Es beginnt nicht nur vorne, sondern ganz vorne. „Sieh einmal, hier steht er.“, heißt es nämlich bereits auf dem Buchdeckel, aber die Aufforderung ist nicht nötig, man hat ihn schon gesehen, das läßt sich nicht vermeiden. Was sieht man zuerst? Den wilden blonden Schopf? Das knallrote Kinderkittelchen? Oder die Gruselkrallen? Seinen Namen kennen wir auch gleich, er schwingt in harmonischem Bogen aus exakten grünen Blockbuchstaben über die Figur, ein auffälliger Gegensatz zum gleich darunter wuchernden Wildwuchs. Struwwelpeter. Der Name leuchtet ein.
Die Geschichte zu diesem Wilden umfaßt nur acht Zeilen, Ausgangspunkt, Erklärung, Schlußfolgerung. Prägnant, einprägsam, nahezu unvergeßlich, wie der Lauf der Zeit erwies.
Der Text ist wie auf einer Tafel zu lesen, die im Sockel eines Denkmals eingelassen ist. In Reimform schmückt er das Struwwelpeter-Denkmal, zentriert im unteren Drittel des Buchdeckels, seine Ausdehnung an die Seitenmaße der auf dem Sockel stehenden Figur angepaßt. Im Verhältnis der senkrechten und wagrechten Linien der gesamten Seite wurde ein hohes Gleichmaß angestrebt. Zirkel und Lineal waren hier am Werk. Klare Proportionen, Symmetrie und Ausgewogenheit heben die Abweichung im Aussehen der Titelfigur hervor und lassen sie eindrucksvoll lebendig werden. Hier ist nichts langweilig oder steif, obwohl die Figur stillsteht. Sie ist ein Blickfang, man kann sich kaum sattsehen daran. Nicht einmal die intensive Farbgebung von Hellrot und Grasgrün auf zitronengelbem Hintergrund scheint je zu verblassen.
Man hat die Fülle kaum aufgenommen, da ist die erste Geschichte schon vorbei.
Es geht aber gleich weiter, denn wer könnte widerstehen, ein Buch mit einem solchen Einstieg aufzuschlagen? Der Autor läßt eine nicht im Stich. Die zweite Geschichte hat fast viermal soviele Textzeilen und bietet überdies eine Handlung. Der Held heißt Friedrich, er ist ein böser Kerl. Er scheint ein wenig älter zu sein als Peter, denn er trägt keinen Kinderkittel mehr, sondern eine kurze Jacke, Hosen, Hemd und eine Schildmütze. Sein erster Auftritt ist ebenso wild, wie der von Struwwelpeter, aber Friedrich steht nicht bloß da. Richtig beängstigend schwingt er einen halbkaputten Stuhl über dem Kopf. Er zerschlägt Möbel! Er quält Tiere - man kann ihm zusehen! - und manche schlägt er sogar tot. Da liegen sie, die armen Leichen, Taube, Hahn und Katze. Seine Freundin schlägt er auch, schrecklicher Friedrich.
Aber: das Leben schlägt zurück. In einem großen Hund findet Friedrich seinen Meister. Der Hund beißt ihn so heftig, daß sogar der Arzt geholt werden muß. Die Schmerzen und vor allem die eklig bittere Medizin hat Friedrich verdient. So wie der Hund Friedrichs Kuchen und die prächtige Leberwurst. Und den Wein darf er auch haben, Gerechtigkeit muß sein, jawoll.
Zufrieden wenden wir uns dem zu, was uns dieser höchst einfallsreiche Autor als nächstes präsentiert, aber: nun wird’s traurig. Der muntere dicke Kaspar will seine Suppe nicht essen. Und umgehend schmilzt er dahin. Auf dem ersten Bild noch propper und mit roten Wangen, entschwindet er aus dem vorletzten, fadendünn, in Richtung Grab. Dieses ist nicht nur mit einem traurigen Holzkreuz mit Kaspars Namen drauf, sondern mit der Suppenterrine geschmückt statt des üblichen Buketts. Das ist richtig lustig.
Das ist auch gut so, denn nun folgt das pure Grauen. „Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern waren beide aus.“ Ja, Paulinchen mit den schönen braunen Zöpfen und dem schönen grünen Kleid über dem tollen Petticoat, hättest Du nur auf Minz und Maunz, die Katzen gehört. Und die Finger von den Streichhölzern gelassen. Aber es sollte nicht sein. So stehen wir am Ende vor dem Häufchen grauer Asche. Übrig geblieben sind nur die niedlichen roten Schuhe. Wir weinen mit Minz und Maunz, „Und ihre Tränen fließen, wie’s Bächlein auf den Wiesen:“ Wer’s nicht glaubt, kann es sehen, das Tränenbächlein, da läuft’s, hellblau, am rauchenden Aschehäuflein vorbei, rings um die Schuhe herum.
Noch sechs weitere Geschichten hat sich Heinrich Hoffmann ausgedacht, witzig, frech, eine Fabel sogar, in der der Hase dem Jäger die Flinte wegnimmt und selbst schießt - ach, das gönnen wir ihm! Daß am Ende auch noch eine Kaffeetasse zu Bruch geht und sich das Hasenkind jammernd beschwert, ist ein wunderbar abstruser Schlußpunkt.
Wir lernen den Nikolaus in höchsteigener Person kennen, der Wilhelm, Ludwig und Kaspar erbarmungslos ins Tintenfaß tunkt, weil sie einen ‚Mohren’ ausgelacht haben. Sogar Kaspars Brezel wird schwarz, das tut fast weh, auch wenn es gerecht ist. Philipps Erlebnis am Eßtisch läßt das Chaos ausbrechen, so wild und bunt und mitreißend ist die Geschichte erzählt, mehr ein heimlicher Traum, der wahr wird, als ein Beitrag zur Erziehung.
Horror pur gibt es noch einmal mit Konrad, dem Daumenlutscher. Da spritzt Blut und sammelt sich in einer Lache auf dem Boden. Ob sie DaumenlutscherInnen von ihrer Untat abhalten kann? Keine Ahnung. Dafür neckt sie die kleine Voyeurin in uns, weist auf die Faszination hin, die Grauen ausüben kann. Man gruselt sich und kann doch nicht wegsehen.
Hänschen dagegen wird wieder aus dem Wasser gefischt, daß er von drei kleinen Fischen kräftig ausgelacht wird, hat er verdient. Muß der dumme Kerl denn immer in die Luft gucken?
Die Geschichte vom fliegenden Robert dagegen führt schon fast ins Reich der Poesie. Ihre Bilder befinden sich in breiten, verzierten goldenen Rahmen, wie Gemälde in einer Ausstellung. Hoffmann braucht nur drei, um Roberts seltsames Schicksal zu illustrieren, sie werden immer kleiner, in dem Maß, wie die Entfernung zu uns wächst, während der Wind unseren kleinen Helden unter seinem großen roten Schirm in den grauen, nassen Wolken davonbläst. „Wo der Wind sie hingetragen ja, das weiß kein Mensch zu sagen.“
Rätselhaft, märchenhaft ist die Stimmung am Ende.
Daß mir dieses alte Kinderbuch in die Hände fiel, hat seinen Grund nicht darin, daß der Autor in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag feiert. Das ist ein Zufall, wenn auch ein passender. Grund war die Frühlingssonne, die in unverschämter Weise dunkle und vor allem staubige Ecken erhellte. So kommt eine ins Stöbern.
‚Unzerreißbar’ verkündet die Aufschrift, in Blockbuchstaben und dick unterstrichen. Der Verlag, der ehemalige Erlanger Pestalozzi-Verlag, wenn ich das Kürzel richtig entschlüsselt habe, hatte recht mit seiner Behauptung. Am ehesten hat der grüne Leinenstreifen am Buchrücken nachgegeben und die Ecken. Sie wirken etwas angekaut. Sonst aber ist das Buch völlig in Ordnung, man merkt ihm sein Alter kaum an.
Letzteres gilt auch für die Geschichten und Illustrationen. Über 160 Jahre soll das alt sein? Die Sprache ist nur ein winzige Spur altmodisch, die Figuren sind ein wenig putzig gekleidet. Die meisten Kleidungsstücke kommen einer aber vertraut vor, interessant für erwachsene Augen ist, wie bequem und leger sie oft wirken, ideal beim Spielen. Paulinchens Kleid würde einer modernen Mädchenbuch-Prinzessin alle Ehre machen.
Abgesehen von Struwwelpeter und am ehesten noch Konrad, sind die Kinder alle aktiv, in Bewegung. Auch Paulinchen hüpft und springt durch die Wohnung, ehe sie den fatalen Handgriff tut. Da scheint es wenig Einengung zu geben.
Die Texte, allesamt in Versen und gereimt, sind leicht verständlich und eingängig, allerdings nicht immer perfekt formuliert. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum man sie, einmal gehört, kaum noch aus dem Kopf bekommt. Sie sprechen das kindliche Publikum direkt an,' sieh mal!' 'Seht!' oder beginnen stracks in der Geschichte. „Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?“ oder „Konrad, sprach die Frau Mama“.
Man ist sofort im Geschehen.
Ähnlich direkt sind die Illustrationen, klar konturiert, in kräftigen Farben, blau, grün, rot, gelb herrschen vor. Was mit Worten beschrieben wird, wird auch bildlich umgesetzt. Zuweilen gibt es kleine, schmückende Details, die noch einen besonderen Witz in die Geschichte bringen. So findet man in Philipps Geschichte Zierleisten, an denen Schinken, Fische und Würste hängen (die Geschichte ist höchst appetitanregend!) oder schwarze Fasanen in der Mohren-Geschichte, die zugleich das Exotisch-Orientalische hervorheben. Nicht selten scheinen sich die Figuren in einer Spielzeugwelt zu bewegen, Konrads Wohnung z.B. scheint wie aus Bauklötzen gebaut. Sind die Protagonisten am Ende Puppen oder sind sie doch Kinder?
Als Kind konnte ich von diesem Buch offenbar nicht genug bekommen, später war es eine Zeitlang vergessen. Danach folgte eine lange Phase, in der ich es rundheraus der Verdammnis anheimgab.
Gut, daß ich das nicht wirklich konnte, denn es wäre ein sehr bedauerlicher Irrtum gewesen. Das zeigte sich jetzt bei der Relektüre.
Gefunden habe ich nämlich kein steifes, moralinsaures Bilderbuch aus der Moschelzeit (wie Tucholsky sagte), sondern ein freches, munteres, streckenweise sehr witziges Buch, das an den kindlichen Sinn für Ordnung und Gerechtigkeit ebenso appelliert, wie an ihren Sinn für Anarchie bis hin zum Chaos. Es folgt eben den Prinzipien, an denen man auch heute noch ‚gute’ Bilderbücher mißt.
Es gibt auch Grausiges und Gruseliges, wie in jedem Märchen. Es gibt Beängstigendes, im Text wie in den tollen Illustrationen. Es ist sparsam, aber nicht karg, stringent erzählt und stringent geschmückt. Es ist spannend und höchst unterhaltsam.
Ist es pädagogisch? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich bis heute eine leichte Enttäuschung darüber verspüre, daß man nicht, wie Robert, unter einem Regenschirm mit dem Wind mitfliegen kann.
edit: den Autor mit seinem korrekten Namen versehen