Der Körper des Salamanders - Julia Schoch

  • In neun Erzählungen widmet sich Julia Schoch einem großen Thema, dem Verlust. Neun ‚Ich’, fast alle namenlos, erleiden ihn, und es ist immer der gleiche Verlust, der der Heimat DDR. In manchen Erzählungen ist er das zentrale Thema, in anderen ist er mehr an den Rand gerückt, in dreien ist er nur indirekt wirksam. Spürbar aber ist er in allen.
    Das unabänderliche ‚Vorbei’ gibt das Tongeschlecht vor, es ist Moll. Die Gemütslagen sind bestimmt von Negativem, Zweifel, Wut, Haß. Sie bleiben allerdings gedämpft, keine und keiner schreit hier laut. Die Figuren handeln merkwürdig verzögert, halb von äußeren Bedingungen gefesselt, halb in eigenen Träumen befangen. Ihre Pläne werden immer wieder vereitelt, was zu seltsamen Verzweiflungstaten führen kann, zu Flucht oder Selbstmord (Schießübung) zum Mord und Selbstmord (Der Körper des Salamanders)


    Der Wunsch zu fliegen durchzieht die Gedankenwelt der Figuren. Ein Vogel sein, ein Flugzeug besitzen - der alte Kellner macht in seiner Fantasie, das letzte, das ihm bleibt, seine Wohnung zu einer im Bau befindlichen Propellermaschine, in der er davonfliegen will (Herr Quantischek will fliegen)- leicht sein, schwerelos. Wenn nicht in der Luft, so wünschen sie sich auf einem Fluß dahinzuschwimmen, fortzuziehen.


    Manche haben sich dem Fluß anvertraut (Letzte Ausfahrt), andere sind fortgegangen. Das Gefühl der ersehnten Freiheit aber stellt sich nicht ein. Zum einen erweisen sich die Erinnerungen als Fesseln, die ebenso straff gezogen sind, wie so manche der schlimmsten Seiten des untergegangenen Staates. ‚Mein Staat hält Überraschungen bereit. Der liebe.’, sagt eine der Figuren, eine junge Frau, die nach langer Zeit wieder in ihren Heimatort fährt, um eine Reportage darüber zu schreiben. Diese Aufgabe hat sie nur gewählt, weil sie sicher war, ihre Erinnerungen im Griff zu haben. Sie hat sich getäuscht. Der liebe Staat mag nicht ruhig sein in ihr. Noch immer läßt er sich nicht beherrschen, die Erinnerungen sind stärker. (Der Exot)


    Das gilt nicht nur für die Erinnerungen der Hauptfiguren. Auch in anderen Ländern reagieren die Menschen auf das Bild des ehemaligen Staates. In Bukarest verliert der Kommissar einen Gutteil seiner Jovialität, als sich herausstellt, daß das bestohlene Pärchen nicht aus West -, sondern aus Ostdeutschland stammt. (Boulevard Lipscani Nr. 3)


    Zum anderen zeigt sich, daß das Fortgehen die so langersehnte Freiheit nicht bringt. Die Suche nach der Freiheit jenseits von Grenzen entpuppt sich als Suche nach den Pelikanen im Flußdelta. Jeder spricht von ihnen, jeder kennt jemanden, der sie gesehen hat, Schwärme von Pelikane, früher, als es den Sozialismus noch gab. Doch gleich, wie weit die Ich-Erzählerin ins Delta hinausfährt, sie findet keine Pelikane. Sie entziehen sich, wie die Freiheit. Es gibt nur das Wort und vage Bilder davon in den Köpfen der Menschen. (Im Delta)
    Die Suche aber geht weiter. Eine andere Figur erwürfelt zusammen mit ihrem Begleiter in Bukarest verbissen Zahlen, aus denen auf Diagramme übertragen eines Tages die Weltformel hervorgehen soll. (Boulevard Lipscani Nr. 3)


    Bestimmt sind die Erzählungen von einem sehr eigenen Blick auf die Welt. Metaphern und Assoziationen erschließen sich nicht selten nur dann, wenn man sich völlig auf den Kosmos der Autorin einläßt. Ihre Sprache ist sehr klar und wirkt trotzdem streckenweise wie eine Fremdsprache, deren Buchstaben man zuerst entziffern und deren Worte man danach übersetzen muß.
    Überdies verbergen sich hinter der vermeintlich schlichten Sprache so manche Bezugnahmen auf Literatur, Anspielungen, versteckte Zitate, die der Bedeutung vieler Sätze zusätzlich Farbe verleihen. Hin und wieder enthalten sie allerdings auch wesentliche Puzzleteile zum Verständnis des nicht selten rätselhaft wirkenden Ganzen.
    Ebenso verhält sich mit Begriffen und Hinweisen zum DDR-Alltag. Erklärt wird nichts. Hier erzählt jemand aus einer heutzutage selten gewordenen Souveränität heraus, eine Souveränität, die sich nicht aus Arroganz speist, sondern aus der inneren Überzeugung, den ureigenen Kosmos präsentieren zu müssen.


    Die Geschichten sind modern, geradezu erschreckend, zugleich fehlt ihnen alles Zeitgeistige. Es geht nicht um den persönlichen Glücksanspruch, es geht nicht um persönliches Liebessehnen. Die Figuren bewegen sich in einer Welt, die bestimmte Grenzen und Grenzsetzungen aufgegeben hat, ohne daß man so richtig verstehen kann, was man dafür eingehandelt hat. Geblieben ist das Individuum, das die Erinnerungen sozusagen als Fessel an einem Fuß tragend, nicht so recht weiß, wohin es den anderen Fuß setzen soll. So wandert es weiter, halb entschlossen, halb zerrend, aber immer unsicher, fragend, durch eine Welt, deren Konturen wie von einem leichten Dunstschleier bedeckt nie mit letzter Schärfe sichtbar werden. Erzählt wird ohne jede Ironie, dafür mit einem selten gewordenen Respekt vor dem menschlichen Wesen.


    Die leicht verschwommen Konturen geben den einzelnen Geschichten nicht selten einen fantastisch-unheimlichen Ton. Ein eigentümliches Schaudern durchzieht den Text, bei dem man nie sicher ist, was es ausgelöst hat. Die Angst vor der Freiheit oder die Angst vor dem Absturz ins grenzenlose Nichts? Oder steckt hinter allem die Angst vor dem endgültigen Verlust der Träume?


    Damit lösen die Geschichten sich letztlich auch aus dem engeren Zusammenhang mit der Geschichte der DDR und werden übertragbar. Der Verlust einer Heimat ist der Auslöser für Erzählungen über den Verlust einer bestimmten Art von Vergangenheit, die DDR wird zum Beispiel für andere Orte und Zeiten des 20. Jahrhunderts. Der kleine Band ist nicht ausschließlich DDR-Bewältigungsliteratur.


    Auch als Leserin bliebt man zunächst wie in einem Nebelland zurück. Die einzelnen Geschichten sind so unterschiedlich, gehen mit dem Thema unter so verschiedenen Blickwinkeln um, daß man erst am Ende merkt, wie sorgfältig sie für diese Sammlung ausgewählt und zusammengestellt wurden. Dieser Band ist kein bunter Eintopf, sondern eine Komposition. Man ist gut beraten, eine lange Lesezeit anzusetzen, man kann die einzelnen Geschichten nicht ohne Schaden hintereinander weglesen.


    Überraschend, an manchen Stellen geradezu atemberaubend, durchdacht und zugleich rätselhaft, intelligent, sensibel, menschlich, humanistisch, poetisch und zugleich alltagsnah, ein wenig abseitig, ein bißchen wild, nicht leicht zugänglich, so ganz anders als gewohnt.
    Das Überraschendste daran ist, daß deutsche Literatur immer noch so sein kann.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus