Aftershock. Die Geschichte von Jerus und Nadira - Tamar Verete-Zehavi (ab 14 J.)

  • OT: Sruta 2007



    Zwei Teenager haben sich beim Supermarkt verabredet. Die eine kauft noch schnell für Großmutter ein, die andere soll draußen auf sie warten. Ehe die beiden Mädchen sich sehen können, explodiert eine Bombe. Das Mädchen draußen stirbt, das Mädchen drinnen überlebt. Wir befinden uns in Jerusalem, ca. 2006.


    Die Romanhandlung umfaßt einen Zeitraum von vier Monaten, berichtet wird alles von der Ich-Erzählerin, der knapp fünfzehnjährigen Ella, dem Mädchen, das überlebt hat. Sehr detailliert beschreibt die Autorin Ellas seelischen Zustand und seine Entwicklung. Angst und Ängste, Wut und vor allem die Trauer um Jerus, die etwas ältere beste Freundin. Die Abwehr gegen alles, was als ‚kluge Erwachsenen-Sprüche’ ankommt, gleich, ob sie von den Eltern oder der betreuenden Psychotherapeutin geäußert werden, Panikattacken, zeitweise Orientierungslosigkeit, Lustlosigkeit, Antriebslosigkeit.
    Noch im Krankenhaus lernt Ella einen jungen Palästinenser kennen, Maher. Sie stürzt sich kopfüber ins Gespräch mit ihm, das allerdings anders ausgeht, als sie erwartet hat. Durch diesen Kontakt kommt sie gedanklich dem Selbstmordattentäter auf die Spur. Zu ihrem nicht geringen, wenn zunächst auch geleugneten Schrecken, erfährt sie, daß der Täter eine Täterin war, ein Mädchen von gerade 18 Jahren. Ella verbeißt sich immer stärker in Gedanken über die Täterin. Sie fantasiert sich ihr Leben zusammen, sie schreibt sogar eine fiktive Biographie nieder. In ihrer Fantasie läßt sie den Tag des Attentats wieder und wieder ablaufen, mit einem Unterschied. Jedesmal wird Nadira, so hieß das Mädchen, an ihrer Tat gehindert.
    Ellas Obsession bringt sie schließlich dazu, daß sie mit der Familie Nadiras Kontakt aufnehmen will. Tatsächlich gelingt es ihr. Aber auch hier muß sie sich Unerwartetem stellen.


    Zugleich mit dieser Geschichte wird die Geschichte der Freundschaft zwischen Ella und Jerus erzählt. Damit bringt die Autorin eine gewichtige zweite Thematik in ihren Roman ein, die nämlich von den ÄthioperInnen in Israel, auch das ein brennendes Problem. Aus der Rückschau Ellas tritt einer beim Lesen eine sehr lebendige, moderne Jerus entgegen, ihre Träume und Wünsche überdecken streckenweise fast diejenigen der Protagonistin. Weit weniger lebendig gerät Maher, und auch Etan, Ellas Freund, bleibt farblos. Ebenso blaß bleiben auch die Eltern und die kleine Schwester.


    Tamar Verete-Zehavi, Jahrgang 1957, Professorin für Pädagogik, hat sich mutig an ein heikles Thema gewagt. Sie bemüht sich, es von einem ungewöhnlichen Blickwinkel anzugehen und auch eine ungewöhnliche Lösung anzubieten, weicht am Ende aber doch ein wenig zurück. Das liegt weniger an ihrer politischen Überzeugung - sie leitet u.a. Gesprächskreise zwischen jüdischen und arabischen Israelis - , als daran, daß ihr ihre Protagonistin ab der zweiten Hälfte des Buchs immer wieder zu entgleiten droht. Sie kann dem nur entgegenwirken, indem sie ein weiteres Politikum dazupackt, was zwar der wirklich verzwickten Alltagssituation in Israel entspricht, in der zig Ausprägungen von Rassismus durcheinanderwabern, umgesetzt in einen erzählenden Text aber nicht dem Verständnis dient.


    Nicht weniges wird nur mit einem Halbsatz gestreift oder nebenbei erwähnt, die Bedeutung der Information, daß Ellas Vater von marokkanischen Einwanderern abstammt, muß man erschließen. Sie verweist auf das nicht ganz unproblematische Nebeneinader von Sepharden und Ashkenazim in Israel, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen. Daß Mahers Hintergrund gegen Ende mit einer christlichen Hälfte ausgestattet und auch noch die Auswanderungsproblematik angeführt wird, nimmt man nur noch mit einem ergebenen Nicken zur Kenntnis. Bedeutung in der Romanhandlung hat es keine.


    Deutlich schwächer werden auch die Dialoge in der zweiten Hälfte. Die angedeutete und für die Romanhandlung schlüssige Konkurrenz zwischen Etan und Maher hilft dem Ganzen auf, trägt aber letztlich nicht. Alle drei, Ella, Maher und Etan, geraten in große Gefahr, Pappfiguren zu werden, die nur noch Positionen wiedergeben.
    Ab hier gibt die Autorin den LeserInnen auch viel zu viel vor. Das ist einerseits verständlich, weil die Idee Ellas, sich der Familie Nadiras zu nähern, denkerisch wie schriftstellerisch Neuland ist, und zwar vermintes. Andererseits fühlt man sich beim Lesen aber bald gegängelt bzw. durch immer neue Ideen wie durch das Flatternlassen einer wachsenden Zahl bunter Schleier an der klaren Sicht auf den Kern des Ganzen gehindert. Es wird viel behauptet, aber nicht dargestellt, es gibt keinen Raum mehr für eigene Eindrücke und Schlußfolgerungen.


    Als Roman nicht recht gelungen, ist Aftershock (grausiger Titel!) dennoch ein Buch geworden, das man empfehlen kann. Es enthält nicht nur eine Fülle von Informationen über den schwierigen Alltag in Israel, sondern auch viele anregende Gedanken über die Konflikte in diesem Land, die man so nicht in den Tagesnachrichten zu hören bekommt. Aftershock ist also eher als Diskussionsbeitrag zu werten. Die Romanhandlung und die Personen tragen ihr Teil bei und erleichtern den Zugang, nicht nur für Jugendliche.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Danke für die Rezi, magali! Sehr interessant, was du schreibst, jetzt bin ich allerdings weiterhin gespalten, ob ich ihn mir kaufen soll oder nicht. :grin