Liebeslinien - Marjaleena Lembcke

  • Aulikki hat sich auf den Posten einer Beobachterin zurückgezogen. Das, was die anderen als ‚Das Leben’ bezeichnen’ verunsichert sie bis zur Verstörung. Wie können andere so sicher wissen, was sie tun, was sie fühlen und welche Folgen das alles hat? Wie kann man überhaupt etwas wissen? Aulikkis Welt ist weiß wie ihr Zimmer, Wände, Decke, Möbel. Aber da liegt auch die rote Tagesdecke ihrer Mutter, die starb, als Aulikki zehn war.


    Aulikki hat die Schule abgebrochen, aber als ihr Sommerjob als Eisverkäuferin zu Ende geht, beschließt sie abrupt, nach Helsinki zu ihrer Tante zu ziehen, um doch noch die Schule abzuschließen. In Helsinki angekommen, aber zögert sie wieder. Die ihr eigene Haltung, eine Mischung aus Aufgeschlossenheit, Unbefangenheit und ihrer Weigerung, Urteile zu fällen, bringt ihr Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen ein. Nicht wenige davon sprechen von Liebe, auf die Aulikki neugierig, aber innerlich unberührt reagiert. Das ändert sich, als sie Sauli trifft, den Maler, Fotografen und Jazzfan. Auf einmal ist die Welt rot und nicht mehr weiß. Ausgerechnet Sauli aber beweist ihr, daß nichts sicher ist, kein Wort, kein Gefühl. Am allerwenigsten die Liebe.


    ‚Liebeslinien’, mehr eine Erzählung als ein Roman, ist eine außergewöhnliche Geschichte über einen außergewöhnlichen Charakter. Der Grund für Aulikkis Verhalten erschließt sich nur langsam, die Hauptfigur erklärt sich der Leserin ebenso zögernd, wie sie selbst ihre Bereitschaft entwickelt, die Welt anzunehmen. Aulikki kann zunächst nur geben, sie weigert sich lange, auch zu nehmen, eine auf den ersten Blick altmodisch anmutende Einstellung. Aber es geht hier um mehr als den aktuell lauthals proklamierten Anspruch auf die Erfüllung persönlicher Glücksansprüche. Es geht um Formen der Liebe, die wie Wege und Straßen eine Art Landkarte bilden, auf der sich Menschen bewegen und ihnen folgen, je nachdem, wie sie lieben.


    Aulikki ist alles andere als naiv, sie ist zeitweise eher unberührbar, einem Märchenwesen gleich. Das macht sie einerseits großmütig und freigebig bis zur Selbstaufgabe, verhindert aber auch die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit. Lembcke gelingt es ausgezeichnet, diesen Schwebezustand aufrechtzuerhalten.
    Obwohl in der Geschichte oft vom Tod die Rede ist und Aulikki am Ende tatsächlich zum klassischen Mittel der Verzweiflung greift, ist sie keineswegs traurig, schwermütig oder auch nur sanft melancholisch. Tod, Verlassenwerden und Trauer gehören zum Leben. Und das ist gut. Selbst die Anekdote aus dem zweiten Weltkrieg, die eine alte Frau erzählt, handelt von einer Geste echter Menschenliebe eines deutschen Offiziers. Es ist gerade Aulikkis grundsätzlich offene Einstellung gegenüber dem Leben, die diese Anekdote hervorlockt.


    Wegen des Alters der Protagonistin, die zu Beginn siebzehn und am Ende ca. 19 Jahre alt ist, gilt das Buch als Jugendroman. Auch die sparsam eingesetzte Sprache mag zu diesem Urteil verführen. Es ist falsch. ‚Liebeslinien’ ist eine sprachlich wie denkerisch sehr ausgefeilt ausgearbeitete Erzählung über die vielfältigen Beziehungen von Menschen untereinander. Angesiedelt im Helsinki der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, weist sie in ihren Kernaussagen weit darüber hinaus. Aulikkis staunender Blick auf die Menschen begleitet eine noch lange nach Beendigung der Lektüre.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus