Schreibwettbewerb August 2009 - Thema: "Schienen"

  • Thema August 2009:


    "Schienen"


    Vom 01. bis 20. August 2009 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb August 2009 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!

  • von Eulchen



    Endlich. Ich habe sie erreicht. Jetzt wird alles gut. Sie werden mich von hier wegführen. Weit weg von dem Ort, an dem es geschah. Ich will nicht mehr daran denken. Silber glänzend weisen sie mir den Weg in ein anderes, neues Leben. Der Stahl der Schienen reflektiert die Sonne. Ich schaue zu ihr hoch – und erinnere mich…


    Onkel kam uns besuchen – ein heiß ersehnter, und doch unerwarteter, Besuch. Damit man dies besser versteht, muss ich wohl noch einiges erklären. Unsere Viehfarm ist seit Jahrzehnten in Familienbesitz. Niemand verließ sie, außer vielleicht um eine Familie zu gründen. Doch sie kehrten immer mit ihren Ehefrauen und Ehemännern zurück. Jeder – außer einer: mein Onkel. Er verließ die Farm – und war damit für die Familie gestorben. Meiner Mutter und ihren anderen Geschwistern war es verboten, ihn überhaupt zu erwähnen. Das hinderte sie jedoch nicht, sich einmal im Monat in der Nacht hinauszuschleichen, leise zu den Schienen zu laufen, und sich dort mit ihren älteren Bruder zu treffen. Dieser versorgte sie mit Zeitschriften, Schokolade und dergleichen. Er bekam Schinken, Brot und allerlei Hausgemachtes.
    So ging das Jahr für Jahr. Als sie 20 Jahre alt wurde, bestand sie auf das Recht, hinauszuziehen und sich einen Ehemann zu suchen. Diese Erlaubnis bekam sie nach harten Kämpfen, befürchtete man doch, dass sie es ihrem Bruder gleichtun würde. Aber ihre Kindheit, die sie ruhig und vernünftig verbracht hatte, gab den Ausschlag: Sie durfte gehen.
    Nach einem Jahr hatte sie wirklich einen Mann gefunden und entschloss sich, ihrem Versprechen gemäß, zurückzukehren.
    Ein freudiges Ereignis für die Familie, hatte man trotz allem an ihrer Rückkehr gezweifelt. Nicht zu Unrecht – versuchte doch ihr Bruder sie, fast erfolgreich, zu überreden, bei ihm zu bleiben. Doch wie gesagt: Er war nur fast erfolgreich.
    Somit brach der Kontakt mit ihm ab.


    Trotz dieses Streites erzählte mir meine Mutter öfters von damals, von meinem Onkel. Doch sie bereute nie ihre Entscheidung.
    Ich schon.
    Oft träumte ich, dass er mich holen würde, und die Schienen wurden für mich ein Sinnbild für den Weg in die Freiheit.


    Und er kam wirklich. Das war gestern. Es war mein 17. Geburtstag. Er war genauso, wie ich es mir immer in meinen Träumen vorgestellt habe, er sah sogar genauso aus. Als er am Abend anfing, von seiner Heimreise zu reden, nahm ich wie selbstverständlich an, dass er mich mitnehmen würde. Also fragte ich, ob ich schon packen gehen sollte.
    Verdutzt schaute er mich ein paar Sekunden lang an – und begann schallend zu lachen.
    Meine Mutter hielt mir sofort einen Vortrag über Traditionen etc. Das Schlimmste aber war, dass mein Onkel sie tatkräftig unterstützte. Er hatte nie vorgehabt, mich von hier wegzuholen – und wird es auch in Zukunft nicht tun.


    Also schlich ich mich heute in der Früh hinaus. Ich werde es auch ohne ihn in die Welt schaffen. Die Schienen werden mich führen.

  • von Voltaire



    Gerade noch geschafft. Ich saß kaum, da ruckte der Zug auch schon an. Es war ein Zug nach Irgendwohin, ein Zug ohne genaues Ziel. Das Ziel war egal – nur weg. Nur weg!


    Gestern war meine Welt noch in Ordnung gewesen, naja, einigermaßen in Ordnung. Und nun war ich auf der Flucht. Der Film der letzten Nacht war in eine Endlosschleife geraten, immer wieder zogen die Bilder an meinen inneren Augen vorbei. Abläufe konnte nicht mehr geändert werden, das Geschehen hatte sich manifestiert.


    Montags werden die Mülltonnen geleert. Jeden Montag so gegen 6 Uhr in der Früh. Die Tonne stellte man schon am Abend zuvor an den Straßenrand um die Leerung nicht zu verpassen. Auch vor vier Wochen hatte ich also die Mülltonne an den Straßenrand gestellt, genauso wie in den unzähligen Wochen zu vor. Doch als ich am nächsten Morgen mit dem Auto vom Grundstück fuhr, da war die Mülltonne umgeworfen und der Müll großzügig über den Bürgersteig verteilt. Fluchend sammelte ich den Müll zusammen, der Wagen der Müllabfuhr bog schon in die Straße ein.


    In der Woche darauf. Wieder war die Mülltonne umgeworfen und wieder musste ich den stinkenden Müll einsammeln. Als sich dann aber auch in der dritten Woche das Spiel ein weiteres Mal wiederholte, da war es vorbei mit Selbstbeherrschung und notgedrungenem Verständnis für vermeintliche Dummenjungenstreiche.


    Ich würde diesem Treiben ein Ende bereiten.


    Wieder eine Woche später. Ich stellte die Mülltonne an den Straßenrand; es war schon ziemlich spät in der Nacht. Kaum hatte ich mich auf meinen Beobachtungs- und Lauschposten zurückgezogen hörte ich Schritte.
    Es schepperte als die Mülltonne umgeworfen wurde und die leeren Weinflaschen auf dem Pflaster des Gehweges zerschellten.


    Ich sprang aus meiner Deckung hervor, die Waffe im Anschlag. Manchmal ist es doch gut Dinge aufzubewahren, so wie diese Waffe aus der Erbmasse meines Vaters. Die Täter – zwei junge Männer – schauten mich voller Entsetzen an. Die auf sie gerichtete Waffe machte sie sprachlos. Wie ruhig würden sie erst werden, wenn die Waffe ihren Job gemacht hätte. Bei diesem Gedanken musste ich grinsen.


    „Einsammeln!“ Dieses eine Wort, gesprochen in der richtigen Tonlage, genügte, um die beiden Gestalten in Bewegung zu setzen. Sie kümmerten sich nicht um die Scherben, an denen sie sich übel schnitten, als sie den Müll zurück in die Tonne räumten.


    „Auf die Knie und Hände hinter den Kopf.“


    Wimmernd gehorchten sie diesem Befehl. Vielleicht ahnten sie was nun kommen würde, vielleicht ahnten sie, dass sie am Ende ihrer überflüssigen Lebensreise angekommen waren. Ihre Todesangst stieg mir in die Nase.
    Sie begannen zu stammeln, flehten um eine Fortsetzung der Sinnlosigkeit ihres Seins. Sie waren in die Sackgasse ihres Lebens eingebogen und es gab keine Wendemöglichkeit.


    Ich genoss ihre Verzweiflung. Ich genoss meine unbegrenzte Macht.


    Es war fast eins – die Waffe aufzusetzen und den Abzug zu drücken. Zwei kurze, trockene Explosionen und die Ordnung der Nacht war wieder hergestellt. Das Gefühl meinem Leben endlich einen Sinn gegeben zu haben war unbeschreiblich.


    In diesem Moment begann ich die Vokabel „Selbstzweifel“ aus meinem Wortschatz zu streichen.

  • von ueberbuecher



    Orientierungslos irre ich über die Schienen, die sich endlos bis zum Horizont erstrecken. Spärliche Vegetation säumt ihre Ränder, kleine zerzauste Büsche, windschief und verloren.
    Rings um mich herum nichts als Leere soweit das Auge reicht. Einer meiner Schnürsenkel verfängt sich in einem seltsamen Artefakt, welches inmitten der Schienen liegt und ich stolpere. Auf allen Vieren betrachte ich das unbekannte Etwas. Es hat Ähnlichkeit mit einem Bauteil, so würde ich meinen. Aber ein Bauteil wofür? Eine Maschine vielleicht? Nach eingehender Betrachtung werfe ich es achtlos zur Seite. Es scheint mir in keinster Weise dienlich zu sein.


    Meine Rückenschmerzen melden sich plötzlich wieder zu Wort, ohne Vorwarnung und gnadenlos. Ich halte ächzend inne. Wenn ich mich nicht bewege, ist es einigermaßen zu ertragen. Wie ich so dastehe und versuche, den Schmerz durch Ignoranz zu bewältigen, höre ich es wieder. Es ist wie ein Schnauben, ein Ausrufezeichen einer fernen Existenz und es kommt näher.


    Die Minuten verrinnen. Das Schnauben wiederholt sich nun in schnelleren Abständen, es wird zu einem Pfeifen, dann fällt es wieder in seine ursprüngliche Gestalt zurück. Als ich mich umdrehe, sehe ich einen dunklen Punkt am Horizont. Ich versuche meine Angst im Zaume zu halten und fixiere tapfer das größer werdende Etwas, welches sich mir unerbittlich nähert. Ich kann die Umrisse eines Zuges erkennen. Aber da ist etwas anders, als man es erwarten würde. Ich benötige einen Moment, um die Ungereimtheit zu identifizieren. Es hat etwas mit der Farbe an der Front zu tun. Mittlerweile ist die Maschine schon so nah, dass ich Einzelheiten erkennen kann. Ich betrachte grübelnd die nachtschwarze Front. Sie ist uneben. Sie scheint zu chargieren, zu pulsieren. Mit jedem weiteren Moment wächst in mir die panische Gewissheit, dass dies kein gewöhnlicher Zug ist.
    Die Oberfläche des Zuges …atmet! Heiße, schwärende Gase strecken ihre körperlosen Finger nach mir aus, wie Zügel die an den davonpreschenden Pferden haften. Ein Hitzeschwall streift mich und in meinem Mund sammelt sich eine Ahnung von Blei vermischt mit Muskat. Ich beginne zu würgen.


    Das Monster rast ungebremst auf mich zu. Ich kann sein Keuchen hören. Die Vorderfront der Lok zieht sich plötzlich zusammen und sieht aus wie zwei verkniffen aufeinandergepresste Lefzen. Wie das geifernde Maul eines ausgehungerten Tieres, denke ich, als ich plötzlich in die erwachenden glutroten Augen der Bestie starre, die nur vorgaben, ohne Leben zu sein.
    Gleich, gleich wird sie mich verschlingen. Sie rast näher und näher, ihr Schatten verdunkelt mein Sichtfeld….


    Das Maul der Bestie absorbiert mich. Mein letzter Gedanke vor der völligen Finsternis gilt dem achtlos weggeworfenen Artefakt.

  • von Ushuaia



    Ratterratterratter … Das Rattern des Zuges könnte sie in den Schlaf lullen. Tut es aber nicht. Hellwach liegt Lena auf dem Rücken im Liegewagen, lauscht dem Rattern, hört wie der Zug über die Weichen rumpelt. Jetzt legt er sich leicht in eine Kurve, Lichter ziehen hinter den halb geschlossenen Vorhängen vorbei, der Zug fährt langsamer als er durch einen geisterhaft leeren Bahnhof fährt. Müdigkeit droht Lena zu überwältigen. Es ist mitten in der Nacht, über und neben ihr die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Eltern und ihres Bruders auf den anderen Liegen. Sie hatten Glück und sind nur zu viert in dem Sechser-Liegewagen. Aber Lena hat beschlossen, nicht zu schlafen, sie will wach bleiben, will nichts verpassen, jede Minute dieser Fahrt auskosten, die nur alle paar Jahre stattfindet. Die Reise in die alte Heimat ihres Vaters. Spätabends in Zug einsteigen, losfahren, am nächsten Morgen hunderte Kilometer weiter nördlich umsteigen, eine Grenze überqueren. Die Grenze überqueren. Mittags ankommen. In eine andere Welt eintreten, die doch genauso aussieht wie ihre eigene, aber durch eine Grenze getrennt ist. Die Grenze, die Welten trennt, die die Familie auseinander gerissen hatte. Ein Zug rast an ihnen vorbei, in die Gegenrichtung, danach geht das gleichmäßige Geratter weiter, ratterratterratter, und das Geratter lässt Lena schließlich doch in den Schlaf sinken, ohne dass sie es merkt.


    Mit einem sanften Ruck hielt der Intercity an. Lena schreckte aus dem Schlaf hoch, links und rechts sah sie weite Felder, nervös blickte sie auf die Uhr. Einen Moment lang fürchtete sie, dass sie ihre Haltestelle verpasst hatte, aber nein, es war noch eine halbe Stunde bis zur Ankunft. Die Bilder ihres Traumes standen ihr immer noch vor den Augen, alte Erinnerungen ihrer Kindheit, der langen Zugfahrten, der Familienurlaube bei ihrer Oma im Osten. Drüben. In der Ostzone. Zweifel kamen ihr wieder auf. Welchen Sinn hatte es, die Reise jetzt noch einmal zu machen? Alle waren längst tot. Thomas, ihr Bruder hatte nur den Kopf geschüttelt, als sie ihm von ihrem Plan berichtet hatte. Lena zuckte mit den Schultern und strich in Gedanken über das alte Medaillon ihrer Oma, das sie an ihrer Kette trug. Sie wussten nicht einmal, ob die Gräber noch auf dem Friedhof waren. ‚Wahrscheinlich nicht’, hatte Thomas nur gemeint, ‚was also sollen die sentimentalen Anwandlungen?’ - ‚Manchmal muss man eben tun, was man tun muss’, hatte Lena schließlich schnippisch geantwortet.


    Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und plötzlich sah Lena zwei Störche über das abgeerntete Feld staksen, an dem sie gerade vorbeifuhren. Auch damals hatte es hier Störche gegeben. Längst vergessene Erinnerungen überkamen sie, wie sie mit ihrer Tante die Felder entlang gelaufen war, wie sie die Störche beobachtet hatten. Was war wohl aus dem Nachbarsmädchen geworden, mit dem sie gespielt hatte und das immer bei ihrer Oma gegessen hatte?


    Lena kramte ein Taschentuch aus ihrer Tasche, putzte sich die Nase und lächelte schließlich versonnen. Sollte ihr Bruder doch mit seiner Familie auf Mallorca in der Sonne schmoren. Ihre Reise dagegen führte durch Raum und Zeit.

  • von BunteWelt



    ,,Ich habe keinen Schimmer, was ich jetzt machen kann. Mutter, ich sehe sie, wenn sie händchenhaltend mit ihrem Freund, bestimmt bald Ehemann, die Straße entlangschlendert und wie sie schützend die Hand über ihren dicken Bauch hält. Gestern habe ich ihr noch die Windeln gewechselt und heute ist sie schon schwanger und fast verheiratet!”, erzählte ich meiner Mutter verzweifelt.
    Es ging um meine Tochter.
    ,,Du erträgst es nicht, dass sie älter wird und selbstständiger, alter Lokführer...”, sagte meine Mutter schmunzelnd.


    Ich fand das überhaupt nicht lustig.
    Außerdem war ich ein Zugfahrer gewesen, kein Lokführer.
    Jetzt war ich ja schon ein alter Rentner...


    Dann legte sie den Arm um mich und fing an mir leise etwas zu erzählen:
    ,,Sohnemann, ich verstehe dich. Als du erwachsen geworden warst, deine Frau kennengelernt hast und Maras Vater geworden bist, ging es mir auch oft schlecht. Ich hatte keine Mutter, keinen Vater, denen ich meine Sorgen hätte erzählen können. Dein Vater war auch schon lange tot...
    Was sollte ich also machen?
    Ich habe versucht, es mir bildlich vorzustellen - das hilft immer.
    Also, hör mir jetzt gut zu...”
    Sie atmete noch einmal tief ein und dann fing sie an zu reden:
    ,,DU hast deiner Tochter Mara seit sie geboren worden ist, den Weg gebaut. DU hast ihr die Schienen getragen und fest in den Boden verankert.
    Ihre Lebensschienen.
    Die Schienen ihres Lebens, die DU ihr mit ihrem Zug, ihrem Lebenszug, entlang gefahren ist.
    DU hast ihr Weichen gestellt, damit sie nicht vom rechten Weg abkommt.
    Und jetzt macht SIE die ganzen Dinge!
    Du kannst ihr keine Weichen mehr stellen, du kannst ihr nur beim Tragen der Schienen helfen.
    SIE fährt jetzt den Zug, du kannst neben ihr stehen, kannst ihr gut zureden, wenn sie sich zu weit aus dem Fenster lehnt, aber du kannst ihr nicht mehr das Leben organisieren.
    Sie ist jetzt für sich selbst verantwortlich.


    Hast du mich verstanden?”
    Ich nickte.
    Jetzt verstand ich wirklich auf einmal alles.
    ,,Aber ich muss jetzt los!”, sagte ich mit einem Lächeln auf den Lippen.
    ,,Warum?”, fragte meine Mutter.
    ,,Ich frage Mara, ob sie mir ein kleines Zimmerchen in ihrem Zug, ihrem Leben, besorgen kann, indem ich ab und zu bei ihr sein kann und sie, ihren Freund und ihr Kind dann öfters besuchen kann und ein guter Vater und ein guter Opa werden kann!”

  • von churchill



    "An Gleis vier bitte einsteigen. Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt des Zuges!"


    Vorsicht nur für die, die nicht eingestiegen sind.. Drinnen wird nichts passieren. Da ist alles sicher. Da geht alles seinen Gang. Unsinn. Da fährt alles seine Fahrt.


    War es Gleis vier? Oder sieben? Egal, ich wurde in den Zug gesetzt, ohne gefragt worden zu sein. Zunächst in den gemütlichen Regionalexpress, den mit den vielen Stationen. Kaff an Kaff am Beginn der Lebensreise. Krabbelgruppe. Kindergarten. Nächster Halt: Grundschule. Zur weiteren Schulbildung bitte umsteigen. Die Weiterfahrt ist garantiert, leichte Verspätungen sind möglich.


    Ich habe nicht protestiert. Wo auch? Bin immer wieder eingestiegen. Und weiter gefahren. Die Strecke war stets sicher. Auch nach dem Umsteigen in den ICE. Das Tempo beeindruckend. Die Stationen nun weiter auseinander. Nächster Halt: Diplom. Nächster Halt: Ehe. Nächster Halt: Kinder. Nächster Halt: Vorstand.


    Wenn da Weichen waren, waren diese Weichen vorbildlich unauffällig. Richtungsänderungen ohne Ruckeln und Rumpeln. Alles in einem atemberaubenden Tempo. Ein Blick aus dem Fenster: Landschaften, Urlaube, Wohnungen, Gesichter über Gesichter ziehen vorbei und ich an ihnen. Eine Ungewissheit bleibt. Niemand sagt mir, wann sie zu Ende ist. Meine Reise. Die gemütlichen Abteile liegen längst hinter mir. In diesem Großraumwagen schauen alle in die gleiche Richtung. So viele Reisende. So allein.


    Die Räder drehen und drehen und drehen sich. Nie drehen sie durch. Ich stehe auf, obwohl das hier nicht vorgesehen ist. Alles Reisenotwendige wird schließlich am Platz serviert. Suche die Notbremse. Finde sie nicht. Strebe zum Ausgang, der selbstverständlich verriegelt ist. Wo kämen wir denn hin ...


    Ich setze mich wieder. Starre aus dem Fenster. Will raus. Gehen. Langsam. Allein. Meinen Weg über Stock und Stein. Meinen eigenen Weg. Mein Tempo. Stehenbleiben, wann ich es brauche. Losrennen, wenn niemand damit rechnet. Ich will raus.


    "Nächster Halt: Friedhof. Der Zug endet hier. Die Lebensbahn verabschiedet sich von Ihnen und würde sich freuen, sie in einem neuen Leben wieder an Bord begrüßen zu dürfen."


    Nicht mit mir.

  • von Quetzalcoatlus



    Durch die Glasfassade warf Tsavo einen Blick zurück auf den Bahnhofsvorplatz.
    Nach einer sekundenlangen Betrachtung der wimmelnden Menschenmassen schloss er die Augen. Die vielen Schicksale waren zu verstörend, um sich ihnen für längere Zeit auszusetzen.
    Das war nicht immer so gewesen. Früher hatten die Menschen unkomplizierte Leben geführt. Damals waren nicht unglaublich viele widersprüchliche Empfindungen auf ihn eingeströmt, sobald er die Wesen in seiner Umgebung ansah. Heute musste Tsavo regelmäßig eine Pause von der Welt einlegen, um nicht wahnsinnig zu werden.
    Ruckartig drehte er sich um. Erst dann öffnete er seine Augen und begab sich gemessenen Schrittes zu Bahnsteig Nummer vier.


    „Wann trifft dieser verdammte Zug endlich ein?“, zürnte ein gereizter Mann mit Aktentasche und klopfte auf seine Armbanduhr.
    „In acht Minuten“, erwiderte Tsavo ohne ihn anzusehen. „Der Zug wird acht Minuten Verspätung haben.“
    „Wirklich?“ Der ungeduldige Herr schaute ihn erstaunt von der Seite an. „Die Durchsage muss ich wohl verpasst haben.“


    Auch als er in seinem Abteil saß, vermied Tsavo es, seine Mitreisenden anzusehen. Er lenkte seinen Blick auf eine Fliege, die auf der Sitzlehne krabbelte. Fliegenschicksale waren sehr unkompliziert, und folglich auch leicht beeinflussbar.
    „Und wohin reisen Sie heute?“ Die junge Frau auf der anderen Seite des Abteils verfügte offenbar über ein sehr kontaktfreudiges Temperament.
    Widerwillig wandte Tsavo sein Gesicht nach ihr um. Bevor er antworten konnte, zuckte er bei ihrem Anblick zusammen. Eine leichte Blässe kroch über seine Haut.
    „Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sich die Dame mit besorgter Miene.
    „Ja.“ Seine Stimme klang ein wenig schal. Er räusperte sich. „Nur eine Station“, brachte er hervor. „Ich werde nur eine Station mitfahren.“


    Bereits fünf Minuten vor der Einfahrt in den nächsten Bahnhof stand Tsavo an der Tür. Schließlich öffnete sie sich mit einem leisen Zischen. Er stieg als Erster von wenigen Fahrgästen aus, wobei er sich innerlich beglückwünschte, nicht in den Lauf des Schicksals eingegriffen zu haben. So verlockend dies auch in der flüchtigen Süße des Augenblicks erscheinen konnte, auf Dauer würde es nur zu Komplikationen führen. Und Tsavo verabscheute Komplikationen.
    Menschen waren eben keine Fliegen. Das musste man akzeptieren. Wenn man sich nicht zu viele Gedanken machte, gab es manchmal Momente, in denen das Leben beinahe erträglich sein konnte.
    Tsavo betrat den Bahnsteig und begab sich zu dem Automaten, wo man gesalzene Brezel kaufen konnte.

  • von Voland



    Zum ersten mal erwachte er aus einem seiner unzähligen Wachträume und fand sich auf dem Rücken liegend zwischen kalten Stahl gespannt, den Kopf starr zum Mond gewandt; umhüllt von etwas Schaurigem, das sich wie schwarze Tinte über ihn ergoss: Finsternis.


    Mit ihr kehrte auch die Erinnerung zurück. An die Schnüre, die ihn an die Schienen banden, Arme und Beine wie ein Stern gespreizt. Vor allem jedoch an jene so fernen Tage, an denen sie im Sommer, in den Nachmittagen nach der Schule, zu Orten wie diesem geeilt waren. Entlang den Schienen verstreut lagen meist rostbraunfarbene, eckige Steine, welche sie sammelten und auf den Gleisen auftürmten. Oder sich in den Gebüschen versteckten und jede Straßenbahn damit bewarfen, die sich auf ihre Strecke wagte. Sie rannten viel in jener Zeit.


    Sofern sie nicht auf der Flucht waren, streunten sie ziellos umher. Immer eine Kippe in der Hand, Bier wurde großzügig herumgereicht. Küsse und mehr versüßten manche Abende. Nie sah man sie um einen Streich verlegen. Züge folgten auf Straßenbahnen. Bald genügte auch das nicht mehr.


    Nun lag er hier, kein Kind mehr, zitternd. Namen geisterten durch seine Gedanken. Vieles erinnerte an frühere Mutproben.


    Alles Schwelgen in Vergangenem verflüchtigte sich bei dem metallischen Schrei, der die Stille zerriss. Ein kurzer Blick genügte ihm, um alles zu erfassen. Schon summten die Schienen, schon erzitterte Gestein. Auf sein flüchtiges Erstarren folgte ein entsetztes Reißen und Rütteln. Aber es währte nur Sekunden. Die Schnüre hielten stand. Sie vollstreckten einen Schwur, den andere einst schlossen. Trotz allem gaben sie ihm genug Spielraum, den Oberkörper ein Stück aufzurichten. So hatte er es gewollt.


    Seine Fingerspitzen berührten den blanken Stahl, spürten eine Art Puls. Flach müsste er sich auf den Boden drücken, den Kopf zur Seite neigen. So genau hatte er darüber zuvor nicht nachgedacht. Ausatmen und harren, unter den Schienen selbst verschwinden. Es könnte gelingen.


    Aber dann wiederum: warum sollte er? Entgegen allem Flehen und Drängen hatte er so entschieden; mit „Ich will nicht mehr“ seinen Freund aus Kindheitstagen zum Schweigen gebracht, und anschließend zum Komplizen gemacht. Freunde können verzeihen, hoffte er. All das kalte Gestein und Metall beruhigten ihn. Letzte Zweifel waren überwunden. Stück für Stück machte er nun Konturen der Schienen aus, folgte mit den Augen tastend ihrem Verlauf. Wegweisend, fürwahr.


    Sein Entschluss war mit den Jahren gereift. Nun also galt es. Er setzte sich auf, so weit es ging, zwang sich und erstarrte von Neuem. Den Mond hatte das rollende Ungetüm schon vom Himmel gewischt. Sein Leben würde folgen. „Luna“, rief er feierlich. So grüßte und taufte er den herandonnernden Zug.


    Seine letzten Gedanken kreisten nicht um Vergangenes, auch nicht um weiße Wattewölkchen, Regenbögen und Morgentau. Sie waren klarer, reiner. Unter anderen Umständen hätte er über sich selbst gelacht. Früher ganz gewiss.


    Finsternis, ich erwarte dich, umarme dich. Ich folge dir.

  • von Bildersturm



    Hier draußen war nichts. Gar nichts. Einöde. Eine Blumenwiese, dahinter Laubwald. Mertens seufzte entnervt, als er von der letzten Stufe des Waggons ins Gras sprang. Er schaute sich nach seinen Mitreisenden um, aber die meisten waren teilnahmslos sitzen geblieben, als der Zug auf freier Strecke langsam zum Halten gekommen war. Nach ihm kletterte lediglich eine ältere Dame mit weißem Hut aus dem Wagen. Sie zwinkerte ihm zu.


    Auf der Wiese stand schon ein Mann im Anzug und sah unschlüssig aus. Neben ihm hockte ein junges Mädchen in einer abgewetzten Jeansjacke im Gras. Sie zündete sich eine Zigarette an und musterte Mertens kurz, bevor sie den Rauch ausatmete und lässig den Kopf in den Nacken legte.


    „Wann geht’s weiter?“
    Das kam von der älteren Dame, und Mertens hatte schon eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge, als er erkannte, dass die Frage nicht ihm gegolten hatte. Der Lokführer war ausgestiegen und kam zu ihnen herüber.
    „Ja, wann geht’s weiter?“
    Mertens hielt den Mann im Anzug für einen ausgemachten Idioten, ließ sich aber nichts anmerken.
    „Ich weiß es nicht,“ sagte der Lokführer. Er machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung der Lok. „Schauen Sie sich’s an!“
    Sie folgten ihm.


    „Und?“
    Mertens blickte verständnislos auf die Weiche. Vor ihnen teilte sich der Schienenstrang, und die beiden neuen Strecken bogen in einem eleganten Schwung nach rechts und links, wo sich ihr weiterer Verlauf in der Ferne verlor.
    „Hier dürfte keine Weiche sein.“
    „Spielt das eine Rolle?“
    „Verstehen Sie nicht?“ Der Lokführer klang verzweifelt. „Es gibt hier keine Abzweigung. Hat es auch nie gegeben. Immer geradeaus. Immer geradeaus.“ Seine Augen flackerten.
    Mertens befürchtete, dass der Mann den Verstand verloren hatte. Er versuchte, die Situation aufzulockern.
    „Werfen Sie ’ne Münze.“
    Niemand lachte.
    Der Mann im Anzug ließ sein Handy sinken. „Kein Empfang,“ erklärte er auf Mertens’ fragenden Blick. Das Mädchen schnippte den Zigarettenstummel auf die Schienen. „Mist!“
    „Lassen Sie sich was einfallen,“ sagte Mertens zum Lokführer. „Egal, welche Richtung.“
    „Ich fahr’ links,“ entgegnete der Lokführer und ging zum Führerstand zurück. „Steigen Sie ein!“ Mertens drehte sich um. Der Mann im Anzug, das Mädchen und die ältere Dame standen nicht mehr hinter ihm. Er sah sie weiter hinten langsam auf den Wald zulaufen.
    „Hey!“
    Keine Reaktion. Er machte ein paar Schritte in ihre Richtung. Hinter ihm ertönte metallisches Quietschen, als sich die Waggons wieder in Bewegung setzten. Mertens fuhr herum.
    „Warten Sie!“
    Er rannte los, aber er war zu langsam. Der Zug gewann an Fahrt und verschwand alsbald um die linke Biegung. Mertens blieb entgeistert stehen.


    Fast eine Stunde wartete Mertens in der unnatürlichen Stille der Blumenwiese. Dann warf er seine Jacke über die Schulter und lief in den Wald hinein. Immer tiefer.


    Als die Rettungskräfte am Regionalexpress 5241 eintrafen, der in einen umgestürzten Baum gerast war, kam für vier Menschen im ersten Waggon jede Hilfe zu spät. Der schwerverletzte Lokführer überlebte wie durch ein Wunder. Als er aus dem Koma erwachte, weinte er wie ein kleines Kind. „Links war richtig,“ schluchzte er. „Links war richtig.“