Leihst du mir deinen Blick? - Valérie Zenatti/Übers. Bernadine Ott (ab ca. 14 J.)

  • OT: Une bouteille dans la mer de Gaza 2005



    „Eine E-Mail-Freundschaft zwischen Jerusalem und Gaza“ lautet der Untertitel der deutschen Ausgabe, wohl um den sperrigen Titeln, mit denen man dieses Jugendbuch versehen hat, einen weiteren umständlichen hinzuzufügen. Immerhin haben alle drei etwas mit dem Inhalt zu tun.


    Dieser verspricht Originalität und Spannung. Die siebzehnjährige Tal aus Jerusalem, aufgewachsen bei Eltern, die der israelischen Friedensbewegung nahe stehen, wird durch ein Selbstmordattentat in ihrem Lieblingscafé erschüttert und wachgerüttelt. Etwas muß geschehen. Liberal geprägt, wie sie ist, faßt sie den Entschluß, mit dem ‚Feind’ Kontakt aufzunehmen.
    Das ist alles andere als einfach, aber in ihrem Drang, handeln und sich zu Wort melden zu müssen, entwickelt sie einen verrückten Plan. Sie wird alles, was sie zu diesem Thema bewegt, aufschreiben, das Ganze zusammengerollt in eine Flasche stecken, diese verkorken und bei Gaza ins Meer werfen, in der Hoffnung, daß ein palästinensisches Mädchen die Flaschenpost finden und dann mit ihr per E-Mail Kontakt aufnehmen wird.


    Günstig für diese fantastische Idee ist es, daß Tals Bruder Eytan zur Zeit Militärdienst im Gaza-Streifen leistet. Um das Ganze sozusagen mit dem Segen des Himmels zu versehen, nimmt Tal nicht irgendeine Flasche, sondern die Champagnerflasche, mit dessen Inhalt ihre Eltern fast auf den Tag genau zehn Jahre vor dem Attentat den öffentlichen Händedruck zwischen Arafat und Rabin begossen haben. Das Glück von damals soll die Mauer der Feindseligkeit brechen helfen. Es verhilft ihr zunächst einmal dazu, den höchst widerstrebenden Eytan zum Mitmachen zu bewegen. Für Tal beginnt das Warten.


    Eines Tages landet wirklich eine Mail in ihrem Postfach. Allerdings wurde sie nicht von einem Mädchen geschrieben, sondern von einem Mann, der sich einfach ‚Gazaman’ nennt. Besonders freundlich ist er auch nicht, im Gegenteil. Er äußert sich mit bösem Spott zu Tals friedensstiftender Privatinitiative. Aber Tal bliebt geduldig und im Lauf der Wochen kommen die beiden tatsächlich ins Gespräch.


    In einer Abfolge von E-Mails und Reflexionen darüber bzw. Situationsbeschreibungen von Gazaman und Tal schildert die Autorin sehr eindringlich den bedrückenden Alltag im abgeriegelten Gaza-Streifen wie in Jerusalem. Das Gefühl der Bedrohung, das Eingesperrt - und Abhängigsein von der Besatzungsmacht werden eindringlich beschrieben, in deutlichen Worten, mit nicht wenig Zorn auf der einen und Ratlosigkeit und Mitgefühl auf der anderen Seite. Die Stimmung der beiden jungen Leute ist so gut eingefangen, daß man sich als Leserin über weite Strecken mit beiden identifizieren kann.
    Sehr klar gemacht wird auch, daß die beiden Individuen sind, daß sie nicht stellvertretend für alle Fehler der jeweils anderen Seite stehen, daß sie vor allem Menschen sind. Wie wichtig Kommunikation ist, wie wichtig Kontakt und Austausch, auch über Schmerzliches. Zugleich wird deutlich, wie fern und fremd die beiden Gesellschaften einander sind.


    Die Sprache ist frisch, aber wohlformuliert, Gazaman schreibt direkt und frech, ‚Schnepfe’ ist eines seiner frühen Koseworte für Tal. Seine Kritik an ihren liberalen Überzeugungen, die trotz der Attentatserfahrung noch wenig Alltags-gestestet sind, trifft immer wieder ins Schwarze. Daneben gibt es lebendige und farbige Beschreibungen Jerusalems, aber auch des Gazastreifens. ‚Bei uns haben die Straßen auch Namen’, erklärt Gazaman energisch.


    Spätestens im letzten Drittel des Buchs, als es zu einem weiteren Attentat, diesesmal in einem vollbesetzten Bus in Jerusalem kommt, verschiebt sich jedoch das Gleichgewicht. Von da an steht Tal im Mittelpunkt. Ab hier wird auch deutlicher, daß es bei allem Bemühen um Verständigung selbst auf dieser privaten Ebene doch um Vorleistungen der palästinensischen Seite geht. Selbstverständlich kann Gazaman hebräisch, Tal kommt nicht im entferntesten auf den Gedanken, arabisch zu lernen. Gazaman muß im öffentlichen Internet-Café fanatische Moslems fürchten, Tal hält die Korrespondenz aus privaten und zum Teil selbstsüchtigen Gründen geheim, sie will die Einmischung ihrer Eltern und die mögliche Eifersucht ihres Freundes nicht riskieren.


    Diskutiert, und das zurecht, wird die Traumatisierung beider Gesellschaften, der palästinensischen wie der israelischen, durch den dauernden Kriegszustand, die palästinensische scheint aber auf vage Weise stärker pathologisch zu sein als die andere. Es sind leichte, in manchen Fällen nicht recht faßbare Verschiebungen, aber sie ballen sich und verändern damit die Gewichtung grundlegend.


    Das Ende ist in mehrerer Hinsicht unbefriedigend. Zum einen überzeugt die Lösung des großen Rätsels, wieso ausgerechnet Gazaman die Flaschenpost gefunden hat, nicht. Eigenartig rosa gefärbt wird seine Geschichte erzählt. Seine Zeit, die er, siebzehnjährig, selig als Hilfsarbeiter auf israelischen Baustellen verbracht hat, hat zudem einen zu starken Touch von ‚glücklicher Sklave im Dienst glücklicher Herren’. Daß er in einer israelischen Familie mit offenen Armen aufgenommen wurde, sei mal dahin gestellt, daß er sich dort (unglücklich) in die Tochter des Hauses verliebte, ließ bei mir die Frage aufkommen, ob sich die Autorin nicht kurzzeitig im Genre geirrt hat und mitten im Schreiben bei den Billig-Romanzen fremdgegangen ist.


    Der Schluß, als sich Gazaman entscheidet, zum Psychologiestudium ins Ausland zu gehen, um später ‚seinem Volk’ zu helfen, ist schön gedacht, heißt realiter aber nur, daß es einen Palästinenser weniger geben wird im Gaza-Streifen. Ob er je wieder wird einreisen dürfen, liegt ohnehin nicht in seiner Hand. Im Gegenzug wird nicht ehrlich diskutiert, was die friedensbewegte Tal tun wird, die ja nur noch ein Jahr von ihrem Militärdienst trennt. Das läßt die Autorin ihre Protagonistin der Zukunft überlassen. Ernsten Fragen weicht sie also aus.
    Bei aller Friedensbereitschaft ist der Roman subtil parteiisch.


    Eine durchaus bewegende Geschichte, die einer trotz des verrückt-fantastischen Plots die Augen über vieles im Alltag in Palästina öffnen kann, (darunter die freundliche israelische Friedensbewegung), mit einem leider äußerst unbefriedigenden Ende.


    Die Übersetzung liest sich sehr flüssig, leider wurde nicht auf die Form der Namen geachtet, sie wurden direkt aus dem Französischen übernommen. Man muß also mit ‚Levine’ statt ‚Levin’ leben, mit ‚Yacine’ statt ‚Yasin’, mit ‚Eytan’ statt ‚Etan’ und, da mußte ich wirklich lachen, mit ‚Ouri’ statt ‚Uri’.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • hey, danke für diese Rezension, das Buch musste natürlich gleich auf meine WL, weil ich mich sehr für Israel und das Leben dort interessiere :kiss


    und danke für die Warnung mit den Namen, würde ich das unvorbereitet lesen, wäre ich wahrscheinlich seeehr verwirrt :lache

  • Svajone


    wenn Du Dich für Israel interessierst, kann ich Dir noch ein anderes Jugendbuch empfehlen, das von Raya Harnik.


    Darin wird das Leben in diesem durch und durch militarisierten Staatswesen geschildert, mit den Problemen, die das für die Israelis bringt. Harniks Buch gefällt mir am besten, auch wenn keine Palästinenser darin vorkommen.
    Man kann es auch als Erwachsene gut lesen, ich habe es schon vielen empfohlen, es ist beileibe kein reines Kinderbuch.
    Es ist ästhetisch (literarisch) wie thematisch am besten gelungen


    'Aftershock' (das von gestern), ist wegen der Fülle an Informationen zu empfehlen, wenn sie auch ein wenig zu reichlich fleißen. Es ist besser, ein bißchen Vorwissen zu haben, damit man sortieren kann. Es ist thematisch gut gelöst, ästhetisch aber nicht, will sagen: der 'Roman' hängt bald durch.


    Zenatti dagegen ist vor allem Roman, da 'hängt' aber das Thema 'Israel-Gaza' bald und wird dann einseitig.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Eine tolle Buchvorstellung, vielen Dank dafür!
    Beim Lesen des Beitragstitels fiel mir bereits der wunderliche Titel für ein Jugendbuch auf; ich hätte zunächst an ein Sachbuch aus dem Bereich Fototechnik oder ein Betroffenheitsbuch gedacht.


    Interessieren würde mich, welche Altersempfehlung der Verlag ausgesprochen hat und ob die thematische Umsetzung tatsächlich Jugendlichen gerecht wird.

  • Salonlöwin


    entschuldige, ich hatte Deine Frage nicht gesehen.
    Der Verlag hält sich, was das Alter betrifft, bedeckt. Ich setze es mal ab 14 Jahren an, Tal, die Protagonistin ist siebzehn.


    Bei Jugendbüchern, die aktuelle Themen zum Gegenstand haben, lasse ich die Altersangabe manchmal weg. Das ist dann ein Signal dafür, daß Erwachsene es lesen, öhm, sollen dürfen. :grin



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich finde, du hast recht, magali, das Buch endet abrupt an der Stelle, an der es eigentlich erst spannend wird und die richtig interessanten Fragen werden gar nicht thematisiert. Schade, denn die Grundidee finde ich schön. Nur leider fehlen da 100 Seiten. So lässt es mich doch sehr unzufrieden zurück und ich vergebe 6 Eulenpünktchen.

  • Ja, ich war nicht ganz glücklich mit dem Buch.
    Aber es ist gut, daß es überhaupt übersetzt wurde und daß man solche Themen aufnimmt.
    Es gibt wenig für Jugendliche in dem Bereich.


    Wiederum andererseits muß man, will man sich ernsthaft informieren, ein Sachbbuch nehmen. Romane sind eben doch Romane, nicht mehr.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus