In der Hoffnung, dass die Einsortierung hier richtig ist:
„Du musst dich schon entscheiden, was du willst“ pflegte mein Vater immer zu sagen. Nun, letztens beim Besuch des Lieblingsbuchhändlers war eine sonderlich langwierige oder tiefschürfende Überlegung nicht notwendig, denn wenn eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen ein Buch über einen meiner Lieblingsdichter schreibt, dann gibt es für mich weder Zögern noch Zweifeln, dann weiß ich genau, was ich zu tun habe.
Muss ich über die Autorin noch etwas sagen?
Diese Frage beantworte ich mir spontan selber mal mit einem entschiedenen „nein“.
Über das Buch verrät die Innenklappe des Schutzumschlages:
Als der Sohn eines Handschuhmachers 1564 in dem kleinen Ort Straford-upon-Avon geboren wird, ahnt noch keiner, dass er der Verfasser jener unsterblichen Stoffe und Stücke werden soll, die uns heute noch erheitern, begeistern und in ihren Bann ziehen. Bei einem Tod hinterlässt uns William Shakespeare 36 Dramen, zwei Versepen, 154 Sonette und jede Menge Fragen und Antworten.
Shakespeare ist der meistgespielte Bühnenautor der Welt. Keinen anderen Dichter zitieren wir so häufig – oft ohne es zu wissen. Immer wieder werden seine Stücke für Neuverfilmungen aufgegriffen und mit großem Erfolg in die Kinos gebracht. Shakespeare und kein Ende also?
In äußerst unterhaltsamer Weise spürt Charlotte Lyne dem „Geheimnis“ dieses genialen Mannes nach, der sich stets mit den zentralen Fragen des menschlichen Seins beschäftigt hat: Liebe, Eifersucht, Rache, Intrigen, Betrug und Selbstzweifel. Dinge also, die nie aus der Mode kommen. Seine Gestalten haben längst die Bühne verlassen und geistern durch die Welt, durch unsere Köpfe und Herzen: Romeo und Julia, Hamlet, Othello, Lady Macbeth, König Lear, die zarte Ophelia und die widerspenstige Kate.
Dieses Buch zeigt William Shakespeare in seiner ganzen Fülle und Aktualität.
Zu diesem Buch habe ich natürlich eine Meinung,
ob ich sie so in Worte fassen kann, dass sie verständlich ist?
„Video et taceo“ (Seite 50) – allen guten und gütigen Mächten sei Dank hat sich Charlotte Lyne an dieses Motto nicht gehalten. In 14 Kapiteln mit diversen Unterkapiteln und einem Anhang erzählt die Autorin über Leben und Werk eines der berühmtesten, genialsten und vielleicht immer noch geheimnisvollsten Dichter, den diese Welt je sah. Von seiner Herkunft, den Eltern, den Geschwistern, seiner Ehefrau bis zur Ankunft in London, dem Leben dort, dem Schreiben, den Stücken, den Gönnern wird berichtet, der ganze Kosmos namens Shakespeare wird ausgebreitet – und zwar mit einem Können, in einer so wunderbaren Sprache, der Stil und der (Wort-)Witz der Charlotte Lyne sprühen, funkeln, machen mich atem- und sprachlos. Wenn ich es ja nicht so viel besser wüsste nach so überaus geliebten Büchern wie „Die zwölfte Nacht“, „Das Haus Gottes“ und „Allein aus Gnade“, ich würde fast glauben wollen, der Genius des „Bauernbengel aus Stratford“ (Seite 7) hat auch sie in jene sprachliche Sphären geführt, die jedenfalls für mich (und wohl für die meisten von uns) unerreichbar sind. Aber, wie gesagt, ich weiß es ja besser – und darum glaube ich, dass dieses Buch ein weiteres ihrer Meisterwerke ist, entstanden eben aus ihrem ganz eigenen Genius.
Als sehr schöne Geste habe ich es empfunden, als Leserin immer wieder „ganz persönlich“ angesprochen zu werden.
Die Darstellungen des tagtäglichen Lebens im London der damaligen Zeit, die politischen, religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse werden erläutert. Das ist nicht einfach so dahin geschrieben, ich hatte bei jedem Satz das Gefühl, ich bin dabei gewesen. Stand ich nicht mit auf der Bühne? Habe ich nicht mit in einem der kargen und ärmlichen Wohnungen gesessen und dem Dichter beim Aufschreiben seiner Werke über die Schulter geschaut? Habe ich nicht voller Angst die Pest und ihre Opfer gesehen? Den schönen Southampton angestarrt? Mich mit Marlowe gemessen? Doch, all das habe ich, ich war dabei, ich war mittendrin.
Spannend die Exkurse über die englisch Reformation, das elisabethanische Theater und natürlich erst recht über James I. Vieles ist jetzt klarer und will weiter vertieft werden. Für mich sind die Bücher, die mich auffordern, weiter zu lesen, weiter nach Spuren bestimmter Menschen oder Ereignisse zu suchen, eigentlich die schönsten, die wertvollsten – und mit „Alles über Shakespeare“ habe ich einiges an die Hand bekommen, was des Weiterforschens lohnt. Die Ausführungen der Autorin zu einigen Stücken des großen Barden haben manches in mir zum Klingen gebracht, haben unendlich viel besser ausgedrückt, was ich nur halbwegs angedacht habe. Beispielhaft möchte ich hier „Der Widerspenstigen Zähmung" nennen. Zu der für mich bittersten Komödie, nämlich „Der Kaufmann von Venedig“ hätte ich so gerne mehr erfahren. Aber wie sollte ich undankbar sein angesichts der Fülle, die dieses Buch bietet. Mehr als lehrreich und zu einem wahrhaftigen Aha-Erlebnis führend war das Kapitel „Shakespeares Sprache“ für mich.
Die Ausstattung des Buches ist nicht weniger als opulent zu bezeichnen. Ein großzügiger, sehr augenfreundlicher Druck, viele Darstellungen, seien es Gemälde, Fotos, Stiche, Zeichnungen, immer wieder Zitate, nicht nur aus Shakespeares Werken, dazu ein sehr schöner Anhang unter anderem mit einer Zeittafel und einer Leseempfehlungsliste. Ein Lesebändchen hätte allerdings dabei sein dürfen. Sein Fehlen empfinde ich bei einem Buch dieser Klasse (und auch Preisklasse) schon als wirkliches Manko.
An dem Buch kann ich nur einen Mangel erkennen, na gut, wenn ich das fehlende und schmerzlich vermisste Lesebändchen dazu zähle, dann sogar anderthalb: Das Buch ist definitiv zu kurz. Ich hätte so gerne noch weiter gelauscht, wenn mir Charlotte Lyne noch mehr erzählt hätte. Und das sie noch das eine oder andere zu sagen gehabt hätte, davon bin zumindest ich überzeugt.
In einem heimlichen Traum habe ich mir vorzustellen versucht, wie es wohl gewesen wäre, hätte Charlotte Lyne zu Shakespears Zeiten gelebt und geschrieben. In meiner Vorstellung hätte sie – auch wenn ich mal davon absehe, dass zu jener Zeit Frauen nicht die Möglichkeiten hatten wie Männer – zu Mr. Shakespeare durchaus in Konkurrenz treten können, und ich denke mir auch, er hätte sie sehr ernst genommen. Wer weiß, zu welchen Geniestreichen sie sich gegenseitig angestachelt hätten? So bleibt mir statt dem schönen Traum die Wirklichkeit, das Hier und Jetzt, das Warten auf die nächste Aufführung eines meiner Lieblingsdichter im Theater und auf das nächste Buch einer meiner Lieblingsschriftstellerinnen. Für mich bleibt bis dahin nur der Besuch bei meinem Lieblingsbuchhändler.
Gäbe es die Möglichkeit, so würde ich diesem Buch zehn funkelnde Sterne, zehn strahlende Diamanten, zehn duftende Rosen geben. So bleiben mir nur zehn profane Punkte zu verteilen, aber die bekommen Charlotte Lyne und das Buch dargebracht mit einem tiefen Knicks, ein ganz klein wenig tiefer, als wenn ich vor Elisabeth I. hätte knicksen müssen.