Der Liebste – verloren, sprachlos
„Mein Liebster“, sagte er oft zu seinem kleinen Sohn. Und seine Teenagertochter nannte er „meine Liebste“.
Schon beim ersten Mal waren ihr diese Kosenamen aufgefallen. Besonders bei dem Jungen. Andere Väter nannten ihre Söhne „Indianer“, „Knirps“ oder gar „Junior“; die kleinen Mädchen hießen „Prinzessin“, „Sternchen“ oder „Püppi“. Er aber sagte „mein Liebster“ und „meine Liebste“. Doch bei der Tochter störte es sie nicht, sie bemerkte es nur.
Unangenehm berührt davon war sie erst später.
Sie hatte nie darüber gesprochen – was gab es da auch zu sagen? Sie hatte sich nur leise Vorwürfe wegen ihres Unbehagens gemacht, es mit Eifersucht zu erklären versucht, obwohl sie selten eifersüchtig war und es hier keinen Grund gab.
Schließlich nannte er sie auch „meine Liebste“. Er schrieb es in Briefen, sprach es durchs Telefon, flüsterte es in der Dunkelheit: „Meine Liebste, meine Schönste.“
Wenn er diese Worte zu ihr sagte, standen sie im Einklang.
Einklang – ein schönes Wort. Ein-Klang. Viele Töne, verschmolzen zu einem Klang. Einem einzigen nur.
Es war Sinn und Zweck, war ihr Wunsch und ihr Wille, seine Liebste und Schönste zu sein. Es war ihre Sehnsucht, mit ihm im Einklang zu sein.
Einmal lag er nackt neben ihr in der Dämmerung. Er hatte sich zusammen gerollt wie ein Kind, seinen Kopf gegen ihre Brüste gepresst, die Hände zwischen den Schenkeln verborgen. Manchmal zuckten seine Schultern ein wenig.
Sie streichelte das Haar des Kindes, das dünner wurde und grau, sah die weiße glatte Haut ihres Schenkels auf der fahleren Haut seines Schenkels.
Sie hätte es gern geschützt, dieses alte Kind, seine Wunden mit ihrer prallen Mütterlichkeit zugedeckt. Sie beugte den Kopf ein wenig, küsste ihn auf die kahle Stelle in der Mitte seines Kopfes, flüsterte „mein Liebster“, meinte aber „mein Liebstes“.
Er sagte ein paar Worte, stellte Fragen in einer Kindersprache, die ihr seltsam vertraut war, obwohl sie sie nie zuvor gehört oder gar selbst benutzt hatte. Als Mutter nicht und auch nicht als Tochter. Ihr Verstand verweigerte ihr die Antwort auf diese unschuldigen und gleichzeitig allwissenden Kinderfragen.
Hier endete die Sprache.
Die Worte, die ihr in den Sinn kamen, fielen in ein dunkles Loch, in dem ein schwarzes Tier hauste, dass die Worte im Flug, noch ehe sie hörbar wurden, fraß, so dass sie mit ihrem Körper antworteten musste. Sie nahm ihn in den Arm, wiegte ihn hin und her und ahnte mehr, als sie wusste, dass es keinen Trost für ihn gab.
Hier endete die Sprache.
Wenn sie jemals zuvor darüber nachgedacht hätte, was nach der Sprache kam, so wäre sie vielleicht auf den Gedanken gekommen, dass dort das Nichts begänne. Das Nichts, so hätte sie vielleicht gedacht, unterschied sich vom Sein durch die Sprache.
Doch das war nicht so. Das Nichts wäre eine Gnade gewesen. Es gab keine Gnade, es gab keinen Trost. Nur sprachlose Schwärze, dicht und schwer, die sich über einen senkte, so dass man darunter beinahe erstickte, erdrückt wurde und alles tat, um daraus zu entkommen. Alles.
Noch immer in der Dämmerung liegend und das alte Kind hin und her wiegend, hoffte sie, dass Tränen die Schwärze auflösen könnte, verwässern, damit sie leichter werde davon. Also weinte sie. Sie weinte nach innen, denn sie wollte das Kind nicht mit ihrem sprachlosen Wissen erschrecken.
Am nächsten Morgen nannte er seinen Sohn wieder „mein Liebster“.
Sie hörte es und ihr wurde beinahe übel. Er stand am Fenster dabei. Die Sonne drang grell ins Zimmer, so dass ihre Augen schmerzten und sie ihn nur als schwarzen Umriss sehen konnte. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch das Schwarze blieb.
Manchmal fotografierte er sie. Sie entblätterte sich dabei, entblößte sich bis unter die Haut. Es tat ihr weh, weil sie der Schwärze, die sie nicht benennen konnte, dabei zu nahe kam. Mit der Kamera zielte er auf sie wie mit einem Gewehr.
Es waren nicht die Fotos, die nach der Sprache kamen, sondern der Akt des Fotografierens. Er drang mit der Kamera in sie ein, höhlte sie aus damit, entleerte sie, während er sich gleichzeitig von ihr entfernte, sie ganz allein ließ mit der Schwärze, die sie kaum tragen konnte.
Ihre Blicke oder Worte erreichten ihn nicht. Sie war in diesen Augenblicken nicht mehr seine Liebste, war Objekt nur, eine leere Hülle, eine Marionette, die an den Fäden hing, die er zog. Mit der Kamera machte er sie zum Ding. Er zoomte ihre Seele weg und füllte die leere Stelle mit Gedanken und Gefühlen, mit Bildern und einer holprigen, alles verschweigenden Sprache, die nichts mit ihr zu tun hatten, die sie nicht einmal kannte, nur schemenhaft ahnen konnte.
Seine Augen verloren hinter der Kamera jeden Ausdruck. Starr wurden sie, die Lippen schmal. Sie hörte, wie er manchmal mit den Zähnen knirschte, sah, wie sein Kinn kantig und hart wurde. Er hielt die Kamera so fest zwischen den Händen, dass die Knöchel der Finger vor Anstrengung weiß wurden.
Wenn er sie ansah, um zu prüfen, ob sie die Glieder wie gewünscht verrenkte, sah sie Wut in seinem Blick. Wut und Hass. Sie wurde klein unter diesem Blick und wehrte sich nicht, wenn er mit dem Fuß nach ihrem Leib stieß, um ihn zurecht zu rücken.
Die Unbarmherzigkeit, mit der er ihren Körper sprechen ließ, entsetzte sie. Sie ließ es trotz ihres Schmerzes zu, weil sie wusste, dass dies die Wahrheit war. Und die Wahrheit war ohne Gnade und Barmherzigkeit. Es war die Wahrheit, die nach der Sprache kam und die sich auch dann nur schwer ertragen ließ, wenn sie sich als Bild zeigte.
Hinterher war sie immer sehr erschöpft, liebe- und schutzbedürftig wie ein Kind, dass lange in einem dunklen Raum eingeschlossen gewesen war.
Wenn sie nach dem Fotografiert werden hörte, dass er „mein Liebster“ zu seinem Sohn sagte, hätte sie ihn schlagen können. Ihn mit den Fäusten auf den Mund schlagen wollte sie, ihm das Maul stopfen, weil er Worte sprach, die ihr böse und schwarz vorkamen, die ihr weh taten. „Mein Liebster!“
Auch sie nannte er hinterher manchmal „meine Liebste, meine Schönste“. Sie hätte gern geweint dabei, grelle Schreie ausstoßend, hätte sich gern erbrochen und niemals wieder damit aufgehört. Sie hätte sich gern die Seele aus dem Leib gekotzt, doch sie tat es nicht, weil sie Angst hatte vor dem Schmerz dabei und vor der Schwärze. Also schob sie das Dunkle weg, in dem sie in die Dunkelheit flüchtete und sich an ihn schmiegte, bevor er sich an sie schmiegen konnte.
Einmal kaufte sie sich viele nackte Barbiepuppen. Sie konnte den Kauf nicht begründen, wusste nur, dass sie mit Hilfe dieser Puppen die Sprache finden wollte.
An einem Vormittag räumte sie in ihrer Wohnung ein Zimmer fast leer. Nur ein Tisch stand noch darin. Ein schwarzer Tisch auf grauem Teppich vor weißen Wänden. Sie legte die nackten Puppen auf den Tisch und zog sich ebenfalls aus. Dann starrte sie auf die Puppen. So lange, bis sie ein dunkles, schweres Gefühl bemerkte, dass in ihr hochkroch wie ein Tier. Sie hörte auf zu denken, nahm ein Messer in die Hand und zwängte sich in die dunkle Schwere, die ihn ihr auflebte. Sie sah in einen Spiegel, den sie neben den Tisch gestellt hatte und sah in ihren Augen Wut und Hass. Dieselbe Wut, derselbe Hass, den sie von ihm kannte, wenn er die Kamera auf sie richtete wie ein Gewehr.
Mit dem Messer stach sie in die nackten Puppen, schlitzte ihnen die Bäuche auf, rasierte die Haare von den Köpfen, riss ihnen die Schenkel aus, wand ihnen dünne Seile um die Plastikhälse und henkte sie, hielt brennende Kerzen an die nackten Leiber. Es gab nichts, was sie nicht mit ihnen machte.
Als sie fertig war, verließ sie den Raum, kochte sich einen Kaffee, rauchte zwei Zigaretten und hörte die Verkehrsnachrichten im Radio. Es erstaunte sie sehr, dass ein Mann Worte sprach, die sie verstand, die einen Sinn ergaben. „Stau auf der A 5“.
Dann ging sie zurück in das Zimmer und fotografierte die Puppen. Als sie die zerbrochenen Leiber und die vielen Haarsträhnen aufsammelte und in einen blaue Mülltüte steckte, weinte sie. Sie riss den Film aus der Kamera und verbrannte ihn.
Dann ging sie ins Bad und erbrach sich, bis sie ganz leer war. Als die Dunkelheit kam, wusste sie nicht, wohin. Sie knipste alle Lampen in der Wohnung an, die sie nur finden konnte, entzündete alle Kerzen, doch die Dunkelheit blieb. Sie zog mehrere Pullover übereinander, Strumpfhosen, Socken, Jeans. Sie setzte sich eine Mütze auf, zog Schal und Handschuhe an, obwohl es draußen Sommer war. Sie hockte in einer Ecke, zog die Knie an, verbarg den Kopf darin, schloss die Augen, weil sie mit geschlossenen Augen die Dunkelheit nicht sehen musste.
Lange saß sie so, wiegte sich hin und her. Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf ein abgerissenes Puppenbein, dass sie vergessen hatte, in die Mülltüte zu packen.
Sie starrte auf das Bein – und fühlte sich, als hätte sie Gott versucht, eine schwere Sünde begangen. Nicht wieder gut zu machen. Niemals. Und Gottes Strafe ein Leben in Kälte und Dunkelheit.
„Ich wollte nur hinter die Sprache kommen, die Schwärze aus dem Schweigen holen“, flüsterte sie und wusste, dass sie damit verbotenen Raum betreten hatte. Einen Raum aber, den Menschen – nicht Gott - geschaffen hatten. Einen Raum, zu dem Gott keinen Zutritt hatte. Verdammt war jeder, der gezwungen wurde, diesen Raum zu betreten. Verdammt, in seiner Dunkelheit und Schwere der Sprache beraubt zu werden, darin zu vergehen und für immer wortlos zu sein. Ein Raum, der die Worte in ihr Gegenteil verkehrte, ihnen den Sinn raubte, sie dunkel, schwer und böse machte. Kinder, die man in diesen Raum brachte, erstarrten und wurden gleichzeitig alt. Kinder, die jemals in diesen Raum gezwungen wurden, waren verdammt dazu,?niemals wieder verstanden zu werden und auf ewig in der Icheinsamkeit zu verharren.
Verloren der, den man in dieser Dunkelheit „mein Liebster“ nannte, denn in diesem Raum hatte auch das Wort Einklang eine andere Bedeutung. Ein Klang, ein einziger nur, blieb. Ein stummer Schrei.