Hélène Grimaud - Lektionen des Lebens

  • Vorweg ein Wort zur Einsortierung:
    „Ein Reisetagebuch“, so steht es unter dem Titel. Eine Reise macht Hélène Grimaud ohne jeden Zweifel, aber wohin führt sie? Vordergründig nach Europa, aber es ist kein literarischer Reiseführer im herkömmlichen Sinne. Weil es eher eine Reise zurück zu sich selber, eine Reise ins Innere ihrer selbst ist, habe ich dieses Buch unter der Rubrik „Biografie – Autobiografie“ einsortiert.

    Was auf der Rückseite des Taschenbuches steht:
    Gefeiert in den Konzertsälen der Welt, Liebling der Medien: die französische Starpianistin Hélène Grimaud. Sie ist eigenwillig, unverwechselbar und unbeirrt, in ihrer Musik wie in ihrem Leben. Inspiration und Ruhe findet sie bei ihren Wölfen. Dennoch: Inmitten von Ruhm und Anerkennung spürt Hélène Grimaud zunehmend ein Gefühl der Leere, und sie nimmt sich eine Auszeit, um ihren Weg neu zu bestimmen. Sie fliegt nach Rom und beginnt eine Reise durch Europa, eine Reise zu sich selbst.
    Lektionen des Lebens ist der bewegende Bericht einer nachdenklichen Suche, die Reise der hochintelligenten und sensiblen Pianistin zu sich selbst: schonungslos ehrlich und brillant geschrieben.


    Über die Autorin verrät das Buch:
    Hélène Grimaud wurde 1970 in Aix-en-Provence geboren. Ihre musikalische Ausbildung erhielt sie in ihrer Heimatstadt, dann in Marseille und am Konservatorium in Paris bei Jacques Rouvier, Gyorgy Sandor und Leon Fleisher. Mit 15 Jahren spielte sie ihre erste CD ein. 1987 gelang ihr der Durchbruch beim MIDEM in Cannes und beim La Roque d'Anthéron Piano Festival, und seither nahm eine einzigartige Karriere ihren Lauf. Inzwischen tritt sie mit den renommiertesten Orchestern der Welt auf und arbeitet dabei mit Dirigenten wie Daniel Barenboim, Kurt Masur, Christoph Eschenbach, Christoph von Dohnanyi, Myung-Whun Chung und Esa-Pekka Salonen zusammen. 1997 gründete sie das „Wolf Conservation Center“ in South Salem/New York, ein Wolfsgehege mit Dokumentationszentrum. Sie lebt mit ihren Wölfen im Staat New York und in Berlin.


    Der Versuch, die wirbelnden Gedanken in Worte zu fassen:
    „Lektionen des Lebens“ kam als Geschenk zu mir. Wann sollte ich es nur lesen, und warum überhaupt? Hatte ich nicht erst vor kurzem in Gedanken ein Gespräch mit Hélène Grimaud geführt, hatte ich ihr nicht die anbetungswürdige Klarheit einer Clara Haskil, die Unerbittlichkeit eines Serkin, eines Brendel und die Unendlichkeit eines Solomon vorgehalten? Dann schlug ich es auf, nur einmal kurz reinschnuppern, traf auf ein Wort zu Bach, das mir die Kehle eng machte, eines zu Mozart, das meinen Widerspruch reizte und schon hatte sie mich an der Angel. Nicht später, nein, jetzt, sofort musste das Buch gelesen werden.


    Burn out, das wird es wohl gewesen sein, was Hélène Grimaud auf die Reise getrieben hat, auf eine Reise durch Europa, Assisi, Venedig, dann Como, zum Schluss nach Hamburg.


    In diesem Buch erzählt Hélène Grimaud von Begegnungen, mit Menschen, mit Landschaften, mit Bildern, hauptsächlich von Gesprächen, von Gedanken, von Fragen und Antworten. Natürlich sind gerade die Gespräche verdichtetes Erlebtes, ob sie im Detail so stattgefunden haben, ob Fragende und Antwortende so eindeutig auszumachen waren, ist eigentlich nicht so wichtig. Es sind sehr tiefgründige Gespräche, philosophisch anmutend oftmals, Sätze sind darin, die das Nachdenken lohnen. Es ist, so mein Eindruck, nicht unbedingt ein Buch zum schnellen Lesen, sondern eher eines, in dem man liest, nachdenkt, zurückblättert, neu liest, vielleicht Musik auflegt, vielleicht einen Spaziergang macht, um zu erfassen, was die Buchstaben und Augen zu vermitteln suchen zwischen der Autorin und der Leserin.


    Hélène Grimaud muss eine sehr belesene Frau sein, das wird mehr als deutlich und nicht nur an den Namen der Schriftsteller, deren Bücher sie mit auf die Reise nimmt. Knut Hamsun, auch Stig Dagerman, Rilke und Shakespeare und andere mehr. Sie ist eine außergewöhnliche Frau, als Pianistin und als Schriftstellerin gleichermaßen beeindruckend. Als hochintelligent wird sie beschrieben und das muss sie wohl auch sein, denn würde sie sonst so spielen und schreiben, wie sie das tut? Auch wenn ich ihr nicht auf jedem ihrer Wege zu folgen bereit bin, sei es nun, was „ihren“ Beethoven betrifft, sei es, was ihren schriftlichen Exkurs über Schumann, wie er in diesem Buch nachzulesen ist, angeht, zwingt sie mich doch in jedem Fall, meine Position nicht nur einzunehmen, sondern sie zu hinterfragen, sie zu überdenken.


    Es ist auch die Frage, ob man denn Musik erfahren könne, die Hélène Grimaud antreibt, die sie für sich zu beantworten versucht. Wie soll man diese Frage überhaupt verstehen, dass war mein erster Gedanke. Was ist denn überhaupt Musik, sind es all die Geräusche des Draußen, das Rauschen des Regens, das Singen des Windes in Bäumen, im Gras? Oder soll man als Musik nur das Komponierte, das Nachgespürte und Neuerschaffene der Komponisten bezeichnen? Und was bedeutet wohl „erfahren“? Ist es das Aufnehmen im Sinne von Lernen, gar von Verinnerlichen? Das „nur“ Hören scheint es mir nicht zu sein, denn das kommt ins Ohr, und oftmals geht es leider den gleichen Weg auch wieder hinaus, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ist dieses „Musik erfahren“ nicht zumindest hin und wieder auch das Durchdringen eines Musikstücks mit dem eigenen Leben, mit dem eigenen Erlebten, ja auch Erduldetem? Wenn mich als Laie diese Frage schon umtreibt, was mag sie erst in einer so nachdenklichen Musikerin auslösen?


    Glücklich der, der die Muße und auch den Mut hat, einen Schritt vor die Tür des täglichen Lebens zu wagen, eine Auszeit vom Verlangen der Gegenwart zu nehmen. Glücklich auch der, der weiß, dass dieser Schritt notwendig ist. Hélène Grimaud ahnt, dass sie aus ihrem Alltag zwischen Konzerten, Proben, der Arbeit um und mit den Wölfen ausbrechen muss, um wieder Kraft zu tanken, um wieder zu sich selber zu finden. Die Reise nach Europa wird auch zur Reise zu sich selbst, sie findet Gesprächspartner, von denen sie teilweise nicht einmal den Namen weiß, sie führt Gespräche, wie man sie manchmal wohl wirklich nur mit Menschen führen kann, die man nicht kennt und denen man auch nie wieder begegnen wird. Eines der bemerkenswertesten Gespräche, geführt mit einem jungen Mann von etwa zwanzig Jahren, findet am Comer See statt, es geht um die Liebe. „Wer liebt denn? Und selbst wenn jemand liebt, wo wird die Liebe denn belohnt?“ (Seite 139). Wie arm ist doch der Mensch, der die Stunde nicht zu benennen weiß, in der die Liebe zu ihm kommt; wie arm ist doch der, der nicht weiß, welchen Lohn die Liebe in sich trägt. Wie arm erst recht der, der nicht mehr lieben will. Aber fehlt nicht auch denen etwas, die nicht vermitteln können, wie reich ein Leben mit der Liebe ist? Hélène Grimaud muss dann wohl eine reiche Frau sein, denn sie liebt und nicht nur die Musik und die Wölfe, und sie kann ihre Liebe gut beschreiben, von ihr erzählen, in Klang und in Wort. Welche Anmaßung dann aber auch von mir, ihr Widerpart zu bieten, die Riege derer gegen sie ins Feld zu führen, die ich heiß liebe, nur weil ich vielleicht nicht imstande bin, sie zu verstehen, in ihrem Spiel ihre geäußerte Liebe zu erkennen.


    Es geht auf diesen gerade mal 222 Seiten nicht nur um diese beiden Facetten, ich habe sie mehr oder weniger willkürlich herausgegriffen, weil sie in meinem Leben eben auch eine sehr bedeutende Rolle spielen. Hélène Grimaud beschreibt auch, dass sie den Spaß an Büchern über ihrem "Leersein" verloren hat, wie sie diesen Spaß wiederfindet, ist für mich eine der anrührendsten Szenen des Buches gewesen.


    Wie seltsam ist es doch manchmal, ein Buch genau dann zu treffen, wenn man es braucht, dann, wenn seine Stimme am lautesten im Leser dröhnt, wenn die Risse im eigenen Selbst groß genug sind, um den gleichsam ins Innere tröpfelnden Gedanken eines anderen nachzugeben, um Mauern, um Herz und Hirn gezogen, einzureißen. „Lektionen des Lebens“ ist ein Buch, das ich stellenweise mit einem wie abgeschnürten Hals, aber mit zunehmend weitem Herzen gelesen habe, manchmal musste ich blinzeln, ein leiser Schleier hatte sich vor meine Augen gelegt. Ich bin mir bewusst, dass kein anderer Mensch dieses Buch so lesen wird wie ich, bin mir auch bewusst, dass niemand anderer das darin erkennen kann und wird, was ich darin gefunden habe. Klingt das pathetisch? Mag sein, mag auch sein, dass manch einer findet, Hélène Grimaud habe manch Pathetisches geschrieben. Für mich ist es ein berührendes Buch, es hat manches angestoßen in mir und es wird nachwirken. Mein Bravo kann ich hier nur in der Form von zehn Punkten ausrufen.


    Edit: Namen im Titel korrekt geschrieben, damit eine Zuordnung besser möglch ist.

  • Herzlichen Dank für diese sehr ausführliche und aussagekräftige Rezi. Das Buch wurde daraufhin sofort auf die Kaufliste gesetzt. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.