Vergebung ist ein Konzept, das jeder versteht - bis er gebeten wird, es zu definieren. (Seite 158)
Die Gnade der Amish. Wie Vergebung Tragödien überwindet
256 Seiten, Softcover
mit einem Anhang „Die Amish von Nordamerika“
Originaltitel: Amish Grace. How Forgiveness Transcended Tragedy
Aus dem Amerikanischen von Gislinde Müller
Verlag: VCH Wiley Verlag, Weinheim, 2009
ISBN-10: 3-527-50447-8
ISBN-13: 978-3-527-50447-3
Mit dem gleichen Ereignis beschäftigt sich das Buch "Think No Evil" von Jonas Beiler with Shawn Smucker (in englischer Sprache).
Kurzinhalt / Klappentext
Es beginnt mit einem schrecklichen Verbrechen. Ein Mann dringt in eine Schule ein und tötet fünf Mädchen zwischen sechs und dreizehn Jahren und schließlich sich selbst. Die Mädchen waren Amish.
Die Autoren haben kein Buch geschrieben, das von der Bestrafung des Täter oder seinen Motiven handelt. Es geht darum, wie die Amish mit Tat und Täter umgingen. Sie vergeben dem Mann öffentlich, besuchen seine Beerdigung und laden seine Witwe zum Begräbnis ihrer Kinder. Außergewöhnlich? Nicht für die Amish. Die Autoren zeigen, wie wichtig Vergebung für die Amish ist, sie zeigen, daß die Reaktion auf das Massaker Regel und nicht Ausnahme war. So beschreibt das Buch eine Kultur uns nah und doch fremd, eine Kultur, die wir belächeln, obwohl sie und nicht wir, es schafft, mit Vergebung die Spirale der Gewalt zu durchbrechen.
Über die Autoren
Donald B. Kraybill lehrt am Elizabethtown College, Pennsylvania. Er schrieb zahlreiche Bücher über die Amish und gilt als einer der ausgewiesensten Kenner der Amish.
- < Klick > - hier der Eintrag im englischen Wikipedia
- < Klick > - hier seine Seite auf der Website der Universität (in englischer Sprache (mit Links zu seinen Büchern, curriculum vitae u. a. m.)
Steven M. Nolt ist Dozent für Geschichte am Goshen College und Spezialist für die Geschichte der Amish.
David L. Weaver-Zercher ist Dozent für Religionsgeschichte.
- < Klick > - hier die Kurzinfo über ihn auf der Website des Messiah College, Grantham/PA
Webseiten / Informationen über die Amish
- < Klick > - hier der Eintrag zum Massaker im englischen Wikipedia
- < Klick > - hier eine Information auf „Religious Tolerance“ über dieses Massaker (in englischer Sprache)
- < Klick > - der deutsche Wikipedia-Artikel
- < Klick > - der englische Wikipedia-Artikel
- < Klick > - der deutsche Wikipedia-Artikel über die Mennoniten
- < Klick > - in englischer Sprache ein Artikel über die Amish auf einer Website für religiöse Toleranz in Nordamerika.
- < Klick > - die Seite der Zeitschrift Amish-Heartland (in englischer Sprache)
- < Klick > - hier noch die Site Amish-Net, eine Informations- und Übersichtsseite. Gedacht als Information von den Amish über die Amish selbst sowie als Wegweiser zu Firmen, die Produkte der Amish vertreiben.
Meine Meinung
Natürlich sind die Amish nicht auf eine Katastrophe solchen Ausmaßes vorbereitet. Es sei denn, sie sind es.
In diesem Paradox (formuliert nach Seite 28) läßt sich die Quintessenz des Buches zusammenfassen. Niemand ist darauf vorbereitet, sein Kind morgens zur Schule zu schicken und mittags im Leichenwagen abzuholen. Daß die Amish es dennoch waren, liegt tief in ihrer jahrhundertealten Tradition begründet.
“Ich bin wütend auf Gott uns muss ein paar christliche Mädchen bestrafen, um mit ihm abzurechnen.“ (Seite 41). Dies hat der Attentäter Charles Carl Roberts IV über sein Motiv ausgesagt. Er war „wütend auf Gott“, weil vor neun Jahren sein Baby gestorben war.
Eine Familie verlor zwei Töchter. Die achtjährige Mary Liz, die zum Christiana Hospital gebracht worden war, starb kurz vor Mitternacht in den Armen ihrer Mutter. Ihre Eltern wurden dann elf Kilometer nach Nordwesten zum Hershey Medical Center gefahren. Dort starb Lena, die Schwester von Mary Liz, ebenfalls in den Armen ihrer Mutter. (Seite 44).
Bereits wenige Stunden nach den schrecklichen Ereignissen gewährten die Amish Vergebung - dem Mörder wie seiner Familie, die ganz in der Nähe wohnte. Kein Ruf nach Rache oder Vergeltung. Keine juristischen Spitzfindigkeiten, keine Prozesse nach Schadenersatz. Wie ist so etwas möglich? Ist so etwas überhaupt möglich?
“Vergebung bedeutet, dein Recht auf Vergeltung aufzugeben.“ (Seite 146) So drückte es der Vater eines der ermordeten Mädchen aus.
Nach der Beschreibung des Tatherganges widmen sich die Autoren diesen Fragen, und beantworten sie im Laufe des Buches. Ausgewiesene Kenner der Amish, die sie sind, hatten sie entsprechendes Vorwissen, was die Tradition und Verhaltensweisen der Amish betrifft. Für dieses Buch haben sie viele Interviews mit direkt Betroffenen geführt und sich mit der Thematik „Vergebung“ intensiv auseinandergesetzt. Natürlich gab es sehr bald die Meinungsäußerungen von „Experten“ und Psychologen, von einigen Medien ganz zu schweigen, die darauf hinweisen, daß durch zu schnelle Vergebung das erlittene Trauma nicht verarbeitet würde und seelischer Schaden entstünde. Aber haben die wirklich recht?
Im Laufe des Buches legen die Autoren sehr überzeugend dar, daß diese „Experten“ so nicht recht haben. Seit dem Entstehen der Täufer (zu denen die Amish gehören), werden diese überall auf der Welt verfolgt. Von kirchlicher (protestantischer wie katholischer) wie auch staatlicher Seite. Mit unzähligen Todesopfern. So gibt es eine lange Tradition des Martyrertums, die bis in unsere Tage reicht. Die Amish wachsen mit den Geschichten ihrer Martyrer auf, und dem „Konzept“ der Vergebung als integralem Bestandteil ihres Lebens und ihrer Kultur. Denn sie sind der Überzeugung, daß nur dann, wenn sie selbst vergeben, auch ihnen (von Gott) vergeben wird. Im Laufe des Buches wird diese Grundüberzeugung sehr deutlich aus der Geschichte und dem Glauben der Amish herausgearbeitet und beschrieben.
Dabei holen die Autoren ausreichend weit aus, um diese Verhaltensweise nachvollziehbar und verständlich zu machen (so man diese Menschen überhaupt verstehen will). Dabei entsteht ein durchaus differenziertes Bild dieser so ganz anderen Kultur, in der auch die Schattenseiten offen angesprochen werden - auch von Amish selbst.
Was wir sowohl von den Geschehnissen in Nickel Mines als auch ganz allgemein von den Amish lernen können, ist, dass die Art und Weise, wie wir mit Katastrophen umgehen, kulturell bestimmt wird. (Seite 225). Die Kultur der Amish beinhaltet als integralen Bestandteil u. a. die Vergebung. Und unsere?
Was bleibt, ist ein tief sitzender Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft. Einer, der überdeutlich darauf hinweist, daß unsere Art zu Leben und zu Denken nicht die einzig mögliche, die einzig wahre ist. Daß es sehr wohl einen Gegenentwurf gibt, an dem wir uns messen müssen / können. Als Gesellschaft wie als einzelne Menschen. Einen Gegenentwurf, der zur Bestimmung der eigenen Position zwingt, indem er diese radikal infrage stellt. Es ist an jedem einzelnen, auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Doch die Entscheidung liegt bei uns, wie wir uns an etwas erinnern wollen, was wir nicht vergessen können. (Seite 226)
Kurzfassung:
Wie gehen Amish Familien, die Amish Gemeinschaft mit den Folgen eines Massakers an Schulkindern um? Am Fall der Morde vom 2. Oktober 2006 sowie der darauf folgenden Vergebung stellen die Autoren umfassend das Modell der Amish vor, mit dem sie diese Tragödie bewältigt und überwunden haben. Ein Gegenentwurf zu Rache und Vergeltung. Ich wünsche ihm möglichst viele Leser.
Edit hat den ungültigen Verlagslink herausgenommen und einen Link zu "Think No Evil" ergänzt.
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ASIN/ISBN: 3527504478 |