Debatten zwischen Theisten und Atheisten haben bei den Eulen inzwischen eine gewisse Tradition - auch, was ihren Verlauf anbetrifft. Ausgehend von tagesaktuellen Ereignissen oder Buchbesprechungen treten die üblichen Protagonisten auf den Plan, wiederholen gebetsmühlenartig in leichter Variation altbekannte "Argumente", um dann früher oder später an einem Punkt anzukommen, an dem einem oder mehreren Disputierenden die "Verletzung religiöser Gefühle" attestiert und persönliche Beleidigung unterstellt wird. Offenbar ist es, nebenbei bemerkt, ohnehin so, dass Glaubende jedwede Kritik an ihrer Weltanschauung sehr viel persönlicher nehmen als Nichtglaubende, aber diese Diagnose mag zu subjektiv sein (und ganz gewiss darf sie nicht verallgemeinert werden). Jedenfalls ist nach meiner Erinnerung der umgekehrte Fall noch nie eingetreten, also derjenige, dass ein Atheist plötzlich behauptete, seine (humanistischen?) Gefühle seien durch die Argumentationsweise der "Gegenseite" oder die Tatsache, dass sie überhaupt argumentieren würde, verletzt worden. Sondern höchstens sein Intellekt.
"Religiöse Gefühle". So, so. Das ist eine sehr interessante, bemerkenswerte Begrifflichkeit. Gefühle kann man definitiv verletzen, unbeabsichtigt oder vorsätzlich, und das ist schlecht. Vor allem aus der Sicht desjenigen, dessen Gefühle verletzt werden. Wenn ich traurig bin, weil einem Angehörigen ein Bein amputiert werden musste, und jemand erzählt in meiner Gegenwart irgendeinen blöden, steinalten Witz, bei dem es um gute und schlechte Nachrichten eines Arztes an einen Amputationspatienten geht, verletzt das meine Gefühle. Wenn der Witzeerzähler auch noch wusste, was geschehen ist, geschieht das absichtlich. Es ist anzunehmen, dass sich mein Trauergefühl in dieser Situation verstärkt, dass gerade anheilende Wunden aufgerissen werden. Leute, die derlei absichtsvoll tun, möchte ich gerne "Arschlöcher" nennen dürfen. Aber es spielt eigentlich keine Rolle, ob es absichtlich oder versehentlich geschieht. Witze sind auch Ventile, sie verbinden nicht selten Schreckliches mit befreiendem Gelächter, was einen gewissen Ausgleichscharakter haben kann. Manch einem fährt der Schreck in die Glieder, wenn der nostalgische Otto-Waalkes-Spruch "Tumor ist, wenn man trotzdem lacht" fällt - ein Spruch, der damals übrigens einen kleinen Skandal ausgelöst hat. Seinerzeit war es, wenn ich mich recht erinnere, eine Krebspatienten-Selbsthilfegruppe, die der ganzen Angelegenheit den Wind aus den Segeln nahm, in dem sie meinte, den Spruch einhellig lustig gefunden zu haben. Natürlich ist Krebs nicht lustig, sondern ein tragisches Schicksal, das nicht selten mit einem frühen Tod endet. Aber das Lachen wird diesen Tod nicht beschleunigen, möglicherweise allerdings verlangsamen. Lachen ist eine Medizin, das steht unumstritten fest. Und auch geschmacklose Witze sind manchmal therapeutisch geeignet. Was man gut und was man schlecht findet, ist Geschmackssache. Ups, so weit sollte dieser Exkurs allerdings nicht führen.
Gefühle - Emotionen - sind Ergebnisse komplexer körperlicher und bzw. psychologischer Vorgänge. Emotionen sind Freude, Lust, Angst, Trauer, Wohlempfinden, Ärger undsoweiter. Wer in welcher Situation welche Gefühle empfindet, ist schwer vorherzusagen. Eine spannende Szene in einem Horrorfilm mag in vielen Kinobesuchern Ängste auslösen, aber auch einige zum Lachen bringen. Einer ärgert sich über einen fallenden DAX, der andere freut sich, und zwar nicht notwendigerweise abhängig davon, dass einer oder beide in DAX-Werte investiert haben. Ein Mensch sieht ein neugeborenes Lämmchen und bricht in Rührungstränen aus, der andere verspürt lediglich Hunger. Während ein Mensch freudig in den neuen Tag aufbricht, weil die Sonne scheint, vermag sie die Depressionen des anderen nicht zu vertreiben. Gefühle, Emotionen, sind individuell und von subjektiven Faktoren bestimmt, deren Auslöser und Vermittler kaum generalisiert werden können.
Nicht so "religiöse Gefühle". Diese neuzeitliche Kategorisierung ist weit mehr als nur ein rhetorischer Kniff, obwohl das möglicherweise ursprünglich ihr Zweck war. Wer Glauben kritisiert, und zwar weitgehend unabhängig davon, ob mit harten oder weniger harten Worten, riskiert heutzutage fast zwangsläufig, jemanden auf den Plan zu rufen, dessen religiöse Gefühle dadurch verletzt wurden. Was aber ist das, ein "religiöses Gefühl"?
Nach meinem Verständnis ist damit die Übertragung von allgemeiner Kritik auf die glaubende Person gemeint, und also eine Automatismus. Wer die Grundsätze irgendeines Glaubens zum Beispiel als "Unsinn" bezeichnet, weil er feststellt, dass sie jedweder Evidenz entbehren und offensichtlich auf sehr erfolgreichen, nichtsdestotrotz der Phantasie entsprungenen Mythen beruhen, kritisiert und beleidigt damit automatisch jeden, der diesem Glauben anhängt. Hierin unterscheiden sich theistische Weltanschauungen auf dramatische Weise zum Beispiel von politischen. Kaum ein Marxist wird sich in seinen "politischen Gefühlen" verletzt sehen, wenn man ihm erklärt, dass man einen seiner Grundsätze, nämlich die unbedingte Herrschaft des Proletariats, für ziemlichen Dünnpfiff hält. Er wird, ganz im Gegenteil, mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine energische Diskussion und für seinen Standpunkt eintreten. Oder er wird einem den Vogel zeigen und erklären, dass alles andere doch wohl noch größerer Schwachsinn wäre, wie sich übrigens auch gezeigt hätte. "Politische Gefühle", obwohl auch mit - zuweilen ziemlich stark verinnerlichten - Grundsätzen verbunden, sind meiner Beobachtung nach längst nicht so leicht zu verletzen wie religiöse. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass es sie überhaupt nicht gibt, die "politischen Gefühle". Jedenfalls nicht in verletzbarer Qualität.
Religiöse Weltanschauungen aber, und hier hinkt der Vergleich natürlich, sind deutlich lebensbestimmender als politische. Der Marxist mag es sich trotzdem in unserer marktwirtschaftlichen Welt bequem machen, vielleicht genießt er sogar den Luxus, links reden und rechts leben zu können, wie man so schön sagt. Offen gestanden nehme ich sogar an, dass nicht wenige Marxisten redliche Angst vor einer tatsächlich marxistischen Welt hätten, aber das ist ein Randaspekt.
Die Entscheidung für Gott geht sehr viel weiter als eine politische Einstellung, die man gerne auch mal wechselt, wenn sich die Zeiten ändern. Wer die Regeln einer Religionsgemeinschaft für sich akzeptiert und sie nicht nur als Sonntagschrist lebt, führt ein grundsätzlich anderes Leben als ein naturalistischer Hedonist. Viele Regeln müssen eingehalten, viele Rituale befolgt werden, abhängig von Konfession oder Spielart des Monotheismus'. "Glaube" bedeutet, mit möglichst absoluter Gewissheit anzunehmen, dass jener Gott existiert und dass die Entscheidung für ihn die richtige war. Glaube ist auch Verzicht, und zwar nicht notwendigerweise in negativer Konnotation. Deshalb hat diese weltanschauliche Entscheidung, ob sie nun bewusst getroffen oder geerbt wurde, sehr viel mehr mit Gefühlen zu tun als zum Beispiel eine für die Bundestagswahl am nächsten Sonntag. Der Glaube muss nach außen und vor sich selbst gerechtfertigt werden, standhalten. Die Versuchungen sind groß, die Gesellschaft ist (weitgehend) säkular, Werbung, Medien und Öffentlichkeit scheren sich wenig um die Grundsätze der widerstreitenden Religionen. Eine säkulare Welt macht es Gläubigen schwerer, ihren Glauben zu leben. Sie macht es auch schwerer, ihn glaubhaft zu vertreten, zu transportieren, weiterzugeben. Verkürzt gesagt: Sie beleidigt den Glauben mehr als ihn zu respektieren. Eine Welt, die durch Glauben bestimmt ist, sähe anders aus.
Und nun kommen diese atheistischen Furzköppe daher und hören nicht damit auf, alles noch stärker in Frage zu stellen, beanspruchen Werbeflächen (s.u.), verkaufen gottlose Bestseller, drucken ferkelige Kinderbücher, verhöhnen heilige Figuren und Rituale. All dies geschieht, so könnte man meinen, ausschließlich, um Gläubige zu beleidigen. Während die Religion früher in unseren Breitengraden und heute immer noch in vielen Ländern der Erde Unantastbarkeit genoss, sehen sich ihre Anhänger einer respektlosen Missachtung ihrer Grundsätze ausgesetzt. Plötzlich scheint es fast schick zu sein, Glauben als Unsinn zu bezeichnen, oder wenigstens seine Fundamente (was m.E. schwerer wiegt), und immer lautstärker nach seiner Verdrängung aus der Öffentlichkeit zu rufen.
Kein Wunder, dass da so mancher verletzt reagiert oder ist. Nur - sind das "religiöse Gefühle", die da verletzt werden? Oder geht es nicht um andere Dinge, etwa Verlustängste, Zweifel, gar Panik? Um persönlichen Leidensdruck, weil es noch schwerer fällt, den Glauben zu leben? Also, anders gesagt: Sind diese "religiösen Gefühle" tatsächlich religiös?
Denn: All dies gilt umgekehrt auch. Während die Religion das weltanschauliche Gefüge des Abendlandes lange bestimmte, und Atheismus bestenfalls als exotische Randerscheinung auftrat, selten in der Öffentlichkeit gepflegt, blicken also jene, die sich für eine naturalistische Weltsicht entscheiden, auf eine vergleichsweise kurze Tradition des Erfolgs zurück. Anders gesagt: Auch diese Entscheidung ist eine mutige, eine, die gegen großen Widerstand und nicht selten gegen große Ängste getroffen wird. Eine Welt, in der immer noch an jeder Straßenecke zwei Kirchen stehen, in der Präsidenten und Würdenträger auf die Bibel schwören, in der Samstagabends Pfarrer das Wort zum Sonntag im öffentlichen Fernsehen sprechen, in der um Religionsunterricht als Pflichtfach gestritten wird usw. usf., macht es nämlich umgekehrt auch nicht leicht, sich gegen eine Masse zu entscheiden, die in nicht wenigen Ländern die Mehrheit darstellt. In den US of A glauben mehr als siebzig Prozent der Menschen felsenfest an ihren persönlichen, christlichen Gott. Insofern hat diese Weltanschauung, die nicht wirklich a-theistisch ist, sondern eher theismusfrei, auch etwas mit Gefühlen zu tun, denn die lange Zeit eingeimpften Ängste vor dem allmächtigen Gott, die selbst in nachlässig christlichen Familien gerne als Erziehungselement eingesetzt wurden, müssen auch erst einmal niedergekämpft werden. Also gibt es eigentlich auch, verkürzt gesagt, "a-religiöse Gefühle". Oder "naturalistische". Trotzdem hantiert diese Seite eher selten mit diesem Aspekt. Weil irrationale Argumente keine sind, und jenes um die "weltanschaulichen Emotionen", dessen Erreichung mal früher oder später eintritt, ist bestenfalls ein Totschlagargument. Ein Zeichen dafür, dass man lieber überhaupt nicht diskutieren würde - meiner Beobachtung nach.
Uff. Anlass für dieses, möglicherweise etwas wirre, Traktat ist übrigens eine Anmerkung im "Spaghettimonster"-Thread (Buchbesprechung). Jemand hat dort auf die Buskampagne hingewiesen. Diese wurde von vielen deutschen Nahverkehrsbetrieben abgelehnt, um keine "religiösen Gefühle" zu verletzen. Dazu gibt es hier:
http://www.wend.de/2009/04/15/…verhoehnung-von-christen/
einen sehr bemerkenswerten Blogeintrag, der mittelbarer Auslöser für dieses Posting war. Hinzukam eine PN, dessen Verfasser sicher weiß, dass er gemeint ist.