Kurzbeschreibung
(wie üblich per amazon.de)
Vielleicht liegt es an der Weite der kanadischen Landschaft, in der sie geboren wurde, fest steht, Anne Michaels ist eine unvergleichliche Kartographin des menschlichen Gefühls. Ein Jahrzehnt haben die begeisterten Leser der Fluchtstücke auf ein neues Buch von Anne Michaels warten müssen - nun werden sie belohnt mit einem Roman von außergewöhnlicher poetischer Kraft, mit einer großen Liebesgeschichte. Sie begegnen einander in einem Fluss ohne Wasser. Jean durchstreift das verwaiste Bett des St.-Lorenz-Stroms, sammelt Pflanzen, letzte Zeugnisse einer Landschaft, die es so nicht mehr geben wird. Niemand weiß das besser als Avery, der als Ingenieur maßgeblich an der Flussbegradigung beteiligt war, und nun erst schuldbewusst die Tragweite des Eingriffs ermisst. Sie begegnen sich - es ist Liebe auf den ersten Blick. Und als Avery zu einem neuen Auftrag gerufen wird, gehen sie gemeinsam nach Ägypten, leben in einem Hausboot auf dem Nil, der hier bald zum gewaltigen Nassansee gestaut werden soll. Averys Aufgabe ist es, den Abu Simbel Tempel zu versetzen, zu bewahren vor dem Versinken in der künstlichen Flut, der ganze Dörfer zum Opfer fallen werden. Die Fragwürdigkeit dieses Rettungsaktes im Angesicht von Zerstörung und Vertreibung wird beiden mit jedem Tag deutlicher, doch Jean und Avery finden keine Sprache für ihr Unbehagen. Sie flüchten sich in die Beschwörung ihrer Nähe, ihrer Liebe. Nacht für Nacht erzählen sie einander die Geschichte ihrer Herkunft, ihrer Familien und kommen sich dabei abhanden, noch bevor sie selbst ein schwerer Verlust trifft, der alles verändert. In einer Sprache, deren poetische Intensität ihr Debüt zum Bestseller machte, erzählt Anne Michaels von Vertreibung und Neuanfang, von Trauer und Verlust und der einzig rettenden Macht der Liebe.
Über die Autorin
(dito)
Anne Michaels, geboren am 15. April 1958 in Toronto, unterrichtet Creative Writing an der Universität ihrer Heimatstadt.
Meine Meinung
Ein Wintergewölbe - das erklärt Lucjan Jean im Roman - ist ein Bauwerk aus Ziegeln oder Stein, oftmals mit Messingverzierungen, oder nur ein Holzschuppen, in dem die Toten aufbewahrt werden, solange im Winter der Boden zu hart gefroren ist, um sie zu begraben.
Eine der vielen Metaphern, auf denen dieser Roman ruht: die Toten, die man nicht begraben kann, nicht wirklich, weil die Zeit dafür noch nicht da ist. Flüsse, die man umleitet, zum Nutzen der Menschen - und die man doch durch die damit verbundenen Umsiedelungen entwurzelt und ihnen Leid zufügt. So wie im Krieg Menschen andere Menschen entwurzeln, ent-menschlichen, vertreiben und töten - Tote, die nie wirklich begraben sind.
Was ist dem entgegenzusetzen? Das Leben, die Zeit - und die Liebe.
So in etwa ließe sich die Kernaussage des Buches zusammenfassen, und trotzdem habe ich das Gefühl, damit noch nicht einmal die Hälfte dieses komplexen, vielschichtigen Romans erfasst zu haben.
Die Kurzbeschreibung hört ungefähr bei der Hälfte der Geschichte auf, die übrigens 1964 in Ägypten beginnt. Nach ihrem traumatischen Verlust wendet sich Jean von Avery ab und verlässt ihn. Sie beginnt eine Beziehung mit Lucjan, der Ghetto und Krieg in Warschau überlebt, den Wiederaufbau und den Kommunismus miterlebt hat und nun in Toronto als "Guerilla-Künstler" in einem Kreis von Exilanten und Bohemiens lebt. Und so wie sie sich von Avery dessen Familiengeschichte einst erzählen ließ, ihm ihre eigene erzählte, ist es nun Lucjan, der ihr erzählt, an dessen Seite sie ein ganz anderes Leben führt. Nach der Hitze Ägyptens im eisigen Winter von Kanada. In ihrem eigenen Wintergewölbe.
Der Kontakt zu Avery, dem es nicht mehr genügt hat, Ingenieur zu sein und ein Architekturstudium beginnt, bricht nie ab; sie telefonieren ab und zu und Averys Mutter Marian ist ihnen ein gemeinsamer Bezugspunkt - wenn sie sich dort auch nie über den Weg laufen. Sie leben nur wenige Straßen voneinander entfernt - und doch in zwei verschiedenen Welten, scheinbar ohne gemeinsame Zukunft.
In diese Rahmenhandlung eingeflochten sind Geschichten - diejenigen von Averys Eltern, von den Eltern Jeans. Kindheitsgeschichten der beiden, Geschichten von ihrem Heranwachsen. Geschichten von Flüssen und deren Umbettung. Lucjans Erlebnisse in Ghetto und Krieg und der Zeit danach, die Geschichten seiner Gefährten. Undundund.
Wie in einem feingewebtem Teppich mit zartem Muster und fließenden Übergängen zwischen den verschiedenen Garnen.
In diesem Buch hat es Textstellen, die sind nüchtern, fast wie aus einem Technikhandbuch, etwa wenn es um die Versetzung des Tempels von Abu Simbel geht, der dem Stausee weichen muss - und trotzdem sind solche Stellen fesselnd zu lesen. Und viele, viele Stellen sind einfach nur voller Poesie, mit Sätzen, die man förmlich auf der Zunge zergehen lassen muss. Mit klugen, nachgerade weisen Sätzen.
Eine meiner Lieblingsstellen aus der englischen Ausgabe (S. 334):
What does a child leave behind? Marina had asked, long ago. We cling to the children's paintings from Thieresienstadt [sic], to a Dutch girl's diary, because we need them to speak for every war child's loss.
Some days are possible, Jean thought, only because of love.
Es ist ein komplexes Buch, das trotz der großen Themen, die es behandelt, erstaunlich leise daherkommt. Kein einfaches Buch, aber einfach ein großartiges.
Ich konnte es kaum aus der Hand legen, so sehr hat es mich in seinen Bann gezogen, mich berührt und zum Nachdenken gebracht.