Ochsenkutscher - Erwin Strittmatter

  • erstmals erschienen 1950



    ‚Ochsenkutscher’ ist der verächtliche Ausdruck für denjenigen, der die von allen LandarbeiterInnen als niedrigste angesehene Tätigkeit ausführt, hinter einem Ochsengespann hertrottend den Acker zu pflügen. Wer vom Gutsherrn dafür eingesetzt wird, ist von allen Niedrigen am Tiefsten gefallen. Auch Lope Kleinermann, die Hauptperson des gleichnamigen Romans wird sie eines Tages ausführen.
    Doch noch dauert es seine gute Weile bis dahin. Die Geschichte wird nämlich von Erwin Strittmatter erzählt, und er ist einer, der sich Zeit läßt für seine Geschichten, viel Zeit.


    Zu Beginn des Romans treffen wir Lope, Gottlob, als Siebenjährigen. Er ist der Sohn von Mathilde, Tagelöhnerin in einem kleinen Dorf in der Niederlausitz. Gearbeitet wird auf dem herrschaftlichen Gut, alle sind abhängig vom gnädigen Herrn, dem Gutsbesitzer. Lope, der älteste von drei Geschwistern, muß mit seinen sieben Jahren schon auf die Schwestern aufpassen bis hin zum verhaßten Windeln kochen, die Mutter arbeitet ja den ganzen Tag. Der Herr im Haus, besser der Kate Kleinermann, ist Liepe, Gottlieb, Besenbinder, vom Leben gebeutelt und enttäuscht zum Säufer geworden. Für die Kinder ist es jedesmal ein herrliches Fest, wenn Liepe berauscht seine Auftritte hat. Die gelegentlichen Püffe und Prügel nehmen sie hin, geschlagen wird schließlich überall, in der Schule, beim Konfirmandenunterricht oder wenn man dem Gutsinspektor in die Quere kommt. Schläge gehören zum Leben und je früher man das lernt, desto besser, war eine Erkenntnis, die als nützliche Lebensregel galt. Die Erwachsenen sind untereinander in dieser Beziehung auch nicht faul.


    Lope ist ein eher nachdenklicher Junge, ausgestattet mit viel Phantasie und zugleich Neugier auf die Menschen um ihn herum. Das tägliche Leben sieht man in weiten Teilen des Romans aus seinen Augen, die FeldarbeiterInnen, die Kutscher und Knechte, den Gutsverwalter und den Inspektor. Die tatkräftige und durchsetzungsfähige Mutter Mathilde, die Stärke in Person. Die Geschwister, die Schulfreunde, den Lehrer, für den Lope viel zu oft der Sündenbock ist. Die Herrschaften, die Gnädige, das Fräulein, die Herren Söhne und natürlich den gnädigen Herrn. Die Dienstboten im Gutshaus, die ‚etwas Besseres’ sind, beim genaueren Hinsehen aber im gleichen fatalen Abhängigkeitsverhältnis zu den Herrschaften stehen wie die TagelöhnerInnen auch. Dann gibt es noch die DorfbewohnerInnen, Bäcker und KrämerInnen, den Wirt, den Pfarrer und die Frau Pfarrerin. Die Verhältnisse untereinander sind durch feinste Abstufungen ihrer sozialen Bedeutung in der Dorfhierarchie bestimmt, jede und jeder ist bemüht, den eigenen Platz zu wahren und zugleich scharf darauf zu achten, daß niemand sich mehr anmaßt, als ihnen zusteht.


    Nur wenige wagen es, Grenzen zu überschreiten. Eine von ihnen ist Lopes Mutter Mathilde, die sich allein auf ihre beachtliche Willenstärke bauend, ihren eigene Platz in der Welt schafft. Ein anderer der Kutscher Blemska, der als Wundertier bestaunte Kommunist, der selbst dem Gutsherrn gelegentlich die Meinung sagt. Der dritte ist der Schäfer Malten, ein Original, der sich sein eigenes Königreich geschaffen hat, nach eigenen Gesetzen lebt und die Welt Welt sein lassen will, die Verkörperung eines rein individuellen Anarchismus. Der vierte schließlich ist der Gutssekretär Ferdinand, ein Schöngeist und Schwärmer, der in die ideale Welt reiner Ästhetik flüchtet, wie Liepe Kleinermann in seinen Kartoffelschnaps.


    Ihr Treiben beobachtet Liepe, lange ohne es zu verstehen. Leserinnen und Leser sind ihm stets ein wenig voraus und staunen zugleich ebenso wie der Junge über die seltsamen Schrecken im Verhalten von Menschen. Vor allem aber staunt man über die Verhältnisse, die Abhängigkeiten, die Kleinlichkeit, die Armut. Oft sind nicht einmal drei Pfennige für ein Briefchen Nähnadeln übrig und doch muß das Hemd geflickt werden, man besitzt ja nur das eine. Jeder hat Schulden bei jedem, wer an Lebensmittel herankommt, hält sich zusätzlich mit kleinen Diebereien und Schiebereien über wasser, hier verschwindet mal ein Sack Hafer, dort ein Korb Holz. Trotzdem lebt man stets an der Grenze zum Hunger.
    Abhilfe bietet eine Arbeit im nahegelegenen Kohlebau, eine Arbeit, die aufrechte Gutsarbeiter ebenso verachten, wie das Pflügen mit den Ochsen, zu der aber so manche Romanfigur doch gezwungen wird. Als ‚Ochsenkutscher’, also im Trott eines Gespanns gehend, fristen sie letztlich alle ihr Leben. Das Gespann sind einfach nur die Verhältnisse.


    Es treten sehr viele Personen auf, Strittmatter gibt zunächst jeweils eine knappe Skizze, die in der Regel karikaturenhaft überzeichnet ist. Im Lauf der Handlung runden sich die Figuren, bis dann tatsächlich eine lebensechte Gestalt vor einer steht. Die Karikatur ist aber nie vergessen, die Lächerlichkeit bis zur Absurdität im menschlichen Verhalten ist immer gegenwärtig.


    Erzählt werden ein gutes halbes Dutzend Einzelschicksale, die sich im Lauf der Geschichte zu einem großen Ganzen verstricken. Was geschieht, ist entsetzlich traurig, hochdramatisch oder rasend komisch, nicht selten alles auf einmal. Ekel und Mitgefühl empfindet man oft gleichzeitig, oder Ablehnung bei gleichzeitigem Verständnis. Die Handlung spielt etwa zwischen 1920 bis 1933, die Umbrüche jener Jahre spiegeln sich auch im Mikrokosmos des Dorfes. Die Folgen der Weltkriegs, vor allem die psychischen, sind gegenwärtig und entfalten böse Wirkung. Wo am Anfang noch Sozialdemokraten, ein Kommunist, ein Anarchist, konservativ-Kleinbürgerliche und an den Verhältnissen Desinteressierte miteinander lebten, wenn auch mehr schlecht als recht, herrschen am Ende Nazis. Sie kreieren sogar eine Judenfrage in einem Dorf, das so etwas wie Juden bis dahin gar nicht kannte.


    Bis es aber so weit ist, folgen wir Lope in die Schule, wo er auf die Läusebank verbannt wird, obwohl er gar keine Läuse hat, zu den Märchenstunden beim Gutssekretär, zum heimliche Kartenspiel auf der Konfirmandenbank oben bei der Orgel. Wir teilen seine Sucht nach Büchern und seine erste Liebe zur Nachbarstochter, aber auch seine Ängste, Albträume und Erschütterungen, seine Tage hinter dem Ochsengespann und in der dunklen Kohlenmine. Wie Lope fragt man sich beim Lesen, warum es ungerecht zugeht. Strittmatter zeigt die Gründe, fertige Antworten gibt er jedoch nicht. Höchstens ein wenig Hoffnung, obwohl sie fast alle scheitern in dieser Geschichte, Mathilde und Malten, Ferdinand und Liepe. Ihr Scheitern ist schrecklich, die Verhältnisse holen sie ein, mit furchtbarer Konsequenz.


    ‚Ochsenkutscher’ ist Strittmatters erste Roman. Von Anfang an entwickelt er seinen eigenen Stil. Er schwelgt in Adjektiven und üppigen Beschreibungen, Mathilde ist ‚bienig fleißig’, ‚Orgeltöne schäumen ins Kirchenschiff wie lange gestautes Wasser’. Überwältigend schön sind die langen Beschreibungen der sich verändernden Natur im Lauf der Jahreszeiten. Die Farbenvielfalt und die Erscheinungsformen von Pflanzen und Tieren in Wälder, Wiesen, Feldern, in Gärten und auf Wegen nehmen breiten Raum ein. Man hat den Eindruck, daß hier einer nicht nur schreibt, sondern regelrecht malt, aus reiner Lust.
    In den Dialogen wie auch in den Beschreibungen seiner Personen ist Strittmatter nicht zimperlich, wenn einer ‚gebildet’ spricht, macht er sich nur lächerlich unter den kleinen Leuten oder aber er herrscht über sie und bedient sich der feinen Sprache als Machtinstrument und bedrohliche Waffe.
    Wenn wir nicht durch Lopes Augen sehen und uns mit seinem Verstand bemühen, die Zusammenhänge zu durchdringen, klärt uns der Erzähler auf. Die beiden Perspektiven sind nicht immer voneinander zu trennen, Strittmatter kommentiert nicht selten, und das in einem oft ätzenden Ton. Auch hierbei ist er nicht zimperlich.


    Am Ende zieht Lope, jetzt etwa 19 Jahre alt, fort. Im Dorf hält ihn nichts mehr. Er folgt Blemska, der auch alles verloren hat.
    Den Schluß bildet ein kurzer Dialog zwischen Lope und Blemska:


    „Tausend Jahre... und es wird niemand mehr verstehen, daß wir so gelebt haben.“
    Blemska schüttelt den Kopf. „Keine hundert Jahre - hättest du sagen müssen.“


    Das ist die Hoffnung, die Autor den Leserinnen und Lesern mitgibt.
    Dennoch lautet der allerletzte Satz:
    Bei der Wegbiegung verschwinden sie im Waldschatten.


    Fort sind sie. Was wohl aus ihnen geworden ist?
    Antworten gibt wohl die deutsche Geschichte der letzten gut siebzig Jahre. Auf seine Weise ist ‚Ochsenkutscher’ ein seltsam vorausschauender Roman geworden, obwohl er doch nur über die Vergangenheit berichtet.



    edit: Korrektur im Schriftbild

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Ich bin ganz zufällig auf den Roman gestoßen, bis vor wenigen Wochen wußte ich nicht einmal von seiner Existenz. Was, wie ich jetzt weiß, eine echte Bildungslücke war.


    Ich besitze nicht die derzeit aktuelle TB-Ausgabe, sondern eine alte gebundene, die ich aus einer 1-Euro-Kiste gefischt habe.
    Sie stammt von 1963, hat noch ihren originalen spinatgrünen (das hätte nicht sein müssen) Schutzumschlag, nahezu unbeschädigt, mit einer Zeichnung von Lope, wie er, ein Buch ans Herz gedrückt, vor dem Gut steht und freundlich-verträumt-beunruhigt (Lope, wie er leibt und lebt) über die Schulter schaut, ob ihn auch ja keiner erwischt.


    Das Buch stammt aus der wirklich beispielhaften Reihe 'Die deutsche Volksbibliothek' des jungen Aufbau-Verlags, der Schutzumaschlag trägt auch den Reihentitel im weißen Band unten auf dem Umschlag, zusammen mit dem für die Reihe charakteristischen (und wichtigen!) Preisaufdruck: 2,85 (ergänze: Mark).


    Die Seiten sind nur am Rand vergilbt, was für eine erstaunlich gute Papierqualität spricht, das Buch ist sehr solide gemacht (für den Preis!) und liegt beim Lesen ausgezeichnet in der Hand. Sehr gutes Format zum gemütlichen Lesen.


    Ein rundum schönes Buch.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus