Das Mädchen, das Löwen sah - Berlie Doherty (ab 12 J.)

  • OT: Abela. The Girl Who Saw Lions 2007



    Abela, ca. neun Jahre alt, lebt mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester bei Bibi, der Großmutter. Abelas Vater ist an den Folgen von AIDS gestorben, es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann ihre Mutter und die kleine Schwester ihm folgen werden. Der Moment, den Abela am meisten fürchtet, tritt auch ein. Sie bleibt mit ihrer Großmutter allein. Ihr Onkel Thomas, der nach langen Jahren in England ziemlich unvermutet wieder in Abelas Heimatdorf in Tansania auftaucht, hat große Pläne. Er hat eine englische Freundin, der er eine Scheinehe vorgaukelt, um selbst wieder nach England einreisen zu können. Seine kleine Nichte Abela soll als angebliches Kind der beiden die Scheinfamilie perfekt machen. Die Großmutter Bibi läßt Abela gehen, in der Überzeugung, daß es Onkel Thomas darum ginge, Abela eine bessere Zukunft zu verschaffen. In England aber strandet Abela, da die Pläne des Onkels nicht aufgehen. Sie landet in einer Pflegefamilie in Sheffield, ihre Zukunft ist ungewiß.


    Die dreizehnjährige Rosa lebt mit ihrer Mutter in London, ihr Vater lebt nicht bei ihnen, aber sie hat eine enge Beziehung zu ihrer Mutter und zu den Großeltern. Eines Tages aber überrascht die Mutter Rosa mit dem Wunsch, ein Mädchen zu adoptieren. Rosa ist entsetzt und verunsichert. Liebt ihre Mutter sie nicht mehr? Sie sperrt sich gegen die Adoption. Eine Aussprache von Mutter und Tochter klärt das Grundproblem, Rosa stimmt zu, daß ihre Familie um ein neues Mitglied erweitert wird. Allerdings steht beim Jugendamt kein Mädchen zur Verfügung. Soeben bereit, eine Schwester willkommen zu heißen, muß sich Rosa nun auf einen kleinen Bruder einstellen. Das neue Leben mit dem kleinen Anthony läßt sich auch gar nicht schlecht an. Kaum aber haben sie sich aneinander gewöhnt, taucht Anthonys Vater auf und stellt seine Ansprüche. Wieder ist die Zukunft der Familie mit einem adoptierten Geschwisterkind, die sich Rosa inzwischen ebenso sehr wünscht, wie ihre Mutter, ungewiß.


    Doherty erzählt die Geschichten von Abela und Rosa parallel. Berichtet wird abwechselnd über Abela und Rosa, ergänzt mit kurzen, persönlichen Kommentaren der beiden Mädchen in Ich-Form. Der ständige Wechsel der Perspektive, die Daraufschau und die Innensicht erfordern Konzentration, tragen aber wesentlich zur Spannung bei. Abelas von ihrer afrikanischen Erfahrung geprägte Welt und Weltsicht steht dabei ebenso eigenständig vor den Augen der Leserin, wie Rosas englische Welt. Eigentlich liest man zwei Romane, die erst gegen Ende verknüpft werden.
    Die Personen sind von überwältigender Lebendigkeit, man lacht und leidet mit ihnen. Doherty erspart einer wenig, die Szenen im Krankenhaus in Tansania sind ebenso herzerreißend wie Rosas seelische Erschütterungen, nachdem sie vom Wunsch ihrer Mutter, ein weiteres Mädchen aufzunehmen, gehört hat. Viel Sorgfalt und Raum schenkt die Autorin den Beziehungen innerhalb der jeweiligen Familie. Die Szene von Abela und ihrer Mutter beim Mehlstampfen ist ebenso innig und poetisch beschrieben, wie die Szenen, in denen man Rosa und ihrer Mutter bei ihrer Lieblingsbeschäftigung zusieht, dem Eislaufen. Wie Rosas Großeltern, will auch Bibi, Abelas Großmutter, für ihre letzte verbliebene Enkelin nur das Beste. Das geht unter den gegebnen Bedingungen für Abela negativ aus. Doherty verzichtet allerdings auf Schuldzuweisungen, sowohl bei dem kriminellen Onkel als auch bei der knapp, aber krude geschilderten Beschneidungsszene.


    Beide Geschichten enthalten überraschende Wendungen, mindestens eine ist so geschickt angelegt, daß die Leserin stracks ins offene Messer ihrer eigenen Vorurteile rennt. Gegen Ende läßt die Geschichte ein wenig nach, da Doherty, möglicherweise aufgrund ihrer eigenen beruflichen Erfahrung als Sozialarbeiterin, sich dazu verleiten läßt, ihren Kolleginnen ein kleines Denkmal zu setzen. Die Handlung wird um die Perspektive der Frauen vom Jugendamt ergänzt, was aus diesem Teil fast eine Berichterstattung aus der abendlichen Fallkonferenz macht, wodurch die Hauptpersonen dann zu lange an den Rand rücken.


    Das tut dem Roman im Ganzen gesehen aber nur wenig Abbruch. Abelas und Rosas Geschichten sind ein spannender, überzeugender und origineller Beitrag zu den komplizierten Themen interkultureller Adoption, AIDS, Afrika und Europa. Vor allem aber von der Bedeutung liebevoller und auf gegenseitigem Respekt beruhender Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, gleich, ob sie miteinander verwandt sind oder nicht.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich selbst habe die englische TB-Ausgabe von 2008 gelesen. Das Cover fand ich unwiderstehlich, die Glitzer-Schuhe haben auch ihre Bedeutung in der Geschichte.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Das hört sich ja wieder sehr interessant an - nur wann soll das eigentlich alles gelesen werden, was so zu lesen ist. :gruebel


    In jedem Fall aber herzlichen Dank für diese sehr informative Rezi.


    Manchmal habe ich das Gefühl, in Kinder- und Jugendbücher findet man bessere Analysen über unsere gesellschaftlichen Gegebenheiten als in so mancher hochtrabender Abhandlung mit dem Attribut "wissenschaftlich". Vielleicht kommt es ja daher, dass in Kinder- und Jugendbücher Grundlage der Handlungen noch der gesunde Menschenverstand ist. Das aber nur mal eben so nebenbei. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Es war, wie so oft, ein Zufallsfund. Und ich bin sehr glücklich geworden mit dem Buch.


    Daß manche Themen in Jugendbüchern klarer herauskommen, hat seinen Grund wohl darin, daß die Autorinnen und Autoren sich ganz deutlich machen müssen, was g e n a u ihr Thema ist und daß sie es einem Publikum mit einem eingeschränkten Wissen und einer noch begrenzten Weltsicht erzählen müssen.
    Ein gutes Jugendbuch zu schreiben, muß ungeheuer schwer sein.


    Es gibt tatsächlich mehr schwache bis richtig schlechte Jugendbücher als gute, das gilt für jedes Genre in dem Bereich, vom Fantasyroman bis zum zeitkritischen. Und auch gute Autorinnen und Autoren liegen manchmal daneben.


    Gesunder Menschenverstand? Ich weiß nicht, das ist nicht unbedingt etwas Allgemeingültiges, den kann man auch so und so definieren. Wenn man Pech hat, ist er einfach der kleinste gemeinsame Nenner. Ich halte nicht viel davon, ehrlich gesagt.


    Ich glaube, daß es wichtiger ist, das Publikum ernst zu nehmen, nicht nur daran zu denken, welcher Gag, welcher Kick wirken, um die Verkaufszahlen zu fördern, sondern von dem überzeugt zu sein, was man erzählt. Dieser Ernst teilt sich dann auch der Geschichte mit.


    Falls Du übrigens die Tankstelle entdeckst, an der man mehr Zeit zum Lesen tanken kann, gib mir bitte die Adresse. Ich bräuchte auch so ca. 20l mehr Zeit pro Tag.
    :lache



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus