OT: De N.V. Dopiflex 1981
Diederika Fincke hat eigentlich genug mit sich selbst zu tun. Der Winter will einfach nicht weichen, ihre Knochen lassen keine Zweifel mehr daran, daß sie sechzig Jahre alt ist und zudem findet am heutigen Tag das Begräbnis ihrer besten Freundin statt. Daß sie auf dem Weg noch einen Kaffee und einen Cognac trinkt, ist nur verständlich. Im Café aber spricht sie ein Mann an, allem Anschein nach ein Säufer aus dem nahegelegenen Park. Er erzählt Merkwürdiges über einen christlichen Verein namens Das Morgengrauen, aber Rieka hat es eilig. Sie vertröstet ihn auf die kommende Woche. Er läßt sich vertrösten, gibt ihr aber, ehe sie geht, noch einen Umschlag mit Photos. Rieka steckt sie ein. Die Sache beschäftigt sie tatsächlich, wichtiger jedoch ist die Beerdigung ihrer Freundin.
Das nächste, was sie von Pudelmütze hört, ist, daß er tot im Straßengraben gefunden wurde. Als sie davon erfährt, ist sie allerdings schon mit einer anderen Sache beschäftigt. Mevrouw Fincke ist nämlich alles andere als die unauffällige Sechzigjährige, als die ihre Umgebung sie wahrnimmt. Sie ist im Gegenteil eine ehemalige Mitarbeiterin des Auslands-Geheimdienstes. Dieser hat sich bei ihr gemeldet, da sich in einer halb vergessenen Angelegenheit plötzlich Unstimmigkeiten zeigten. Diese Angelegenheit hat mit einem christliche Verein namens Das Morgengrauen zu tun und vor allem mit seinem Gründer, Gerlach. Er ist eigentlich ein unbescholtener Mann, mehr noch, er gilt als Widerstandskämpfer, da er in der Zeit der deutschen Besetzung der Niederlande jüdische Vermögen aus dem Land geschmuggelt hat und dafür von der Gestapo verhaftet worden war.
Diese Geschichte wird aber auf einmal in Zweifel gezogen. War Gerlach in Wahrheit ein Nazi-Spitzel? Und was steckt inzwischen noch hinter Morgengrauen?
Auf der Suche nach den wahren Zusammenhängen muß Rieka tief in die Vergangenheit eintauchen und sich auch ihrer eigene Geschichte stellen, ehe zwischen Nazi-Vergangenheit, und Kalter-Krieg-Nachwehen deutlich wird, welches Ausmaß der Verrat tatsächlich hat.
Dieser Band der inzwischen ehrwürdigen Ariadne-Krimi-Reihe des Argument Verlags ist mehr bei Ambler, le Carré und Helen MacInness anzusiedeln, als bei den vertraut-bekannten AhnherrInnen des Kriminalromans. Es ist eine herbe Geschichte, voller Rätsel und Andeutungen. Sie ist nicht zum Mitraten gedacht, die ProtagonistInnen sind verschlossene Menschen, die lieber einmal zu oft den Mund halten als einmal zu wenig. Man wird durch eine recht komplizierte Geschichte geführt, deren Wurzeln bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreichen. Angesiedelt ist die Geschichte im Jahr 1972, das macht den Nazi-Hintergrund zwar plausibel, bedeutet aber immer noch, daß die Ereignisse, die zusammengepuzzelt werden müssen, sich über einen Zeitraum von gut 30 Jahren erstrecken.
Rieka, die Offizierstochter, ist eine Hauptfigur voller Überraschungen, eine wirklich interessante Frauenfigur. Sie ist allerdings keine Miss Marple und auch keine moderne ‚toughe’ Heldin. Rieka ist beinhart, so sehr, daß man lieber nicht darüber nachdenken möchte, ob sie nun sympathisch ist, oder eher nicht.
Es gibt mehrere Intrigen im Handlungsverlauf, alte und neue, es gibt sogar eine regelrechte Krimihandlung als Nebenhandlung. Riekas Ermittlungen gehen in unterschiedliche Richtungen, da ein Fleckchen Information, dort eines, und da hinten ein drittes, ohne daß man beim Lesen die geringste Ahnung davon hat, ob und wie die Fleckchen zusammengehören. Hin und wieder kommt einer das, was sich abspielt, nahezu kopflos vor.
Das ist durchaus spannend gemacht, man braucht gelegentlich aber einen langen Atmen. Man braucht ihn auch deshalb, weil die Autorin doch ein wenig zur Weitschweifigkeit neigt, vor allem, was Beschreibungen von Örtlichkeiten anbelangt. Sie schafft tatsächlich immer eine wunderbare Atmosphäre, aber sie läßt auch nicht den allerzartesten Pinselstrich aus. Ähnlich ist es bei Riekas Jugenderinnerungen. Man hätte vielleicht nicht jeden Eindruck gebraucht, den Rieka im London der 40er Jahre, bei Gemäldeausstellungen, Festessen oder beim Treffen mit einer der anderen Figuren dreißig Jahre zuvor gehabt hat, auch wenn diese Figur für den Handlungsablauf wichtig ist.
Neuartig ist es, einmal den Konflikt Nazis-Juden aus holländischen Augen zu sehen, auch wenn der Konflikt recht strikt auf die niederländischen Nationalsozialisten begrenzt ist und die höchst diskussionsbedürftige Grauzone zu den bürgerlichen Parteiungen hin ausgeblendet bleibt. Aufschlußreich auch die Darstellung der traditionell engen Bindung zu England am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen dem niederländischen und dem englischen Auslandsgeheimdienst mit Rieka als Bindeglied.
Die unterschiedlichen Formen von Verrat, die in der ersten Hälfte des Buchs nacheinander eingeführt werden, werden dann in der zweiten Hälfte ebenso nacheinander aufgelöst, bis zum letzten Höhepunkt, der Erkenntnis des höchsten Verrats, durch die dann auch der Mörder von Pudelmütze überführt wird. Erst an dieser Stelle wird das vertrackte Muster deutlich, Nationalsozialisten, Juden, Gerlach, sein Verein, englische und holländische Agentinnen und Agenten, Mütter, Väter, Rieka, ihre Freundin, ehemalige Kollegen, jetzige Kollegen, Geldgeschäfte und Spionage für Länder jenseits des Eisernen Vorhangs alles hängt zusammen. Für einen Augenblick stehen Täter und Opfer im Scheinwerferlicht, nur um im nächsten Augenblick wieder vom Dämmerlicht eingehüllt zu werden, das die Konturen verwischt und die Eindeutigkeit aufs neue verhindert. ‚Frieden dauert nie lange’ sagt Rieka einmal.
Ein klassischer Spionageroman, eine Spur weitschweifig, aber die Geduld lohnt sich.