OT: The Road of the Dead 2007
Der siebzehnjährige Cole und sein vierzehnjähriger Bruder Ruben müssen eine schlimme Erfahrung machen. Ihre Schwester Rachel wurde bei einem Wochenendaufenthalt in Dartmoor vergewaltigt und ermordet. Die Familie ist ohnehin in einer schwierigen Situation, weil der Vater wegen Totschlags im Gefängnis sitzt. Cole fühlt sich für die Familie verantwortlich. Als er hört, daß Rachel nicht beerdigt werden kann, ehe die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, und daß das unter Umständen noch viele Monate dauern kann, beschließt er, auf eigene Faust loszuziehen, um den Mörder seiner Schwester schnellstmöglich zu finden.
Ihre Mutter, die den beiden viel Freiraum läßt, schickt ihm Ruben nach. Ruben, obwohl jünger, ist der klügere und auch der vorsichtigere der beiden. Darüberhinaus hat er noch eine Eigenheit, er kann Dinge sehen und hören, die anderen verborgen bleiben. Cole ist über den brüderlichen Begleitschutz nicht erfreut. Ein wenig verzankt, ein wenig auf Abwehr kommen die beiden nach Dartmoor, in die Nähe von Lydford. In der zuständigen Polizeidienststelle werden sie zwar empfangen, erfahren aber nichts Neues. Mehr noch, der verantwortliche Kommissar schickt sie kurzerhand wieder nach London zurück. Cole ist aber fest entschlossen, seinen Plan durchzuführen, und so fahren sie über Land bis in das Dörfchen, wo Rachel auf dem Weg zur Bushaltestelle ermordet wurde.
Der etwas abweisende Kommissar ist kein Vergleich zum Verhalten einiger Dorfbewohner, sobald sie begriffen haben, wer Cole und Ruben sind. Auch Rachels Freundin und deren Mann bieten nicht den sicheren Hafen, den die beiden Jungen zunächst erhofft haben.
In einer Atmosphäre wachsender Gewaltbereitschaft setzen Cole und Ruben alles daran, hinter das Geheimnis zu kommen, das zum Tod ihrer Schwester führte. Bald quälen Ruben nicht nur Visionen ungeahnter Schrecken, er erfährt sie am eigenen Leib. Wenn Cole zur Jagd entschlossen ist, geht er den Weg unbeirrt bis zum Ende, gleich, was es kostet.
Dieser Thriller für Jugendliche ist spannend ausgedacht und aufgebaut, in verschiedener Hinsicht aber nicht gelungen. Zum einen verliert sich der Autor zu oft in Beschreibungen. Die Landschaft von Dartmoor, die er nach eigener Aussage bei einem Ferienaufenthalt kennengelernt hat, fasziniert ihn über die Maßen. Ihre Beschreibung ist wichtig für die Atmosphäre, aber er tut zuviel des Guten. Das erweist sich mehrfach als Bremsklotz für den Spannungsaufbau. Dasselbe passiert bei der Darstellung von Rubens besonderer Gabe. Seine Träume, seine Visionen, seine Ahnungen und vor allem die Diskussionen darüber nehmen viel zuviel Raum ein. Dagegen geht das eigentliche seelische Problem der beiden Jungen, nämlich den schrecklichen Tod ihrer Schwester zu erfassen, fast unter.
Ein zweites, aufs Ganze gesehen größeres Problem ist die Familienzusammensetzung. Der Vater der beiden ist ein ‚Fahrender’ ein ‚traveller’, wie es im englischen Text heißt, kurz: ein Zigeuner, ‚gipsy’. Hier begibt sich der Autor auf schwankenden Boden. Zu einem Zigeuner, so steht es geschrieben, gehört es nämlich, daß er sich prügelt. Sie haben es im Blut, heißt es wörtlich an einer Stelle. Abgesehen von rassistischen Implikationen, wird das zur Basis, um Coles erstaunliches Handeln zu erklären. Er benimmt sich nicht eben wie ein Siebzehnjähriger, sondern wie eine Mischung aus Racheengel - er wird verschiedentlich so bezeichnet, Engel des Satans, devil’s angel - und abgebrühtem Vertreter des Selbstjustizgedankens. Im Umgang mit denen, die hinter den dunklen Machenschaften des Dorfs stecken, zeigt er die Erfahrung und Menschenkenntnis eines psychologisch hochbegabten kriegführenden Offiziers mit deutlich pathologischen Zügen. Das läßt sich nur schlucken, wenn man beim Lesen auch nicht eine Sekunde innehält. Innehalten muß man aber gelegentlich, vor allem weil die Szenen von Gewalt in der zweiten Hälfte des Buch zunehmen und auch ihr Pegel steigt. Daß eine Familie von Zigeunern zu seiner Unterstützung bereitsteht, macht die Sache nur schlimmer.
Das größte Problem aber ist die eigenartig schillernde Haltung des Autors zur Frage der Gewaltausübung. Es gibt nur eine Grenze, man darf nicht töten. Sonst scheint alles erlaubt, weder Cole noch die Dörfler sind da zimperlich. Das ist doch eine etwas fragwürdige Aussage in einem Buch, gerade für ein jugendliches Publikum. Die Frage, ob bestimmte Verletzungen nicht z.B. schwerste körperliche Schäden auf Dauer zur Folge haben können, kommt nie aufs Tapet. Es wird geprügelt, getreten, mit Gewehrkolben geschlagen, mit Messern geschnitten und mit fliegenden Kugeln herumgekratzt, mit einer Leichtfertigkeit, die das Ganze aus jeder Realität katapultierte, würde der Autor es nicht zugleich so ernst nehmen.
Die kriminellen Machenschaften sind nicht schlecht ausgedacht, aber nicht überzeugend ausgeführt. Überhaupt mangelt es an der Zeichnung von Figuren und Charakter. es gibt viele Stereotypen. Coles Gegner ist ein ebenso übermenschlicher Bösewicht wie Cole ein übermenschlicher Rächer ist. Der zu erwartende Showdown versickert aber, weil der Autor sein Pulver an exzessiver Gewalt längst verschossen hat. Das Buch schließt ein wenig fade, der Fall ist gelöst.
Der schöne Titel, den man für den Roman hierzulande durchaus hätte übersetzen können, greift nicht recht. Auf dem Totenweg, eine Bezeichnung aus dem Mittelalter für einen Weg übers das Moor, auf dem die Verstorbenen zum weitentfernten Friedhof getragen werden mußten, wird keiner mehr getragen. Er dient nur dazu, eine vermeintlich gespenstische Atmosphäre vorzugaukeln, hält das Versprechen aber nicht ein.
Das fade Ende legitimiert unseligerweise auch Coles Vorgehensweise bedenkenloser Selbstjustiz. Daß das Ganze noch ein Nachspiel haben wird, z.B. wegen illegalen Waffenbesitzes, Einbruchs, Bedrohung, Folterung, Entführung, um nur die auffälligsten Vergehen zu nennen, hören wir nicht. Cole ist der klassische Rächer, schweigsam, befehlsgewohnt, hart, mit ausdrucklosen grauen Augen. Er hat immer recht.
Ein in vieler Hinsicht höchst diskussionsbedürftiges Buch mit einem Helden, den Jugendliche nicht brauchen.
Eigentlich braucht überhaupt niemand solche Helden.