Ein sanfter Tod - Simone de Beauvoir

  • OT: Une Mort trés douce 1964, dt. 1965



    Ein Telefon klingelt in Rom, ein Ferngespräch. Ein Freund sagt: ‚Ihre Mutter hat einen Unfall erlitten.’ Das ist der Beginn eines Albtraums, von dem man sich wünscht, man könnte ihn nur träumen. Es ist aber kein Traum, es ist erlebtes Leben. Und das, was man erlebt, ist das Sterben eines Menschen.
    Auf nur wenig mehr als hundert Seiten beschreibt Simone de Beauvoir die letzten vier Wochen im Leben ihrer Mutter. Was mit der zunächst eher beruhigenden Diagnose Schenkelhalsbruch begann, wird, als der eigentliche Grund des Sturzes entdeckt wird, zur Konfrontation mit einer irreversiblen Form von Darmkrebs. Damit beginnt ein Ringen aller Beteiligten um die Gestaltung dieses Sterbens. Es geht um die Suche nach der richtigen Entscheidungen, nach der richtigen Erkenntnis in einer Situation, für die es nur auf den ersten Blick gültige Handlungsanweisungen gibt. Tatsächlich gibt es keine, nichts von dem, was man gehört hat oder was einer gesagt wird, erweist sich für genau diese eine spezielle Sachlage als gültig. Man setzt sich ein, bis zum Rand der Erschöpfung und hat dennoch nie die Gewißheit darüber, ob man richtig gehandelt hat. Jeder Trost enthält ein Fragezeichen.


    Der Text ist eine Auseinandersetzung nicht nur mit der Krankheit, sondern auch mit einem problematischen Mutter-Tochter-Verhältnis. Beauvoir schildert das Leben ihrer Mutter, die Konflikte mit den beiden Töchtern, eben Beauvoir und ihrer Schwester Hélène, gen. Poupette. Kindheitserinnerungen, Jugenderinnerungen, Kontrolle, Konkurrenzkämpfe, gegenseitiges Nicht-Verstehen brechen sich mit Liebe, Fürsorge, Mitleiden.
    Es geht um Körper und Scham, um die Sicht auf das Leben. Es geht um Wahrheit und Lüge, so beschließen die Schwestern, der Mutter die eigentliche Krankheit samt der Tatsache, daß sie im Sterben liegt, vorzuenthalten. Ärzte und Pflegepersonal unterstützen sie darin, aus Pflichtgefühl, Mitleid, beruflicher Eitelkeit angesichts des Machbaren? Protokolliert werden spontane, sehr persönliche Eindrücke und Reaktionen auf die Begegnung mit etwas, das sich als terra incognita erweist, in jeder Minute, jedem Atemzug.


    Beauvoir berichtet von Gewissenskonflikten, Empathie, Selbstanklagen, Haß, auf Ärzte, Pflegepersonal, die Mutter, sich selbst. Schlaglichtartig werden die Pflegeform diskutiert und die medizinischen Behandlung, hier werden kaum Details ausgespart, die Besuche, die Bedeutung des Glaubens für ihre Mutter und den Umgang damit.


    Beauvoirs Beschreibung ist eine sehr persönliche, sie ist durchzogen von dem Gefühl, ein Höchstmaß an Grausamkeit und Gewalt miterleben zu müssen. Ihre knappes Nachwort, in dem sie versucht, ihre Gefühle zu analysieren und auch zu rationalisieren, enden dennoch bei genau diesem Fazit. Der Prozeß des Sterbend ist entsetzlich, der Tod ein Gewaltakt. Das Motto des Buchs sind dementsprechend die ersten drei Zeilen eines der berühmtesten Gedichte von Dylan Thomas ‚Do Not Go Gentle Into that Good Night’ - Geh nicht so fügsam in die gute Nacht (der deutsche Satz hat vier Zielen aus den eigentlich drei des ersten Verses gemacht).


    Der Titel des Buchs geht auf die Bemerkung einer Pflegerin zurück, die zu Beauvoirs Schwester bemerkte: ‚Aber gnädige Frau, ich versichere Ihnen, es war ein sanfter Tod.’ Beauvoirs Beschreibung, die, auch wenn es sich um einen autobiographischen Bericht handelt, dennoch literarisiert ist, lebt von dieser Spannung der Darstellung eines grausamen Gewaltakts und der Tatsache, daß der Tod ihrer Mutter, gemessen an den Todeskämpfen anderer als ‚sanft’ eingestuft werden kann. ‚Der Tod einer Privilegierten’, nennt sie es, mit privaten Pflegerinnen, der umfassenden Fürsorge der Töchter, der einzige Maßstab der, so zu handeln, daß der Sterbenden Leid erspart bleibt. Sie scheitern in ihrem Anspruch. Dennoch: ein sanfter Tod.


    Beauvoirs Beschreibung ist 45 Jahre alt, die Fragen, die sie aufwirft, sind unverändert aktuell. Unverändert grausig, unverändert schmerzlich. Ein Klassiker über das Sterben einer Mutter aus den Augen einer Tochter.


    Ein Hinweis zur Übersetzung: dem Deutsch merkt man die sechziger Jahre am ehesten an, es klingt inzwischen ein wenig altmodisch. Als störend erwies sich ein Druckfehler, der Vorname der Mutter lautet Françoise, fast zwei Drittel des Buchs heißt sie Francoise. Das hätte nicht passieren dürfen. In meiner Ausgabe von 1987 ist das noch unverändert übernommen. Und das bei einem Klassiker!

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus