Diese Kindergeschichte, die erstmals 1976 in der BRD und ein Jahr später auch in der DDR erschien, gilt inzwischen als Klassiker der Kinderliteratur. Gerade erst kam eine neue Auflage der Taschenbuchausgabe auf dem Markt, eine gute Gelegenheit zur Relektüre.
‚Vorstadt-Krokodile’ nennt sich eine Gruppe aus sieben Jungen und einem Mädchen, zwischen zehn und vierzehn Jahren. Im nahegelegenen Wäldchen haben sie sich eine geheime Hütte gebaut, spielen zusammen, gehen schwimmen oder stromern durch die Gegend, am liebsten mit den Fahrrädern. Wer zur Gruppe - nach dem Jargon der Zeit zur Bande - dazugehören will, muß eine gefährliche Mutprobe bestehen. Gleich zu Beginn der Geschichte treffen wir die Kinder bei einer solchen Mutprobe auf verbotenem Gelände, der alten, abbruchreifen Ziegelei. Der zehnjährige Hannes möchte unbedingt bei den Krokodilen mitmachen. Was von ihm verlangt wird, ist wirklich gefährlich und natürlich geht es schief. Die Krokodile sind alles andere als sturmerprobt, sie rennen vor Schreck davon. Nur Maria, die Schwester von Olaf, dem Anführer, denkt wenigstens weit genug, noch die Feuerwehr zu rufen. Die pflückt Hannes im letzten Moment vom Dach.
Hannes bekommt deswegen heftigen Ärger mit seinen Eltern, von den Krokodilen läßt er aber nicht. Der Hausarrest allerdings führt zunächst dazu, daß Hannes beim müßigen Blick aus dem Fenster ein etwa gleichaltriger Junge im Rollstuhl auffällt. Kurz darauf lernt er ihn sogar kennen. Die beiden sind neugierig aufeinander und freunden sich an. Bald ist für Hannes eine Sache klar: Kurt muß Mitglied der Krokodilbande werden.
Die Bande sperrt sich zunächst, als sie aber erfahren, daß Kurt Hinweise auf Einbrecher hat, die seit einiger Zeit die Wohnsiedlung unsicher machen, ändern sie ihre Meinung. Als sie Kurt die Hütte im Wäldchen zeigen wollen, erleben sie eine böse Überraschung: die Hütte wurde zerstört. Für die Krokodile ist die Sache klar, das waren die Ausländerkinder. Bloß, wo sollen sie nun ihr Hauptquartier bauen?
Ihre Wahl fällt auf die alte Ziegelei, Verbot hin oder her. Auf dem Gelände der Ziegelei finden sie aber weit mehr, als sie erwartet haben. Und so müssen die Krokodile nicht nur lernen, mit einem Gleichaltrigen umzugehen, der im Rollstuhl sitzt, sondern sich auch mit Vorurteilen gegen Ausländer auseinandersetzen und Einbrecher verfolgen, die ihnen näher stehen, als es ihnen lieb sein kann.
Die Geschichte von den Vorstadtkrokodilen kann ihre Gebundensein an die 70er Jahre der BRD nicht verleugnen. Im Unterschied zur Mehrheit der damaligen Kinderbücher spielt die Handlung unter Kindern aus Arbeiterfamilien. Ihr Autor ist der Hauptvertreter der sog. (sehr kurzlebigen) Literatur der Arbeitswelt. Arbeitsalltag, drohende Arbeitslosigkeit, Geldknappheit, Probleme mit sog. Gastarbeitern kommen auch in dieser Geschichte zur Sprache. In einer Zeit, in der die Gruppe der ALG II- EmpfängerInnen täglich größer wird, verleiht das dem Buch allerdings gleich wieder Aktualität.
Das Schimpfen auf Gastarbeiter, Ausdrücke wie ‚Itaker’ und Kraftausdrücke, wie ‚Schlappschwanz’ oder gar ‚dumme Ziege’, waren damals fast ein Skandal, geben dem Text aber heute eine sanft altmodische Note. Die sehr realistische Pinkel-Szene allerdings wird als Stern des Fortschritts noch lange am Himmel der Kinderbuchwelt strahlen.
Zeittypisch und zugleich wieder aktuell ist die wichtige Rolle, die Fahrräder in der Geschichte spielen. Ein echter Sieger, wer eines besaß, den anderen blieben nur die Sehnsucht und der Neid.
Aufregend für die späten siebziger Jahre, heute fast ein bißchen wenig, war die Rolle Marias. Sie ist eigentlich nur gnadenhalber bei der Bande, da sie die Schwester des Anführers Olaf ist. Allerdings ist sie diejenige, die an wesentlichen Stellen eingreift, sie ist es, die als einzige Verstand beweist, als Hannes fast vom Dach stürzt und sie hat als einzige den Mut, Kurt zu helfen, als er mal muß, wie man damals vornehm sagte. Es ist auch Maria, die zusammen mit Hannes den schweren Rollstuhl schiebt und überdies manches kluge Wort parat hat, wenn die männlichen Krokodile wieder mal losschreien. Amazone oder Vorleben weiblicher soft skills? Das ist nur eine der interessanten Fragen, die bei der Lektüre aufkommen.
Wichtig für den Autor war die Rolle von Kurt. Ein behindertes Kind im Kinderbuch war kein häufiges Thema. Von der Grün hat das Buch seinem Sohn gewidmet, der durch seine Behinderung eigentlich der Anstoß für die Geschichte war. Von der Grün läßt Kurt freimütig über sich erzählen, er achtet dabei darauf, genau die Fragen zu beantworten, die in Kinderköpfen angesichts eines Jungen im Rollstuhl entstehen. Wie verbringt er seine Tage, warum hat er eine Decke über den Beinen, selbst wenn es heiß es, wie badet er, wie schläft er? Und eben: wie pinkelt er? Daß Kurt dabei ein wenig zu gescheit, zu begabt gerät, mag ein Moment sein, der eher erwachsene LeserInnen stört als Kinder. Wo es darauf ankommt, ist er neugierig, leichtsinnig, naseweis wie jedes andere Kind auch.
Schwer einzuordnen ist die häufige Nennung der ‚Invaliden’, Rentner? Kriegversehrte? (wie man damals sagte), die in den und aus dem Text huschen, ohne daß genau geklärt wird, was es nun mit ihnen auf sich hat. Sie vertreiben die Kinder, aber am Ende verträgt man sich, ohne daß die ‚Invaliden’ ein Gesicht gewonnen hätten.
Schwer zu ertragen ist die Rolle der ‚Itaker’-Kinder. An ihnen scheinen einige Vorurteile der Zeit auf. Einmal darf einer der Krokodiler auch ein ziemlich kleines Kind aus der italienischen Gruppe treten, ohne daß sich der Autor dagegen ausspricht. Daß diese Kinder dann durch Diebstahl zum moralischen Prüfstein für die Krokodil-Bande werden, ist bedenklich. Es kommt auch an keiner Stelle zu einer Annäherung, die Deutschen bleiben hie, die Ausländer da. Von Integration hat man damals offenbar nicht einmal geträumt.
Ihre Stärken entwickelt die Geschichte bei der Beschreibung der Interaktion der Kinder. Allerdings ist die Gruppe etwas zu groß geraten, Rudolf bleibt nur ein Name und auch Otto ist trotz seiner Künste auf dem Fahrradsattel bis zum Ende eine sehr blasse Gestalt. Witzig ist dagegen der stets in der Nase bohrende Peter (der Ekeleffekt wird weidlich genutzt), eindringlich werden Franks Probleme mit Vater und Bruder dargestellt. Hannes gerät ebenso lebendig wie Maria und Kurt, Olaf, muß man sagen, läßt als Anführer etwas zu wünschen übrig. Der Stärkste ist eben nicht immer der Klügste oder auch nur Wendigste. Die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Gruppe werden deutlich, wie auch die anfängliche Ablehnung Kurts.
Sobald diese aber überwunden ist, läuft die Bande zu voller Form auf. Die Szene auf dem Mini-Golf-Platz schmeckt für heutige Verhältnisse ein bißchen nach politischer Korrektheit, hat aber nichts von Schwung und von der grundsätzlichen Berechtigung der dahinterstehenden Forderungen eingebüßt.
Der Handlungsstrang mit den Einbrechern schließlich macht die Geschichte nicht nur zum Krimi, sondern er stellt die Gruppe vor ein moralisches Problem beträchtlicher Größenordnung. Dieses wiederum lösen die Kinder zunächst individuell für sich, bis sie dann, nolens volens, handeln müssen. Das Ende, das auch das Ende der alten Ziegelei bringt, ist bis heute beeindruckend. Hier geht regelrecht eine Ära zuende. Das fühlen auch die Krokodiler und sie wissen eigentlich, daß es sich dabei nicht nur um den neuerlichen Verlust eines Spielplatzes handelt.
Der Schluß ist positiv, voller Hoffnung auf eine neue Zeit Natürlich mit einer Hütte. Gibt es einen besseren Ort für die Krokodiler?
Leider sind die beiden Schlußsätze eine Katastrophe. Auf diesen Löffel Zuckerguß kann man verzichten.
Tatsächlich ein Klassiker. Aktuell und zugleich ein bißchen angestaubt, frisch und doch ein wenig bieder, vorwärtsweisend in vielem, obwohl der Blick zugleich eingeschränkt ist.
Immer noch empfehlenswert.