezeigt, wenn der sie zu trauter Zweisamkeit in den Geräteschuppen verschleppt hätte. Elvira Schönemeier allerdings hatte keine Einwände gegen den schon etwas windschiefen Holzverschlag gehabt, als Herr Palitzke sein schönstes Lächeln über den Zaun in den Lerchenweg Nummer 12 schickte. Im Gegenteil. Nachbarschaftshilfe war ihr schon immer ein Bedürfnis. Jetzt reckt sie sich wohlig und angelt nach ihrem BH. Es klopft. Elvira Schönemeier starrt entsetzt Herrn Palitzke an. Herr Palitzke starrt entsetzt zurück. Die Tür schwingt auf. Karlheinz Schönemeier starrt nicht minder entsetzt auf Herrn Palitzke.


    Stop.


    Moment mal. Kurze Auszeit. Lassen Sie uns die Situation analysieren: Ein schöner Spätsommertag. Ein halbdunkler Geräteschuppen. Ein nackter Mann. Eine nackte Frau. Ein angezogener Mann, der in ehelicher Beziehung zu der nackten Frau steht. Emotionen. Eine stattliche Anzahl von Gartengeräten. Noch mehr Emotionen. Schlechte Karten für Herrn Palitzke.


    Wieder im Bilde? Schön.


    Karlheinz Schönemeier greift nach dem Rechen, zwischen dessen Zinken noch ein Hauch von Sommer hängt, und zielt auf Herrn Palitzke. Der hechtet mit erstaunlicher Behändigkeit aus der Gefahrenzone und schafft es irgendwie an Karlheinz Schönemeier vorbei aus der Tür. Frustriert schleudert der Gehörnte den Rechen nach dem Flüchtenden, trifft aber nur die zufällig in der Szene aufgetauchte Katze, die mit einem entsetzten Kreischen senkrecht nach oben springt. Elvira Schönemeier rafft hastig ihre Sachen zusammen und verdrückt sich wieder in den Lerchenweg 12, während ihr Gatte mit Kennermiene das Arsenal im Schuppen begutachtet. Dann wählt er fachmännisch die Motorsense aus. Herr Palitzke beobachtet ihn bedrückt von der Terrasse aus und denkt sehnsuchtsvoll an den Hausschlüssel, der leider unerreichbar fern im Schuppen schlummert. Karlheinz Schönmeier startet die Motorsense. Das laute Knattern reißt einen hässlichen Spalt in die vormittägliche Stille. Herr Palitzke schließt die Augen.


    Er schreckt hoch und fällt dabei fast aus dem Liegestuhl. Das Knattern ist immer noch da. Herr Palitzke dreht den Kopf. Drüben im Lerchenweg 12 mäht Karlheinz Schönemeier den Rasen. Elvira Schönemeier steht neben ihm und winkt freundlich übern Zaun. Herr Palitzke winkt zurück und geht ins Haus. Erst drinnen merkt er, dass er im Schlaf gesabbert hat.

  • von Marlowe



    Sie wohnte im ersten Stock rechts. Vor ein paar Tagen ist sie ausgezogen, weil die Nachbarn sie nicht mochten. Wir begegneten uns meistens nur im Treppenhaus oder auf dem Bürgersteig und grüßten uns. Das war es aber auch schon. Ich lebte sehr zurückgezogen und suchte keinen Kontakt.
    Eines Tages aber sprach sie mich an und lud mich ein, sie zu besuchen. In Gedanken hatte ich sie immer African Queen genannt, dabei will ich es jetzt auch lassen. Also besuchte ich ein paar Tage später die Queen und so entstand langsam ein freundschaftlicher, aber dennoch distanzierter Kontakt.
    Immer wenn sie einsam war, rief sie mich an. Sie wollte reden, sie musste reden, sie brauchte das einfach, sie kannte es nicht anders.
    Ich schon, ich wollte eigentlich alleine sein, hatte in meinem Leben fast schon alles gesagt, was es zu sagen gab, aber ich bin ein guter Zuhörer und das genoss sie anscheinend.
    Einmal erzählte sie mir, was sie so an den Deutschen hasste. Immer fragten sie, wie sie nach Deutschland gekommen sei und das nervte sie gewaltig. Ich hatte sie nie danach gefragt. Deshalb erzählte sie mir einfach, was sie diesen Leuten antwortete. Weißt Du, sagte sie, dann hab ich geantwortet, ich komme aus Afrika, wir sind alle schwarz, wir haben nichts zu essen, keine Wohnung, alles ist schlecht. dann haben Menschen erzählt, in Deutschland ist alles frei und ich bin mit meinen beiden Beinen losgegangen. Afrika ist weit weg und der Weg war lang, aber irgendwann war ich hier und dann bin ich weiter rumgegangen und habe gesucht, wo was frei war, aber nichts war frei, alles hat was gekostet. Ich war immer noch arm, schwarz und hatte Hunger. Dann hat mich ein Deutscher mitgenommen, er sagte, er wäre noch frei und ich hab ihn geheiratet. Endlich ging es mir gut.
    Ich hatte nur zugehört und nichts dazu gesagt. Doch schließlich fragte ich sie, warum sie jetzt alleine hier wohnte. Es war eine altbekannte Geschichte. Er wollte nicht, dass sie Deutsch lernte, sie musste nur zu Hause bleiben und sie fühlte, auch das war nicht Freiheit und vor allem nicht umsonst. Also verließ sie ihn und ließ sich scheiden.
    Beachtlich für eine Frau, die nie in der Schule war, nicht lesen und schreiben konnte und trotzdem ihren Willen durchsetzte.
    Sie fehlt mir und trotzdem vermisse ich sie nicht. Ihr Weg ist noch nicht zu Ende, sie muss wohl weiter danach suchen, wo etwas frei ist. Sie wird es nicht finden, dass weiß ich, Afrika ist überall.