Der Geier und das Mädchen. Geschichten von Kindern und seltsamen Tieren - Álvaro del Amo

  • OT: Niños y bestias 1992



    Ein Mädchen erzählt ihrem besten Freund von ihren Sorgen, bei den Bällen der Saison den richtigen jungen Mann auszuwählen. Ihr Freund hört nicht nur aufmerksam zu, sondern erteilt auch klugen Rat in einer so heiklen Liebesangelegenheit. Dieser gute Freund ist ein Aasgeier. Rufus und ein kleiner Junge müssen sich trennen, für immer, was beide tieftraurig macht. Rufus ist ein Drache. Anna verliert ihre Schwester Luisa, weil sich Luisa in eine Schleiereule verwandelt, während ein andere kleiner Junge sicher immer noch verzagt auf der frisch gebohnerten und daher gefährlich glatten Treppe sitzen würde, wenn nicht ein Nilpferd vorbeigekommen wäre, auf dessen Rücken er klettern und davonreiten konnte.
    Das sind nur vier von insgesamt acht eigenwillig phantastischen Geschichten des spanischen Autors und Regisseurs Álvaro de Amo (geb. 1942). Erzählt wird klar, direkt und ohne Verzierungen, vom ersten Satz an wird Normalität hergestellt, so, als wären sprechende verständnisvolle Geier, Nashörner im Treppenhaus oder eine Zauberer-Puppe, die einen Gorilla herbeizaubern kann etwas ganz Alltägliches, gar nicht zu reden von einem Jungen, der von Erdhörnchen-Nahrung versorgt wird.


    Diese scheinbare Normalität gibt einerseits gibt einerseits den unbefangene Blickwinkel von Kindern wieder, für die die Welt voller phantastischer Geschöpfe und Geschehnisse ist, eine Puppe ebenso lebendig wie ein Mensch und ein erfundenes Wesen durchaus real. Die Gespräche, die die Tiere und Kinder miteinander führen und das, was sie gemeinsam erleben, haben aber nichts Kindliches. Sie sind eine mitunter etwas befremdliche Mischung aus Alltagsweisheit und echten philosophischen Gedanken. Vor allem aber sind sie voller Überraschungen.


    Der Grundton der Geschichten ist traurig, denn das zugrundeliegende Thema ist Trennung und Verlust. Alle Geschichten kreisen um Veränderung, um das Verlassen einer Lebensphase, weil man in eine neue eintreten muß, sei es, weil man sich verliebt hat und die Kinderzeit endgültig zurückläßt, sei es, daß man verloren geht, krank wird, stirbt. Die Kinder wie die Tiere sind gleichermaßen liebes - wie schutzbedürftig. Eine Zeitlang haben sie sich eben das geben können, was sie brauchten, aber diese Zeit schient nun abgelaufen. Die Trennung ist unausweichlich.


    Die Poesie der Darstellung verbunden mit der ganz sachlichen Schilderung bewirkt zugleich, daß die Ereignisse in einem vagen Zustand zwischen Märchen, Symbolischem und Realität verbleiben. Es kann nicht wahr sein, daß sich die ältere Schwester in eine Schleiereule verwandelt hat, ganz bestimmt ist sie im Sanatorium, wie Mama sagt. Oder hat Anna doch recht? Natürlich kommt kein Nashorn, wenn man verzweifelt auf einer spiegelglatten Treppe festsitzt und keiner aus der Familie Zeit hat, einen dort herunterzuholen. Oder doch? Rufus ist bestimmt kein Drache und Erdhörnchen bringen auch keine Tabletts voller Heuschrecken und weißer Mäuse ans Bett. Obwohl ...


    Auch wenn sich so manches deuten und zuordnen läßt, bleibt den Geschichten ein Rest Rätselhaftigkeit, die zugleich von seltsam melancholischer Schönheit ist. Die kleinen schwarz-weiß Illustrationen, die jeweils den ersten Buchstaben eines Kapitels schmücken sowie die ganzseitigen farbigen Bilder von Fuencisla del Amo und Francisco Solé verstärken den ein wenig altmodischen und geheimnisvollen Ton des Ganzen.


    Ein eigenartiges Büchlein, mit eigenartigen Geschichten, die man nicht so schnell vergißt.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus