Das Mädchen auf dem Seil
Heiko Wolz, 2008
addita; ISBN: 978-3939481096
Nachdem schon Heiko Wolz' Roman "Spinnerkind" einen sehr positiven Eindruck bei mir hinterlassen hatte, habe ich im Januar dieses Jahres und jetzt gleich noch einmal (eigentlich wollte ich ja nur kurz meine Erinnerung für die Rezension auffrischen, aber das Buch zog mich sofort wieder in seinen Bann) "Das Mädchen auf dem Seil" verschlungen.
Obwohl sich die 140 groß bedruckten Seiten schnell weglesen lassen, gelingt es Wolz wieder, eine kleine skurrile Welt vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen: Der Zirkus Koschwitz lädt zur Vorstellung ins Nachkriegsberlin der 20er Jahre.
Doch was soll man erwarten? Der Zirkus ist genauso heruntergekommen, wie alles um ihn herum. Der alte Herr Gruber mit seinem in die Jahre gekommenem Zirkusbären weiß ein Lied davon zu singen, und Direktor Koschwitz, dem sein lächerlicher roter Frack eine zweite Haut geworden ist, träumt von alter Glorie, die er mit der frisch engagierten Lona Rosenzweig zurück holen will. Wie so viele Gestalten in dem Roman hängt er dem nach, wie es einmal war und lässt die Vergangenheit nicht los. Mutter Rosenzweig, eine ehemalige Seiltänzerin, die sich aus Verzweiflung und Frust die Gestalt eines Elefanten angefressen hat, mag ihre Tochter nicht erwachsen werden lassen und lässt sie deswegen in einer Kiste voller Regeln schlafen, die Icherzählerin Juli hat seit dem Tod ihrer Mutter nichts mehr in der Wohnung verrückt und Gruber hat mit vielem resigniert abgeschlossen. Ansonsten gehören zu dem kleinen Ensemble noch die Brüder Romanow, die kaum charakterisiert werden, aber sofort Bilder russischer Artisten heraufbeschwören, und Franz Großhaupt, der gerissene Leoparden-Dompteur, der sich in seiner Rolle im finsteren Winkel ganz gut gefällt.
Lona ist da ganz anders. Von ihr stammt der Ausspruch "Wir sind jung. Wer weiß, was das Leben uns noch bringt", der auf dem Klappentext zitiert wird. Sie ist der frische Wind, immer in Bewegung, immer ein kesses Wort auf den Lippen - und noch dazu ist sie eine begnadete Seiltänzerin, die munter auf Wäscheleinen balanciert. Wären da nicht die Momente, in denen sie ins Rudern kommt, wo ihre Fassade bröckelt und ihr Lachen hysterische Züge annimmt, die immer dann auftreten, wenn es um ihre Familie und die Kiste geht ... Sie ist wie ein eingesperrte Vogel, der nicht anders kann, als auszubrechen, der aber doch reuig wieder zur schikanierend Mutter zurückkehrt, weil er noch nicht komplett flügge geworden ist.
Denn wie Juli, die von Direktor Koschwitz als gleichaltrige Freundin für den neuen Star engagiert wurde, ist sie gefangen im Prozess des Bewusst- und Erwachsenwerdens. Sie kann sich nicht lösen, zerbricht beinahe an den zerrütteten Verhältnissen und kompensiert das alles durch ein Übermaß an Munterkeit.
Man kann sie nicht einfach vor seinen Karren spannen, auch wenn Koschwitz das versucht. Lona hat ihren eigenen Kopf, ihre eigene unberechenbare Art - und das ist es auch, was Juli so sehr an ihr fasziniert und ihre freundschaftlichen Gefühle zu etwas Stärkerem wachsen lässt. Lona begeistert die Menschen. Und enttäuscht sie in ihrer Sprunghaftigkeit und ihrer Abkehr vom Kindsein. Aber kann man ihr, der so viel widerfahren ist, böse sein?
Nein. Denn dazu sind die Figuren viel zu liebenswert gezeichnet. Mit ausdrucksstarken Vergleichen, knappen eindringlichen Worten und Respekt für ihre Eigenheiten kreiert Wolz glaubwürdige und durchaus vielschichtige Charaktere. Die kurzen klaren Sätze lassen viel Raum für Ungeschriebenes, sprechen bittere Wahrheiten und in den Figuren Verborgenes nicht immer aus - doch was Heiko Wolz skizziert, ist nicht unvollständig.
Er fängt einzelne Momente, Szenen ein, die vielen nahegehenden, verzweifelten Momente aber auch die skurril-komischen Die Beeinflussung durch den Film, von der er auf seiner Homepage spricht, wird deutlich - man hat die einzelnen Szenen wunderbar vor Augen. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich die Skurrilitäten, die er schildert, nicht infrage stellen mag. Sein kleines Universum mit all seinen Bruchstellen und der doch vorhandenen Lebensfreude gehorcht einfach manchmal ein wenig anderen Regeln. Manchmal hätte ich mir dennoch ein wenig mehr gewünscht, das Buch ist einfach zu schnell ausgelesen.
Stilistisch hat Wolz sich von "Spinnerkind" weiterentwickelt. Die Sätze klingen runder und von den Wiederholungen die mir in "Spinnerkind" ein wenig zu plakativ und unnütz vorkamen, hat er sich größtenteils verabschiedet. Seiner Skurrilität und der Schwebe zwischen Komik,Tragik und Hoffnung, in der auch schon Spinnerkind hing, bleibt er treu. Und nur im zirkustauglichen Finale schießt er in seinem szenischen Schreiben leider etwas über das Ziel hinaus: Es gerät doch etwas sehr tumultartig und ist zu effektheischend. So ganz angemessen ist es der Geschichte, die so rücksichtsvoll leise die einzelnen Figuren und ihre Macken betrachtet, nicht. Wie gut, dass es nicht das Ende ist.
Nicht ganz das Ende des Buches, das mich lächelnd zurückließ - und nicht das Ende der atmosphärisch und inhaltlich zueinander passenden Reihe, die Heiko Wolz mit einem dritten Band abschließen möchte. Leider hat der Kleinverlag addita, bei dem "Spinnerkind" und "Das Mädchen auf dem Seil" erschienen sind, aus dem Geschäft verabschiedet - wer sie sich zu Gemüte führen möchte, sollte also bald zugreifen.
Für die Verlagssuche für das dritte Buch drücke ich die Daumen und hoffe, dass der neue Verlag den Unterschied zwischen Apostroph und Gravis kennen möge. Kaufen würde ich das Buch aber so oder so.
8/10 Punkten
bartimaeus