Marcus Ingendaay - Die Taxifahrerin

  • Titel: Die Taxifahrerin
    Autor: Marcus Ingendaay
    Verlag: Rowohlt
    Erschienen: 2003
    Seitenzahl: 224
    ISBN-10: 3498032186
    ISBN-13: 978-3498032180
    Preis: ab 5.00 EUR bei Amazon Marketplace


    Zum Inhalt:
    Der 24-jährigen Taxifahrerin Chris macht als funktionaler Analphabetin die geplante Umstellung des Funkverkehrs auf ein computergestütztes System zu schaffen. Vermutlich wird sie ihren Job und damit ihren einzigen Halt verlieren. Als sie zufällig die etwas ältere Boutiquenbesitzerin Gudrun kennenlernt, ist sie von der eleganten, sprunghaften Frau fasziniert und verliebt sich, fast wider Willen, in sie. Doch schon bald kommt Gudruns hochpsychotischer Charakter zum Vorschein. Sie befindet sich auf einem mörderischen Rachefeldzug und versucht, Chris in ihre bizarren Phantasiewelten einzuspinnen.


    Der Autor:
    Marcus Ingendaay wurde 1958 geboren, studierte Anglistik und Germanistik in Köln und Cambridge. Er arbeitet seit vielen Jahren als freier Übersetzer. So übersetzt er u.a. die Bücher von William Gaddis und David Foster Wallace.


    Meine Meinung:
    Das Buch von Marcus Ingendaay lässt sicher den einen oder anderen Leser ein klein wenig ratlos zurück. In dem Buch finden sich sehr gelungene Passagen, dagegen sind andere Passagen nicht so gut gelungen. Vielleicht hat Ingendaay sich aber auch ein wenig übernommen. Er erzählt die Geschichte aus der Sicht der Taxifahrerin Chris, auch wenn das Buch in der dritten Person Singular geschrieben wurde. An einigen Stellen wird sehr deutlich dass hier ein Mann versucht die Geschichte einer lesbischen Frau zu schreiben – ein Versuch der nur teilweise gelungen ist. Man hat nicht den Eindruck, dass Ingendaay sich wirklich intensiv mit der gleichgeschlechtlichen Liebe zwischen zwei Frauen auseinandergesetzt hat. Manchmal kann ja auch eine vernünftige Recherche wahre Wunder wirken. Stilistisch ist Ingendaay ein Wanderer zwischen den Welten. Mal trashed er ein bisschen in der Gegend herum, dann wieder merkt man seine Orientierung an prominenten Vorbildern wie David Foster Wallace. Dieses Buch wird sicher polarisieren aber es war ohne jeden Zweifel ein interessantes Leseerlebnis. Für mich ist Ingendaay ein talentierter Autor mit großem schriftstellerischen Potential. Nun ist es aber an ihm dieses Potential vernünftig zu nutzen. Er muss an sich arbeiten, nur auf diese Art und Weise kann er sich verbessern.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Sie kämpft tagein tagaus gegen die Kräfte des Bösen


    Chris packt ein: Elektro-Stunner, Gaspistole, CS-Spray, Rettungsschere, ihren Weltempfänger, Teleskop-Schlagstock, Taschenlampe, Springmesser und Mobiltelefon. Ist dieses Arsenal in den Taschen ihrer Lederjacke verstaut, kann ihre Schicht als Taxifahrerin beginnen. Chris ist 24, Analphabetin, lesbisch, gepierct, tätowiert und geritzt. Sie fühlt sich von Feinden umgeben, ausgelaugt vom Zoff mit ihrem Chef im "Kölschen Klüngel" und ausgeraubt von Yve, ihrer letzten Loverin. Das drängendste Problem ist ihre Situation als funktionale Analphabetin; denn man fragt andere Leute nun einmal nicht, ob sie einem eine SMS vorlesen können. Coyote, Chris Kollege, ahnt das kommende Unheil, denn der Chef will ein neues Navigationssystem anschaffen. Bisher hat Chris sich ihre Strecken gemerkt, Passagiere, die ihr Zettel vor die Nase hielten, vorsichtshalber abgewimmelt. Chris lebt in der Welt von Xena, der Serienheldin, und meint - wie Xena - ständig gegen die Kräfte des Bösen kämpfen zu müssen. Chris Xena-Fixiertheit zieht sich wie das Hintergrundgeräusch des Autoradios durch das gesamte Buch. Sie wirkt plausibel - wo sonst sollte sich jemand, der weder das Fernsehprogramm noch anderes lesen kann, über die reale Welt informieren? Eines Tages fährt die junge Taxifahrerin die Boutique-Besitzerin Beate und gewinnt sie bald darauf als Dauerkundin. Als Chris beschließt, sich in die geheimnsivolle Geschäftsfrau zu verlieben, ist das der Beginn einer zerstörerischen Frauen-Beziehung. Chris und Beate haben beide ein Problem mit Gewalt. Beate wirkt zusätzlich manisch gestört und scheint unter dem Einfluss von Psychopharmaka und anderen Drogen zu stehen.


    Dass ein männlicher Autor die Liebesbeziehung zweier Frauen beschreibt, scheint gewagt. Marcus Ingendaay hätte es besser gelassen. Chris ist eine faszinierende Persönlichkeit; ihre widersprüchliche Einstellung zum eigenen Analphabetismus und ihre Besessenheit, den eigenen Körper zu dekorieren, werden schlüssig beschrieben. Als Schwester im Geiste erscheint Lori, die lesbische Zweiradmechanikerin aus Lucy Bledsoes Roman "Freihändig", vor dem Auge der Leserin. Auch Lori ist Analphabetin und sieht ein, dass es sie ihre Stelle kosten wird, wenn sie das Problem nicht löst. "Die Taxifahrerin" ist eine in Stil und Inhalt fesselnde Lektüre, doch sie lässt im Gegensatz zu "Freihändig" den Leser ratlos zurück. Die groteske Ansammlung von lesbisch + gewalttätig + selbstzerstörerisch + Analphabetin + finanziell am Ende in der Person der Chris finde ich zu dick aufgetragen, Chris Gefühle für Beate wenig überzeugend geschildert, die erotischen Szenen klischeehaft.