„Der Mann ohne Eigenschaften“ ist das Hauptwerk des österreichischen Schriftstellers Robert Musil und ein unvollendeter Roman, dessen von Musil zu Lebzeiten autorisierten Teile allein mehr als 1000 Druckseiten umfassen. Er ist von 1921 bis zu Musils Tod im Jahr 1942 entstanden.
Im Zentrum des Romans steht Ulrich, der von seinem Freund Walter relativ zu Anfang als „Mann ohne Eigenschaften“ bezeichnet wird, das ist jemand – um einen weiteren Begriff aus dem Buch heranzuziehen –, der Möglichkeitssinn hat, das heißt eine Fülle von Fähigkeiten, die er versucht in unterschiedlichster Weise einzusetzen (beim Militär, als Ingenieur, als Mathematiker). Alles gelingt ihm bis zu einem gewissen Grad, nichts erfüllt ihn, mit nichts stimmt er voll und ganz überein. Und das ist nicht zuletzt ein Zug der Zeit, in der alle möglichen auch gegensätzlichen Ansichten nebeneinander bestehen, keine einen Vorrang besitzt, keine über die andere den Sieg davonträgt. Und so beginnt alles langsam aber sicher zu verschwimmen, die Moral ist nichts mehr, das inhaltlich bestimmt werden könnte, sondern etwas, das Verhalten in einer Gesellschaft regelt, also eine rein funktionale Größe.
So lässt es sich auch nicht sagen, inwieweit Ulrich moralisch oder amoralisch handelt, wenn er sich etwa in die Verästelungen der Parallelaktion hineinziehen lässt, einer auf oberster staatlicher Ebene angesiedelten Festaktion zum 70jährigen Thronjubiläum des österreichischen Kaisers. In vielen Sitzungen und Gesprächen wird auf den über 1000 Seiten nach einer großen vaterländischen Idee gesucht, die als Klammer um alle Einzelbemühungen, die das Jubeldatum hervorbringt dienen könnte. Im Laufe der Handlung gerät das immer mehr aus dem Ruder und als sich die Waagschale zugunsten einer militärischen Aufrüstungsaktion zu senken scheint, wird eine Resolution verabschiedet (oder auch nicht, das hätte der Fortgang des Buches zeigen müssen), die das Töten, das nicht aus tiefer innerer Überzeugung geschieht, zum eigentlichen Straftatbestand des Mordes erklärt.
Daneben ist Ulrich auch in amouröser Sicht nicht eben moralisch einwandfrei – oder vielleicht eben doch? Er hat einige Geschichten am Laufen, die er aus mehr oder weniger nachvollziehbaren Gründen aufnimmt oder beendet, am Ende bahnt sich gar eine Liebesverstrickung mit der eigenen Schwester an, wenn ausdrücklich bis zum Ende des freigegebenen Teils auch nichts geschieht.
Auch die Interventionen Ulrichs bei seiner Schwester, die nach dem Tode des Vaters das Testament fälscht, um ihren ungeliebten Ehemann von seinem Erbteil auszuschließen, sind alles andere als eindeutig. Wenn er auch viel gegen ihr Vorhaben redet, so tut er doch nichts, um es zu stoppen.
Und das ist vielleicht eine Sache, die den Roman insgesamt durchzieht. Das Reden steht im Vordergrund, das Handeln wird zwar immer wieder mit Worten ausgerufen (etwa von Graf Leinsdorf in der Parallelaktion), aber es kommt nie dazu. Am sinnfälligsten wird diese Idee vielleicht an Ulrichs Freundin Clarisse, die mit dem Musiker Walter, einem alten Freund Ulrichs, verheiratet ist, von dem sie große Taten erwartet, die ihn in nietzscheanischer Manier (Clarisse führt Nietzsche beständig im Mund) über die Masse der Menschen hinausheben sollen. Doch Walter stagniert und möchte sich in einen einfachen Brotberuf schicken. Clarisse treibt diese Erkenntnis langsam aber beständig in den Wahnsinn. Sie sieht keinen Ausweg unter den Bedingungen der Welt, also schert sie aus ihnen aus. Doch auch dieser Strang wird nicht beendet.
Als Gegenfigur zu Ulrich fungiert nicht nur Walter, sondern auch Paul Arnheim, eine Art Medienintellektueller avant la lettre („Großschriftsteller“ sagt Musil), der zu allem etwas Kluges zu sagen hat und damit in einer immer weiter zerfasernden Welt enorme Erfolge feiert. Arnheim wird als Autor eingeführt, der zu allen Problemen der Zeit und in allen Wissenschaften Beachtliches, wenn auch nicht Herausragendes geleistet hat. Hauptberuflich ist er jedoch Rüstungsindustrieller, der sich dem Kreis um Graf Leinsdorf und den Parallelaktivisten nähert, um Zugriff auf die galizischen Ölfelder zu erlangen, dabei aber der unglücklich verheirateten Cousine Ulrichs Hermine „Ermelinda“ Tuzzi, genannt Diotima, verfällt, einer hochmoralischen Dame, die sich sowohl dem Gedanken an eine Scheidung, wie auch dem Gedanken an eine Affäre entzieht, was seinerseits wieder zu interessanten Gesprächen über Moral führt. Am Ende versucht Diotima ihr Problem zu rationalisieren, indem sie sich in das Studium der Sexualwissenschaften stürzt.
Ein gewaltiger Roman, ein Zeitpanorama, eine detaillierte Bestandsaufnahme nicht nur der österreichisch-ungarischen Gesellschaft kurz vor ihrem Zusammenbruch, sondern vor allem der klassischen Moderne und ihrer Unübersichtlichkeit, die gleichzeitig von dem Bestreben begleitet ist, alles zu erfassen und logisch aufzulösen. Die Unmöglichkeit dieser Bestrebung wird durch den Bibliotheksbesuch des Generals Stumm verdeutlicht, der nur eine Person findet, die den Überblick über die Wissensbestände der zeit behält: den Bibliotheksdiener, der sich um die Kataloge kümmert. Der Preis für den Überblick ist hoch. Der Bibliotheksdiener liest niemals ein Buch und beherrscht das Wissen nicht etwa inhaltlich, sondern nur strukturell.
Das ist mehr als das, was man am Ende von Musil behaupten kann. Ihm entgleitet sein Roman, verliert sich in endlosen Vorträgen und Gesprächen, die nicht selten eine etwas repetitive Note haben. Natürlich ist das im „Mann ohne Eigenschaften“ Programm, denn es geht ja gerade um die moderne unüberbrückbare Fülle von Gegensätzlichem. Und doch bricht der Roman an manchen Stellen einfach unter der Last der nirgends hinführenden Philosophie zusammen, immer wieder tauchen neue Ideen auf, die irgendwie aus den alten hervorgegangen sein mögen, so ganz letztgültig ist das wohl nicht zu klären.
Das macht aus dem Text immer weniger einen Roman als einen Essay mit verteilten Rollen. Mit einem zeitgenössischen „show, don’t tell“ kann man an diesen Roman wohl nicht herangehen, aber es wird schon ein bisschen viel referiert und ein bisschen wenig gezeigt. Ob Musil bei längerem Leben diese Problematik noch einmal in den Griff bekommen hätte – ich denke nicht, denn im Grunde ist der Roman von Anfang an so, dass sehr viel referiert und sehr wenig gehandelt wird. Und noch einmal fällt auf – es wiederholt sich auf der Erzählebene, was auf der Handlungsebene angelegt ist. Die Idee des Romans scheint also eine weniger statische Ausführung gar nicht zuzulassen. Und es ist und bleibt eine Leistung, dass man das Buch dennoch gut lesen kann, viel besser als vergleichbare Werke mit großem „W“, wie etwa den „Ulysses“. Der „Mann ohne Eigenschaften“ – und das ist ihm sehr positiv anzurechnen – hat nichts Esoterisches oder übermäßig Gelehrtes. Er liefert die nötigen Informationen zu seinem Verständnis, manchmal gar in mehrfacher Ausführung. Ein Buch, das, wenn man sich auf es einlässt, viel veranschaulichen kann, viel über das 20. Jahrhundert und seine ideologischen Grabenkämpfe, viel über das, was geistesgeschichtlich seit der Jahrhundertwende passiert ist.
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