Wie hintergründig Tellkamp doch schreiben kann: Beispielsweise die kleine Szene Seite 186, die Schüler bleiben vor der Schauvitrine stehen, man wundert sich, wen sie denn bestaunen – Gorki, vielleicht doch die Trompete oder den Brief; aber nicht doch, ein Komma trennt es ab, das Wunderwerk der Natur, den Achat, der zum Stehenbleiben zwingt. Schön finde ich das, und schön dargestellt. Oder seine Bilder, gleich zu Beginn dieses Abschnitts beispielsweise: Da „tröpfelt“ die Sonne über Berge (Seite 187). Mir kommt immer dieser Ausdruck aus der Ouvertüre in den Sinn „die süße Krankheit Gestern“ - gehört dazu auch die Sprache, so schön, nicht zuckersüß, sondern honig-würzig süß kommt sie mir hin und wieder vor, und doch ist so viel Bitteres darin, so viel beschreibt sie, was nur schöne Fassade ist, Potemkinschen Dörfern gleich scheinen mir manche Vergleiche, manche Bilder, manche Sätze – das Gestern nimmt sie auf, scheints mir. Das im Roman dargestellte Heute muss sie ja nicht, wohl zu offensichtlich kommt diese Krankheit daher, nicht nur im Osten, der Westen sollte sich da nicht ausschließen, und doch kaschiert sie manches, deckt sie ein wenig zu, die Sprache, will nicht zu brutal, nicht zu nüchtern sagen, was zu sagen ist, und macht es doch so deutlich.
Ach je, Verzeihung, das ging mir so durchs Hirn; hoffentlich verstehe nicht nur ich es.
Kapitel 17 ist ziemlich entlarvend: Da ist man mutig, aber nicht mutig genug (Verena), da haut man drein, wenn man man sich sowieso stark weiß und die eigene Position noch weiter ausbauen muss und den „Gegner“ zudem schwach weiß (Swetlana – bei dem Namen machte sich bei mir zum ersten Mal ein wenig Unwillen breit: suggeriert der Name nicht von Anfang an, welche politische Position sie einnimmt, macht er es mir nicht zu einfach bei diesem Roman, der erarbeitet werden will? – und prompt kommt ein bisschen Misstrauen, was Tellkamp wohl mit dem Mädchen Swetlana noch vorhat).
Kapitel 18 hat in mir so etwas wie Beklemmung hervorgerufen. Die Szene, die von der Assistentin und der geerbten Guarneri erzählt, erinnerte mich so fatal an die Art und Weise, wie die Nazis die jüdische Bevölkerung um ihr Geld, ihr Vermögen brachte. Ziemlich irritiert hat mich ja Obergutachter-Szenerie: Da müssen Schriftsteller zensieren? Und dann noch ein Stalinist mit dem schönen Namen Eschschloraque, der scheinbar so freundlich zu parlieren weiß und dann gnadenlos zustößt, das ist nicht nur Goethe-Schule, in die er gegangen ist...
Gefallen haben mir aber die Gerüche, die aus den Schlüssellöchern „schlendern“ (Seite 212) – der Mann (Tellkamp) weiß mir die Augen zu öffnen.
Seite 233: Der Herr Baron ist „von“, ein seltsames Gutherrengehabe legt er an den Tag. Da muss ich doch glatt an Seite 209 denken, an die „Gleichheit aller Bürger“, aber gut, da ging es um das „Gesetz“ und nicht um eine Veranstaltung eines vielleicht etwas elitären Klubs. Aber elegant ausladen kann er (Seite 255, vorletzter Satz).
Dr. Kittwitz Verbitterung (Seite 245, 246) kann man gut verstehen.
Kapitel 20: Ich verneige mich vor Tellkamps Kunst, diese mich so abstoßende Szene derart dargestellt zu haben: Da weiß man, wer etwas zu sagen hat, und wer sagen kann, was er will, es spielt eh keine Rolle, also muss man den genauen Wortlaut gar nicht kennen. Armer Bürger Richard, jetzt sitzt er ganz schön in der Klemme.
Das 21. Kapitel gefällt mir wieder sehr gut, besonders die Seite 272 bis 275 haben es mir angetan, das genaue Schauen, das genaue Benennen. Christian hat gute Lehrer, die ihn vielleicht hin und wieder doch überfordern. Was dem mit seinen 17 so alles durch den Kopf geht; sein Gedächtnis ist jedenfalls bewundernswert. In Kapitel 22 lernen wir Tante Barbara besser kennen – mir scheint, die Dame darf man nicht unterschätzen.