Bachmann-Preis 2009-2010 - Diskussionsthread

  • Peter Wawerzinek: Sprachfindungstexte sind eigentlich nicht so mein Ding, aber dieser Text ist schön gemacht und inhaltlich ist der Text interessant.


    Kurzbeschreibung
    Ein Buch wie ein Erdbeben. Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte. Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.
    Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin? Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenzsoldat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirklich wiedersehen? Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit.
    Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebensgroß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung.
    Aber sie löste - nach jahrelanger Veröffentlichungspause - einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.

  • Zitat

    Christopher Kloeble: schon mit ein paar mehr handwerklichen Schwächen, aber ich habe den Text trotzdem gerne gehört.


    Ambrosisch: Auszug aus Ein versteckter Mensch von Christopher Kloeble hat mir teilweise ganz gut gefallen. Besonderes in den kleinen, detaillierten Szenen, wie z.B. das Tricksen beim Essen, mit den gesunden, aber verschmähten Tomaten, dem Honigbrot und den versteckten Tabletten.


    Wie Karin Fleischanderl den Text als Komik auffasst, leuchtet mir nicht ein.
    Hubert Winkels erläutert den Text sehr gut, dem kann ich folgen, bin jedoch nicht im Einklang, dass der sentimentale Schluß den Text unbedingt scheitern lässt. Da ist Winkels meiner Meinung nach zu streng.


    Sollte man im Auge behalten, wenn der Roman erscheint.
    www.christopherkloeble.de

  • Die Besprechung zum Text Schnee von Iris Schmidt war ja kurz. Egentlich skandalös!
    Burkhard Spinnen müsste von seinem Amt als Jurysprecher zurücktreten, da er zu dieser Kürze aufgefordert hat.


    Mir kommt es so vor, als wenn die Schmerzgrenze bei den Juroren sehr gering ist. Bachmannpreis-Zuschauer vergangener Jahre haben ganz andere Ausmaße von schlechter Qualität bei Texten ertragen müssen.


    Besonders gut war der Text von Iris Schmidt aber tatsächlich nicht, doch man konnte gut zuhören ohne zu leiden.
    Problem war die Schneelandschaft, die schon so oft in Literatur und Film effektvoll eingesetzt wurde. Da muss ein neuer Text schon etwas besonderes bieten.
    Der Text war rätselhaft, aber leider blieb das Rätsel banal.



    Davon abgesehen ist von Iris Schmidt vor kurzen erst ein Buch erschienen:


    Höllenkinder


    Kurzbeschreibung
    Wenn der kleine Herrmann nachts den Stuhl vor das Dachfenster seiner Kammer rückt und hinaussieht, blickt er auf die hell erleuchtete Kirche auf dem Hügel hoch über der Stadt, die zu glühen scheint, phosphoreszierend, wie von innen heraus leuchtend. Und manchmal, wenn es regnet, glaubt Hermann, es wären die Finger Gottes, die hart und drohend gegen sein Kinderzimmerfenster schlagen, so ein Klang ist das. Dann holt er den Rosenkranz aus der Schublade hervor und läßt ihn durch seine kleinen Finger rieseln, und seine Lippen wispern die Gebete, die ihn die Mutter gelehrt hatte: Verteidige mi im Kampf gegen die Bosheit und die Nachstellungen vom Deifl, verteidige mi, verteidige mi...! Nur wenn tagsüber durch die Wälder streift und die Hügel erklimmt, und dann seinen Blick ausschickt, weit über die Täler und bis zum Horizont, kann er seinen Ängsten für einen Moment entkommen. Der Roman Höllenkinder wird gefördert durch die Kulturstiftung des Landes Nordrhein-Westfalen.


    Über die Autorin:
    Iris Schmidt, geboren 20.10.1967 in Hamm, nach dem Abitur und der Höheren Handelsschule, Ausbildung zur Industriekauffrau in Hamm, um dem grauen Büroalltag zu entgehen. Studium der Sozialpädagogik in Dortmund, Beginn des Schreibens von Erzählungen, später auch Kurzgeschichten, Judotrainerin, Arbeit an Schulen, in der Behinderten- und integrativen Pädagogik, und zur Zeit Gemeinwesenarbeit in einem sozialen Brennpunkt in Düsseldorf. Iris Schmidt lebt in Düsseldorf und Hamm.




  • Dieser Roman hat heute den Aspekte-Literaturpreis gewonnen!


    = 10.000 Euro!