Lichterloh - Sofie Laguna

  • OT: One Foot Wrong


    Klappentext:


    Hester ist ein kleines Mädchen, das von ihren religionsfanatischen Eltern in einem abgelegenen Haus im Wald großgezogen wird. Sie hat noch nie einen Schritt ins Freie machen dürfen, sie hat noch nie mit einem anderen Kind geredet. Ihre einzige Habseligkeit ist eine illustrierte Kinderbibel, die reichen muss, um ihre kleine Welt mit Sinn zu füllen.
    Ihre Freunde sind Katze, Löffel, Axt und Baum, und sie alle geben Hester manchmal Ratschläge, was sie tun soll.
    Der Tag, an dem der Baum im Hof sie zu sich ruft und sie schließlich trotz des Verbots ihrer Eltern die Haustür öffnet, verändert Hesters Leben. Denn die Ahnung, dass es im Leben mehr geben muss, das instinktive Wissen um Glück und Freundschaft, die sie noch nie Erfahren hat, deren Existenz sie aber spürt, geben ihr die Kraft, das Leid zu ertragen. Bis der Tag gekommen ist, an dem sie zum ersten Mal ihr Leben in die Hand nimmt ...


    Über die Autorin:


    Sofie Laguna, geboren 1968 in Sydney, studierte Jura und arbeitet heute als Autorin, Schauspielerin und Dramaturgin. Sie hat Theaterstücke, Drehbücher und vor allem Kinder- und Jugendbücher verfasst, für die sie mit zahlreichen Auszeichnungen prämiert wurde.
    Lichterloh ist ihr erster Roman für Erwachsene, der von der australischen Presse gefeiert wurde (Quelle: Fahrenheit).


    Meine Meinung:


    Sofie Laguna erzählt die Geschichte Hesters, die unter unmenschlichen Bedingungen in absoluter Isolation aufwächst aus deren Perspektive. Sie lässt den Leser mit Hesters Augen sehen und macht es ihm dadurch nicht unbedingt leicht. Denn Hesters Blick auf die sie umgebende Welt ist außergewöhnlich. Sie benutzt Bilder um zu beschreiben, wofür ihr die Begrifflichkeiten fehlen, erlebt intensive Halluzinationen, oftmals mit biblischer Symbolik und es liegt allein am Leser, diese teils extremen Wahrnehmungen zu „entschlüsseln“.


    Hester spricht von ihren Eltern als „Sack“ und „Stiefel“. Sie kommuniziert mit unbelebten Dingen, holt sich Rat und Trost bei ihren Freunden Türknauf, Tisch, Stuhl, Besen und Axt. Auch ihre Selbstwahrnehmung ist „verdinglicht“:
    Ich kniete auf dem harten Boden und putzte das Klo. Das war meine Aufgabe. Wenn ich die Bürste in den Eimer tunken wollte, war da jedes Mal ein Gesicht.
    Oft spricht sie in der dritten Person von sich:
    Ins Freie gehen war verboten, weil einem da keine Wände und kein Dach sagten, wo Schluss war (…) Sack konnte hingehen um Wäsche aufzuhängen, aber nicht Hester, die eine Missgeburt war und zu spät geboren.
    Hester kennt die Bedeutung der Wörter „Wunsch“, „Großmutter“ oder „Traube“ nicht, findet für die Menstruationsflecken, die auf ihrem Laken „blühen“ aber so poetische Beschreibungen wie „Blutblumen“.
    Als sie nach einem tätlichen Angriff auf ihre Mutter in die Psychiatrie eingewiesen wird und dort in Nora eine Freundin findet, gerät einiges in Bewegung …


    Bücher, die sich mit dem Thema Kindesmisshandlung und Missbrauch beschäftigen, laufen für mich immer Gefahr, platt, plakativ oder effekthaschend zu geraten. Von daher beeindruckt mich Sofie Lagunas kompromisslose und feinfühlige Herangehensweise umso mehr. Durch die Wahl der Perspektive und die bildgewaltige Erzählweise gewinnt der Roman eine große Unmittelbarkeit und eine geradezu verstörende Wucht.
    Ein unbedingt empfehlenswertes Leseerlebnis!


    Edit: OT vergessen.

    Man muss ins Gelingen verliebt sein,
    nicht ins Scheitern.
    Ernst Bloch

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Seestern ()

  • Ich kann Seesterns schöner Rezension nur zustimmen!
    Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich meine nicht kürze, denn ein paar Sachen wiederholen sich bei mir, die schon Seestern erwähnt hat...


    Klappentext: Hester ist ein kleines Mädchen, das von ihren religionsfanatischen Eltern in einem abgelegenen Haus im Wald großgezogen wird. Sie hat noch nie einen Schritt ins Freie machen dürfen, sie hat noch nie mit einem anderen Kind geredet. Ihre einzige Habseligkeit ist eine illustrierte Kinderbibel, die reichen muss, um ihre kleine Welt mit Sinn zu füllen.
    Ihre Freunde sind Katze, Löffel, Axt und Baum, und sie alle geben Hester manchmal Ratschläge, was sie tun soll.
    Der Tag, an dem der Baum im Hof sie zu sich ruft und sie schließlich trotz des Verbots ihrer Eltern die Haustür öffnet, verändert Hesters Leben. Denn die Ahnung, dass es im Leben mehr geben muss, das instinktive Wissen um Glück und Freundschaft, die sie noch nie Erfahren hat, deren Existenz sie aber spürt, geben ihr die Kraft, das Leid zu ertragen. Bis der Tag gekommen ist, an dem sie zum ersten Mal ihr Leben in die Hand nimmt ...



    Über den Autor:
    Hab ich gestrichen, siehe oben bei Seestern :-)


    Das Äußere:
    Die Bücher des noch jungen Fahrenheit Verlages sind sehr liebevoll gestaltet, was Cover, Papier und Satz angeht. Schön! :-)


    Meine Meinung:
    Sofie Laguna erzählt in ihrem Debütroman "Lichterloh" auf berührende und sehr eindrückliche Art und Weise eine moderne Version der Kaspar Hauser Geschichte. Vom ersten Satz an taucht man in die Welt der Ich-Erzählerin Hester ein, die in absoluter Isolation aufwächst. Eine Welt, die eine eigene Sprache besitzt. Eine Sprache, die sich aus den Worten und Beschreibungen zusammen setzt, die dem Kind von seinen religionsfanatischen Eltern/ihrer Kinderbibel "gegeben" werden und von Neuschöpfungen, die es sich selbst ausdenkt. Hester hat z.B. kein Wort für Mama oder Mutter oder Oma. Sie nennt ihre Mutter Sack und ihren "Vater" Stiefel. Sie selbst wird als Missgeburt bezeichnet, ein "Name", der durch Hesters Begegnung mit ihrer Großmutter Mog eine tiefere, tragische Wahrheit erhält. In dieser Begegnung und dem Wenigen, was Sack dazu sagt, wird der schreckliche Kreislauf deutlich, in dem die Menschen der Cotton Road Eins, aber vor allem Hester und ihre Mutter gefangen sind...


    Hester fehlen nicht nur alltägliche Worte wie Frosch oder Bach oder Zigarette oder Buchstaben oder ..., das Fehlen dieser Worte geht tiefer: All das kommt in ihrer Welt nicht vor, ist nicht existent, weder als Wort noch als "Wahrnehmung" bzw. als Erfahrung. Denn Hester fehlen vor allem die Erfahrungen mit bestimmten Beziehungsformen, Tätigkeiten, Gegenständen, der Natur, usw. Ein Beispiel: Kain hatte Abel erschlagen, so waren Brüder. Wieder das Stichwort Kaspar Hauser.


    Der Autorin gelingt es wie gesagt sprachlich auf sehr eindrückliche Weise, die Welt/Wahrnehmung dieses Kindes auszudrücken - z.B. Ein Paar Blauschuhe kam ins Zimmer und stach mir eine Nadel ins Gebein. - aber ebenso eindrücklich gelingt ihr das auch über die Bilder, die Hester "malt" und mit denen sie die Welt um sich herum wahrnimmt, interpretiert und erklärt. Sehr gut gefallen hat mir auch, wie die Autorin die Abspaltung dieses Kindes von sich selbst, das "Sich selbst beobachten", immer wieder durch das "Abrutschen" in die 3. Person für den Leser "erlebbar" macht. Diese Abspaltung vom "Ich" wird durch manche Beobachtungen, mit denen Hester sich selbst beschreibt, noch verstärkt.


    Psychologisch sehr nachvollziehbar und ungeheuer konsequent fand ich, dass sich Hesters Wahrnemungsschema, ihre "Sprache" auch nach dem erzwungenen Eintritt in die Schule - in die Draußen-Welt - kaum verändert. Für mich war es sehr glaubwürdig, dass das "Draußen", das nun auf Hester einprasselt, sie erst recht in ihre eigene (Sprach) Welt zurücktreibt, und sie nicht sofort damit beginnt, ihre Umgebung zu kopieren.


    Die Einsamkeit dieses Kindes wird durch die Personifizierung von Gegenständen noch verstärkt. Auch hier sprachlich wieder stark umgesetzt - Es war Axt. Sie rief mich von der Hauswand draußen, an der sie lehnte. Durch den häufigen Verzicht auf den Artikel, werden die Gegenstandsbezeichnungen zu Namen. Gegenstände, die mit Hester sprechen, die ihre Freunde sind.


    Begeistert hat mich auch das psychologische Feingespür, mit dem diese Autorin arbeitet. Auch wenn Hester von ihren Eltern grausam misshandelt wird, gibt es Szenen, in denen sowohl Sack als auch Stiefel "aufgeweicht" werden, in denen man etwas über sie und die Motivation ihres Handelns erfährt. Eine klare Einteilung in "Gut" und "Böse" wird dadurch erschwert bzw. unmöglich gemacht. Umso mehr hat mich dann das Ende erschüttert - das ich aber in all seinen erschütternden Details als sehr stimmige (Figuren-)Entwicklung empfunden habe (Stichwort: die Suppe und das Kotzen von Hester "danach").


    Sehr schön gezeichnet fand ich auch Hesters Freundschaften zu Mary und Norma K. Durch die Entwicklung dieser Beziehungen "lernt" man als Leser zunehmend, wie emotionale Beziehungen für Hester funktionieren, wie sie andere wahrnimmt. Gleichzeitig wird aber auch aufgezeigt, wie Hester permanent die Draußen-Welt in ihre Welt überträgt: Ich zog mir meine Schuhe an und schaute hoch zu Mary. Die Sonne war hinter ihrem Kopf, und sie blendete meine Augen. In der Bilderbibel kommt der Engel Gabriel auf Besuch, und die Sonne steht ihm genauso hinterm Kopf wie Mary. "Du bist Gabriel", sagte ich ihr.
    "Du bist bekloppt." Sie fasste mich bei der Hand, und wir liefen zurück zu dem Drahtzaun und zum Schulhaus.


    Mein Fazit:
    Ein radikales, ein sehr eindringliches Buch, das einen erschüttert und berührt. Ein Buch, das ich sicher noch mehrmals lesen werde, denn vor allem die sprachliche Virtuosität der Autorin macht Hesters Welt für den Leser "erlebbar". Durch die Kürze - 173 Seiten - verdichtet sich die, an sich schon sehr dichte, Geschichte noch mehr. Gleichzeitig verhindert diese Kürze meiner Meinung nach aber auch, dass sich die sprachlichen Stilmittel "totlaufen" bzw. irgendwann auf der Stelle treten.
    Ein Buch, in dem Inhalt und Form meiner Meinung nach eine perfekte Einheit bilden - ein literarischer Volltreffer.


    Diese Autorin ist für mich eine wichtige Neuentdeckung und das Buch nach "Das amerikanische Mädchen" von Monika Fagerholm, das zweite Buch, das ich bisher vom Fahrenheit Verlag besitze, auch der zweite literarische Volltreffer. Ich hoffe sehr, dass dieser tolle, neue Verlag uns noch lange erhalten bleibt.


    Liebe Grüße
    Lille


    Edits: Rechtschreibfehler entfernt... Ürgs...

  • So, nun habt ihr mich überzeugt und es ist auch auf meiner Wunschliste gelandet.
    Das hört sich wirklich nach einem sehr interessanten Buch an!

    Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seinen Boden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken.
    (Hermann Hesse)

  • Wäre toll, wenn jemand das Buch wandern ließe. Glaube es gibt auch irgendwo einen Thread für solche Wünsche. Kann ihn aber nicht finden. :cry

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Zitat

    Original von hollyhollunder
    Wäre toll, wenn jemand das Buch wandern ließe. Glaube es gibt auch irgendwo einen Thread für solche Wünsche. Kann ihn aber nicht finden. :cry


    Hier ist der Wunsch-Thread. :-)

  • Das Buch ist unterwegs zu mir, allerdings auf Englisch. Und nach euren Rezis freue ich mich total drauf!


    Ich wäre bereit, es wandern zu lassen, falls jemand daran Interesse hat!

  • Leider ist mein Enlgisch nicht so toll, dass ich so ein schönes Buch mit Genuss lesen könnte. Deutsch wäre besser für mich. Trotzdem danke.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Das Buch hat mich zutiefst berührt und auch erschüttert zurückgelassen.


    Zunächst muss man sich erstmal etwas auf die Sichtweise Hesters einlassen. Wie schon geschrieben, kennt sie viele Wörter nicht, die sie ersetzt, z.T. durch Wortneuschöpfungen (z.B. Blutblumen). Insgesamt ergibt sich daraus eine sehr bildreiche Sprache, die auch direkt das Erleben von Hester widerspiegelt.


    Das, was passiert und wie Hester es erlebt ist einerseits faszinierend, andererseits geht es einem wirklich unter die Haut.
    Der Verlauf ist sehr dramatisch, aber man hat für all dies eine ganz neue Sichtweise, nämlich die Sicht von Hester.


    Man kann es sich vielleicht zu Anfang des Buches nicht vorstellen, aber man lebt mehr und mehr in Hester. Zum Ende hin musste ich wiedermal richtig weinen.


    Das Buch werde ich auf jeden Fall lange in meinem Inneren bewahren und damit auch Hester.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Sigrid2110 ()

  • Zitat

    Original von buzzaldrin
    Mit dieser Rezension hast du mich nun endgültig überzeugt Sigrid. Das Buch kommt beim Einkauf morgen auf jeden Fall mit :-)


    @ buzz: ich denke, es wird Dir mehr als gefallen.


    Ich hatte es ja nur geliehen, aber bei diesem Buch werde ich eine Ausnahme machen: ich werde es mir trotzdem noch kaufen (tue ich sonst nicht).

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Klingt nach einem sehr interessanten Buch. Ich setz es mal auf meine Wunschliste. Gekauft wirds aber erst nach der buchkauffreien Zeit im September :-]


    Danke f. die Rezis.


    Lg, Violet :wave

    Bücherfasten: 21.6.2009 - 22.9.2009


    SuB: 31


    Ich lese gerade: Harry Potter und die Kammer des Schreckens

  • Zum Inhalt
    Hester ist kein gewöhnliches Kind. Seit sie denken kann, lebt sie mit ihren Eltern Sack und Stiefel in einem abgelegenen Haus, welches sie nie verlassen darf. Zwar ist sie schon mal heimlich bei ihrem Freund dem Baum gewesen, doch bereits beim zweiten Besuch wird sie von ihrer Mutter erwischt und hart bestraft. In deren Augen ist das kleine Mädchen eine Missgeburt, weil es viel zu spät geboren wurde, nichts im Kopf hat und eigentlich gar nicht auf der Welt sein dürfte. So besteht Hesters Alltag aus der Schikane ihrer Mutter, den nächtlichen Besuchen des Vaters und einer Menge Hausarbeit.
    Der einzige Trost sind ihre Freunde Katze, Axt, Türknauf und Löffel. Sie sprechen mit ihr und lösen Gedanken aus, die unerwartete Ereignisse nach sich ziehen…


    Kritik
    Lichterloh ist ein verstörendes Buch! Direkt zu Beginn wirkt es befremdlich, die Welt mit Hesters Augen zu sehen, da das Mädchen im Laufe der Zeit ihre ganz eigene Sichtweise entwickelt hat. Gegenstände werden vermenschlicht, Menschen verdinglicht. Verstehen kann man Hesters Ausdrucksweise nach wenigen Seiten trotzdem, jedoch nicht das Leid, das ihr widerfährt. Nicht nur einmal fragt man sich, wie viel eine Kinderseele aushalten kann. Nicht nur einmal starrt man fassungslos auf die gedruckten Zeilen.
    Deren Inhalt ist bedrückend, die Atmosphäre im Haus der Familie kalt und brutal und die Gewalt, die Hester zugefügt wird, spiegelt sich auf abstrakte Weise in ihrem Seelenleben wieder. Nichtsdestotrotz spürt man im hintersten Winkel auch einen Funken Hoffnung. Vielleicht liegt das an der kindlichen Unschuld, vielleicht aber auch an Hesters Realitätsfluchten, die ihr immer wieder Halt geben und zumindest anfangs schimmernde Bilder im Leser hervorrufen. Dominierend in diesem Werk sind jedoch die Grausamkeiten einer psychisch kaputten Familie und deren verheerende Folgen.
    Nichts für schwache Nerven, aber auf seine ganz eigene Art ein kleines Meisterwerk!