OT: Coram Boy 2000
Der eher nach einem Fantasy-Roman klingenden Titel ist nur die Umbenennung eines bereits 2002 in Deutschland erschienenen historischen Romans für Kinder. Damals wurde einfach der englische Originaltitel beibehalten, Coram Boy. Für deutsche Leserinnen mag er genauso rätselhaft erscheinen wie der spätere, aber tatsächlich gibt er einen klaren Hinweis auf den Inhalt. ‚Coram’ bezieht sich auf Sir Thomas Coram, einen wohlhabenden Londoner Kaufmann, der 1739 ein Waisenhaus gründete, in dem die Straßenkinder des damaligen London Aufnahme finden sollten. Ein kurzes Vorwort der Autorin informiert darüber. Es informiert ebenfalls darüber, daß es in dieser Zeit einen Mann gegeben haben soll, der unter dem Vorwand, ungewünschte Kinder in dieses Waisenhaus zu bringen, über Land gezogen und gegen Geld ebensolche Kinder, vom Säugling bis zum Teeanger eingesammelt haben soll, um sie zu verkaufen.
Aus diesen beiden Informationen, wobei sie den Beleg für die letztere schuldig bleibt, spinnt Gavin einen dickleibigen, wildromantischen Abenteuerroman.
Otis Gardiner ist Hausierer und Kleinbetrüger, aber das reicht ihm nicht. Der Handel mit ausgesetzten, verlassenen oder einfach verirrten Kindern kommt ihm gerade recht. Otis ist ein Schurke mit dem schwärzesten aller Herzen.
Sein Helfer (und Sohn) ist der vierzehnjährige Meshak, der zwar stark, aber geistig zurückgeblieben ist und unter einer Art spastischen Anfälle leidet. Meshak hat einen Hund, Jester, der ein treuer Freund ist und eine Leidenschaft, der er heimlich, aber mit Jester frönt, weil der ja ein treuer Freund ist. Die Leidenschaft gilt Engeln. Wo immer er die Möglichkeit hat, Engel zu betrachten, nutzt er sie. Das trägt ihm Prügel von Otis ein, weil der ja der Böse ist. Wenn es nicht um Engel geht, erledigt Meshak seine Arbeit ohne Fehl und Tadel, Kinder einsperren, Kinder bewachen, Kinderleichen verscharren, was immer anfällt. Schaurig, uuuh!
An der Domschule der Kathedrale von Gloucester entwickelte sich im Chor derweil die Freundschaft zwischen Thomas, der aus einer armen Familie der Stadt stammt, und dem hochmusikalischen Alexander, Sohn eines Landadligen. Diese wahrhaft demokratische Freundschaft wird sogar mit einem Besuch im Schloß gekrönt, wo wir Alexanders Familie und vor allem Kusine Melissa kennenlernen. Zwischen Melissa und Alexander entspinnen sich zarte Bande.
Aber auch Meshak, der mit Otis in der Umgebung herumstreift, hat Melissa entdeckt. Und ist verzaubert, denn sie hat das Gesicht eines Engels. Er kann nicht anders, dauernd muß er sie beobachten (wenn er nicht grad Kinderleichen verscharrt, spastische Anfälle hat oder von Otis verdroschen wird).
Dann bricht das Unglück herein. Zuerst kommt Alexander in den Stimmbruch, seine Engelsstimme, die schönste im Chore, erklingt nicht mehr. Er muß die Domschule verlassen, und Thomas. Sein Vater, der Musik verabscheut, verbannt alle Instrumente aus dem Schloß. Melissa, die zart an Alexander verbandelte, rettet den musikalisch ausgehungerten Erben aus der Wüste der Stille. Im alten Cottage am rauschenden Bach steht ein altes Virginal, das Alexanders Vater in seinem Anfall von antimusikalischem Terrorismus übersehen hat. Bald klimpert Alexander selig darauf herum. Die Bande zu Melissa werden zarter und zarter, bis sie sich schließlich von Kleidungs - und Wäschestücken lösen.
Daraufhin setzt der natürliche Lauf der Dinge ein. Melissa, die ahnungslose, wird von ihrer Zofe darüber aufgeklärt, daß sie schätzungsweise im vierten Monat ist. O! Doch böse Menschen ersinnen eine böse Rettung. Das Neugeborene wird Otis anvertraut. O!
Aber wir müssen nicht verzagen, die Kavallerie sitzt schon im Sattel. Meshak sprengt in die Runde, reißt den Korb mit dem Kind der Sünde an sich und verschwindet in der Nacht. Ohne seinen treuen Freund Jester. Das ist schon ein Schlag am Ende von Teil 1.
Teil 2 beginnt im Coram Waisenhaus in London. Wir lernen den achtjährigen Aaron kennen, der von dem etwas älteren, starken und geistig zurückgebliebenen Mish behütet wird, wie sein eigener Engel, äh, Kind. Wir, als Leserin inzwischen an jeden erzählerischen Kummer gewöhnt, tun so, als merkten wir nichts
Melissa leidet derweil im fernen Gloucester. Alexander leidet auch, aber er hat seine Musik wieder. Überhaupt kommt viel Musik vor in diesem Teil. Georg Friedrich Händel höchstpersönlich hat nämlich eine wichtige Nebenrolle bekommen. Ein Gutteil der Handlung dreht sich um die Aufführung des Messiah im Coram Waisenhaus (historisch verbürgt). Thomas ist auch dabei, er kennt Händel und darf seine Musik spielen.
Aaron, darauf wären wir im Traum nicht gekommen, hat die schönste Stimme im Chor. Er hat aber auch einen Freund, den schwarzhäutigen Toby, eine Freundschaft geradezu vorbildlich demokratischen Verhaltens.
Wer an dieser Stelle der Gefahr der akuten Überzuckerung mit Hilfe des Salzes des Sarkasmus begegnen will und etwa anmerkt: ‚Fehlt nur noch das kleine blinde Mädchen’, die muß ich enttäuschen. Natürlich gibt es im Waisenhaus ein kleines blindes Mädchen. Sie kann wunderbar Flöte spielen und sie ist die beste Freundin von Toby und Aaron. Wäre noch irgendwo ein jüdischer Mensch aufgetaucht, hätte das Buch gute Chancen gehabt, zum Quotenroman des beginnenden Jahrtausends gekürt zu werden. Das aber ist der Autorin glücklicherweise nicht eingefallen.
Dafür kam sie auf anderes, wir sind ja noch nicht am Ende. Das heißt, ich war es längst, aber sie hatte noch einiges zu sagen. Dieses Buch ist einer der geschwätzigsten Romane, die ich je in Händen hielt.
Otis Gardiner, der Hausierer mit dem schwarzen Herzen, gilt inzwischen als tot. Seine bösen Taten sollen ihn eingeholt und an den Galgen gebracht haben. In London lebt der ziemlich reiche Mr. Gaddarn, zu dem und über den immer wieder Kinder aus dem Waisenhaus vermittelt werden. Auch Toby landet bei ihm. Mr. Gaddarn ist ein unangenehmer Mensch. Zudem hat Alexander, der auch in London ist, wegen Händel und Thomas und weil er halt dort sein muß, sonst kann er nicht merken, was er merken soll, also hat Alexander das Gefühl, diesen Mr. Gaddarn schon einmal gesehen zu haben.
Während Toby finstersten Kinderhandel aufdeckt, beglückt Aaron mit seiner Stimme Händel. Dann aber entführt ihn überraschend Mish. Was ist passiert? Mish hat einen Mann aus der Vergangenheit gesehen, einen ganz schlimmenbösen. Aaron kann ihn beruhigen und dann doch noch rechtzeitig bei der Messiah -Messe mitsingen.
Aber es ist schon alles bereit zum Showdown. Gaddarn ist Gardiner (nein, diese raffinierte Namensverwandlung, darauf wären wir im Traum nicht gekommen), Alexander hat inzwischen kapiert, daß er Vater eines quicklebendigen Sohns ist, der noch dazu dauernd singt, irgendwie landen alle im Hafen, weil Gaddarn/Gardiner Toby und/oder Aaron nach Amerika verkauft hat. Degen werden gezogen Mantelzipfel wehen durch die Hafennacht, Schreie werden laut: Ich bin dein Vater! Ich bin sein Sohn! Du bist nicht mein Sohn! Rettet meinen Vater!
Dann liegen welche am Kai, andere im Wasser. Irgendwelche davon sind tot, andere leben. Man faßt es nicht.
Szenenwechsel.
Ein Friedhof auf dem Land. Melissa und Alexander, endgültig mit den gleichen zarten Goldringen verbunden, besuchen die Gräber ihrer Lieben. In einem davon liegt Thomas. Toby decken offenbar die grünen Wellen der Themse. Aber das Glück steht schon vor dem Friedhofstor: ‚Mr. Ashbrook’ sagte er. ‚Ich glaube, ich bin Euer Sohn’.
Diese Manieren! Das ist eben Adel.
Das Böse aber hat überlebt, es west unerkannt weiter, immer und überall. Meshak war in Amerika, ist im Epilog viele Jahre später aber wieder da und irrt als Irrer durch die Wälder.
Der Epilog ist tatsächlich schön, bewegend, spannend und gruselig. Sich aber dafür durch 395 klischeestrotzende und übelkeitserregend kitschgetränkte Seiten zu quälen, ist für jeden denken Menschen, gleich welchen Lesealters, einfach zuviel verlangt.
Schrecklicher Schmöker.
Eine Frage jedoch plagt mich: was wurde bloß aus Jester, dem treuen Freund?