Paradies in Flammen – Charlotte Sandmann

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  • Zu mir hat man gesagt, das Buch erscheine am 1. September. Da Amazon es anscheinend schon auf Lager hat, stelle ich meine Besprechung auch jetzt schon rein. Infos, die näher auf den Inhalt eingehen, verstecke ich, wie immer, mittels Spoiler-Funktion


    Charlotte Sandmann – Paradies in Flammen, Roman; München 2009, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24728-3, 347 Seiten, Format: 21 x 13,5 x 2,5 cm, EUR 13,90 [D], EUR 14,30 [A].


    Hamburg, 1883: Die 19-jährige Helena von Odenhof hat die Wahl: entweder die Heirat mit einem unbekannten jungen Mann auf Java – oder das Irrenhaus.


    Das Irrenhaus kennt sie schon, das ist keine Option für sie. Seit einem schrecklichen Ereignis in ihrer Kindheit ist Helena tief traumatisiert, kann nicht mehr sprechen, neigt zu unkontrollierbaren Wutanfällen und zu selbst verletzendem Verhalten. Ihr Aufenthalt in Professor Wiedemanns Institution hat Helena nur noch mehr verstört, denn man hat sie dort misshandelt und missbraucht.


    Kein Wunder, das sie die Ehe mit dem Unbekannten vorzieht. Obwohl sie sich noch wünschen wird, sich anders entschieden zu haben ...


    Dass diese gebildete junge Frau nun „zwischen Pest und Cholera“ wählen muss, hat sie ihrem windigen und skrupellosen Vater zu verdanken, dem Witwer Albert von Odenhof. Schwer zu sagen, in welchem Bereich er am spektakulärsten versagt hat: als Erfinder, als Kaufmann oder als Elternteil? Er hat nicht nur sein eigenes Vermögen durchgebracht, sondern auch die Mitgift seiner Töchter. Nun droht ihm Gefängnis und Helena und ihrer Adoptivschwester Mathilda, einer Halb-Sundanesin, die Albert einmal von einer seiner Reisen mitgebracht hat, Armut und Obdachlosigkeit.


    Die Heirat mit Jonah Aldermann ist für Helena also ein alternativloser Sachzwang. Und ehe die beiden Schwestern es sich versehen, sind sie mit ihren letzten noch verbliebenen Habseligkeiten an Bord der „Kohinoor“ und auf dem Weg nach Batavia.


    Helena findet schnell heraus, dass die Reise auf einem Passagierdampfer eine unendlich langweilige Angelegenheit ist. Also unterhält man sich eben mit dem Mitpassagieren. Oder, in ihrem Fall: lauscht deren Geschwätz. Eine redselige englische Pfarrersgattin und ein Diamantenhändler aus Amsterdam setzen sie, mehr oder minder absichtlich, über die Hintergründe ihrer Zwangsehe ins Bild:



    Kann es noch schlimmer kommen? Es kann! Als Helena in der Villa der Aldermanns ankommt, macht man ihr unmissverständlich klar, dass sie nur Mittel zum Zweck ist. Und dass man, sobald die diesen erfüllt hat, einen Weg finden wird, sie wieder loszuwerden. Flucht oder Widerstand sind zwecklos, die Macht der Aldermanns ist hier praktisch unbegrenzt. Dass auch der Bräutigam die arrangierte Ehe ablehnt, nutzt Helena wenig. Er ist eine ebenso bedeutungslose Schachfigur wie sie.



    Doch die Aldermanns haben ihre „Schachfiguren“ offenbar unterschätzt. Die schmieden nämlich einen Plan B. Womit allerdings niemand gerechnet hat: mit einer Naturkatastrophe apokalyptischen Ausmaßes, dem Ausbruch des Vulkans Krakatau. Auf einmal sind alle Pläne hinfällig. Jetzt geht es nur noch ums nackte Überleben ...


    Wow – was für eine Heldin! Helena von Odenhof ist ganz sicher nicht die klassische romantische „Jungfrau in Not“, sondern eine eigenwillige und spröde Person. Eine schwer traumatisierte junge Frau, der alles Sexuelle ein Graus ist und die sich aufgrund ihrer Sprachbehinderung nur schriftlich oder in Gebärdensprache verständigt. Aus nichtigem Anlass kann sie zur tobenden Bestie werden und zur Gefahr für sich und andere.


    Stumm mag sie sein. Dumm ist sie nicht. Und sie hat erstaunlich moderne Ansprüche ans Leben: „Freiheit“ will sie. „Und Respekt. Ich will mein Leben nicht als die Sklavin eines Mannes verbringen, weder eines guten noch eines schlechten Mannes. Ich will es selbst leben. Selbst bestimmen, was ich tue, wohin ich gehe, welche Aufgabe ich mir stelle.“ (Seite 315/316.) Bekommt sie die Chance dazu, nun, da ihr bisheriges Leben buchstäblich in Trümmern liegt? Und wird sie sie nutzen?


    Hier sind die Guten keine makellosen Engel, und selbst die übelsten Gestalten sind auf irgendeine Weise Opfer – was ihre Taten zwar nicht entschuldbar aber nachvollziehbar macht. Und wie im richtigen Leben kann man manche der Personen nicht eindeutig einem Lager zuschlagen. Der Diamantenhändler Ruben Kosminsky, zum Beispiel. Als Geschäftsmann und Frauenverführer ist er nicht gerade von übermäßigen Skrupeln geplagt. Er weiß genau, wo seine Vorteile liegen und versteht sie zu nutzen. Sind seine Methoden manchmal auch zweifelhaft, so gibt es für ihn doch Grenzen: Dinge die er nicht zu tun bereit ist. Die Odenhof-Schwestern tun ihm Leid. Und so versucht er den Spagat zwischen Beistand und Auftragserfüllung. Ein Mann der Grautöne, weder schwarz noch weiß.


    Selbst mit Helenas Vater, dem glücklosen Erfinder Albert von Odenhof, könnte man fast Mitleid bekommen, ist er doch nichts weiter als ein armseliges kleines Würstchen, unfähig, sein Leben in den Griff zu bekommen und zu feige, die Konsequenzen seines Tuns zu tragen. Sogar die Person, die von Anfang an im Hintergrund die Strippen zieht und dabei wirklich nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel ist, wird zum bemitleidenswerten Opfer, sobald man ihre Geschichte kennt.


    Für Helena von Odenhof wird die Insel Java zum Schicksal. Entfesselte Naturgewalten und finstere menschliche Abgründe verändern ihr Leben für immer. Vom ersten Augenblick an hofft und leidet man mit dieser außergewöhnlichen jungen Frau.


    Die Naturkatastrophe ist so packend und dramatisch geschildert, dass man beim Lesen meint, selbst den Geschmack von Schwefel und Bimsstein im Mund zu spüren. Die Autorin hat sich nach eigenem Bekunden bei der Schilderung des Vulkanausbruchs – mit ein paar dichterischen Freiheiten im Detail – eng an die tatsächlichen Ereignisse gehalten, wie sie von Augenzeugen berichtet und in zeitgenössischen Dokumenten festgehalten wurden.


    „Paradies in Flammen“ ist ein packender Gesellschaftsroman vor der faszinierenden Kulisse der Kolonialmacht Niederländisch-Indien auf Java. Mit einem kräftigen Schuss Abenteuer.


    Die Autorin
    Charlotte Sandmann, geboren 1950 in Wien, begann nach verschiedenen Studien- und Ausbildungsstationen zu schreiben. Sie ist in der Erwachsenenbildung tätig, Autorin, Ghostwriterin und Übersetzerin.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner