Psychologie: Eddie braucht Hilfe bei Hausarbeit

  • Hallo liebe Eulen,


    ich muss demnächst eine Hausarbeit Für den Kurs "Britische Literatur" schreiben. Ich habe mir als Thema den Wahnsinn der Ophelia ausgesucht, die ja am Ende stirbt. Im Rahmen der Leitfrage muss ich mich unter anderem auch mit der Frage beschäftigen, ob es sich wirklich um Selbstmord handelt.


    Ophelias Wahnsinn tritt auf, nachdem Hamlet ihren Vater Polonius, der sich in Gertrudes Kammer hinter einem Vorhang versteckt hielt, irrtümlich erstochen hat. Ophelia wird also wahnsinnig, singt den ganzen Tag und verteilt selbst gepfückte Blumen an die Leute, die sie trifft. Diese Blumen stellen durch ihren Symbolwert auch geheime Botschaften dar. Als Ophelia einen Blumenkranz an einem Ast über einem Gewässer aufhängen will, bricht der Ast durch und Ophelia fällt ins Wasser. Sie versucht aber nicht einmal zu schwimmen, sondern treibt auf dem Wasser und singt, bis ihre wasserdurchtränkten Kleider sie nach unten ziehen.


    Und nun bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich ein Selbstmord ist. Ophelia scheint zumindest nicht absichtlich ins Wasser gegangen zu sein. Trotzdem kann es sein, dass sie, als sie schon im Wasser war, entschieden hat, nicht um ihr Überleben zu kämpfen. Für diese Interpretation hätte Ophelia aber ziemlich klar bei Verstand sein müssen. In einem Dialog zwischen zwei Totengräbern wird deutlich, dass Ophelias Ertrinken kein Selbstmord im Sinne des Totengräberrechtes ist, da das Wasser ja zu ihr gekommen ist. Somit kann Ophelia in geweihter Erde bestattet werden, was bei einem richtigen Selbstmord nicht möglich gewesen wäre.


    Es wäre aber auch möglich, dass Ophelias Wahnsinn ihren Selbsterhaltungstrieb ausgeschaltet hat und / oder dass sie nicht erkannt hat, dass das Wasser gefährlich für sie ist. Und nun ist meine Frage:


    Gibt es eine Form von Wahnsinn, die den Selbsterhaltungstrieb ausschaltet?


    Wenn nicht, könnte es sich dann vielleicht um eine Wahrnehmungsstörung handeln? Dann hätte Ophelia ihr Leben ja auch nicht wissentlich beendet, sondern nur nicht erkannt, in was für einer Gefahr sie schwebt :gruebel.

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  • Erklär es doch über Melancholie:


    Zitat

    Melancholie [Bearbeiten]
    Albrecht Dürer, „Melencolia I“ (1514)


    Eine andere Form des „Wahnsinns“ wird zwar schon in der Antike beschrieben, erlangt aber vor allem bei den Gebildeten seit dem Humanismus als „Modekrankheit“ Popularität: die Krankheit der Melancholie. Zwar galt der Konstitutionstyp des Melancholikers im Mittelalter als der am wenigsten erstrebenswerte, da dieser mit dürftigem Körperbau, unattraktivem Erscheinungsbild und unerfreulichen charakterlichen und geistigen Eigenschaften veranlagt war. Doch lag in der Melancholie als Krankheit eine bereits bei Aristoteles und Cicero angedeutete Möglichkeit der Selbstgenialisierung verborgen, die im Humanismus nun in einem „Melancholie-Kult“ gepflegt wurde. Der kreative Künstler und Denker bewegte sich dieser Vorstellung nach stets zwischen Genie und Wahnsinn. Noch Schelling bezog sich auf diese alte Lehre, als er behauptete, dass nur Menschen, die ein wenig wahnsinnig sind, kreativ sein könnten (nullum magnum ingenium sine quadam dementia). Diese Form der Selbststilisierung wurde erst im 19. Jahrhundert allmählich unpopulär.


    www.wikipedia.de


    Denn "Wahnsinn" ist ja nur eine Abweichung bestimmter Verhaltensmuster gegen eine soziale Norm.
    Melancholie würde doch auch bei Ophelia passen.
    Vielleicht war die Gute auch manisch depressiv. Beides kann zum Selbstmord führen. Aber der Selbsterhaltungtrieb wird nicht direkt ausgeschaltet, denke ich. Ein Selbstmord und ein Amoklauf sind ja Dinge, die bewusst geplant werden. Und durch verquere Gedanken scheint eben sowas als der richtige Weg.


    Das sind jetzt keine wissenschaftlich fundierten Kenntnisse, sondern einfach nur ein paar Gedanken, die mir beim Lesen deiner Frage so in den Kopf geschossen sind. Vielleicht kannst du damit ja was anfangen.

  • Ja, gibt es. Zum Beispiel könnte sie im Rahmen einer Psychose Stimmen hören (akustische Halluzinationen), die ihr befehlen, im Wasser zu bleiben und zu singen, oder sie könnte das Gefühl haben, Gedanken eingegeben zu bekommen und fremdgesteuert zu handeln (Ich-Störung). Sie könnte die Gedanken oder Stimmen wahnhaft deuten (z.B. mit der Idee, dass sie eine besondere Aufgabe hat und durch ihr Verhalten eine Botschaft verkündet).


    Guck mal unter Psychose

  • Zitat

    Original von Babyjane
    :gruebel
    Definiere Wahnsinn... :gruebel


    Puh, jetzt hast du mich :gruebel...


    Mit einer tiefenpsychologischen Definition von Wahnsinn werde ich in meiner Hausarbeit vermutlich nichts anfangen können, da Freud die Psychoanalyse erst um 1890 herum begründet hat. Ich meine eher die einfache, landläufige Definition von Wahnsinn; nämlich sämtliche psychologischen Störungen / Anomalien.


    Es geht es ja in erster Linie um Wahnsinn in einem literarischen Stück. Wenn Shakespeare sich überhaupt mit klinischen Definitionen von Wahnsinn befasst hat, dann sind diese längst nicht mehr aktuell. Mich beschäftigt aber die Frage, ob Shakespeare von einem Verhalten, wie er es Ophelia angedichtet hat, gehört haben konnte.


    Kann es wirklich sein, dass jemand, der eine psychologische Störung hat (zu sagen welche, überlasse ich besser denen, die sich damit auskennen), keinen Selbsterhaltungstrieb mehr hat, der ihn dazu bringt, wenigstens zu versuchen, wieder an Land zu kommen? Oder setzt ein Verhalten wie das von Ophelia voraus, dass die ertrinkende Person die Gefahr die vom Wasser ausgeht, gar nicht erkennt?


    Edit: Es ist ausgeschlossen, dass Shakespeare Ophelias Wahnsinn um eine tiefenpsychologische Definition herum gestrickt hat. Die Frage ist, ob es möglich wäre, dass er von einem ähnlichen Fall wie Ophelia gehört / gelesen hat. In dem Stück "Hamlet" wird Ophelia, obwohl sie für wahnsinnig gehalten wird, die Schuld an ihren Tod gegeben; bzw. Selbstmord unterstellt. Nur mit einer neuen Zeit tun sich auch neue Interpretationsansätze auf und gestützt durch moderne psychlogische Definitionen kann man behaupten, dass Ophelia sich eben nicht umgebracht hat.

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  • Hallo Eddie,
    anhand der Geschichte ist natürlich schwer zu ergründen welche psychische Störung Ophelia eventuell haben könnte. Es gibt allerdings ein paar, bei denen die Personen antrieblos, apatisch etc. sein können. Ob das jetzt in einer Extremsituation anhält, kann ich dir nicht sagen. Da gäbe es Depression (hier ab F-31 nachzulesen ) oder auch die posttraumatische Belastungsstörung - fiel mir wegen des Todes von dieser anderen Person ein (hier ab F-43 zu recherchieren). Inwiefern ich da in die richtige Richtung gehe, weiß ich nicht. Ich hab nur etwas im ICD-10 gestöbert - vllt. bringt es dich ja auf die richtige Fährte?

    :lesend Ich lese gerade: "Carry On" von Rainbow Rowell und "Mansfield Park" von Jane Austen | SuB: 50

  • Bott , Delphin und LadyBrittany: Da ist ja schon mal einiges dabei, womit ich arbeiten kann. Vielen Dank schonmal :knuddel1.

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  • Zitat

    Original von Eddie Poe
    Es geht es ja in erster Linie um Wahnsinn in einem literarischen Stück. Wenn Shakespeare sich überhaupt mit klinischen Definitionen von Wahnsinn befasst hat, dann sind diese längst nicht mehr aktuell. Mich beschäftigt aber die Frage, ob Shakespeare von einem Verhalten, wie er es Ophelia angedichtet hat, gehört haben konnte.


    Zu der Zeit, in der Shakespeare gelebt hat, war die medizinische Forschung noch von mitunter sehr wüsten Ansichten über insbesondere psychische Krankheiten geprägt. Denn selbst im 19. Jahrhundert war Wahn etwas, das, wie Bott schon sagte, oftmals einfach ein Abweichen von der Norm war. Auch Freud hat ja bekannter Maßen mitunter ziemlichen (mittlerweile überholten) Quatsch verfasst.
    Nun kenn ich deine Aufgabenstellung nicht, aber ich denk, dass man heutige Erkenntnisse zumindest als Grundlage für eine mögliche Diagnose nehmen könnte!? Alles andere sind wahrscheinlich nur mithilfe der Medizingeschichte rauszufinden sein und das ist leider nicht mein Themengebiet.^^ Ich weiß nur, dass Freud und seine Kollegen von der Psychoanalyse 400 Jahre nach Shakespeare immer noch wüste Vorstellungen zu manchen psychischen Krankheiten hatten. :lache

    :lesend Ich lese gerade: "Carry On" von Rainbow Rowell und "Mansfield Park" von Jane Austen | SuB: 50

  • LadyBrittany : Die Frage, ob Ophelia wahnsinnig ist oder nicht, ist nur eines von mehreren Unterthemen.


    Ich habe mir schon mehrere Szenarien überlegt und habe vor zu begründen, welches am wahrscheinlichsten ist:


    1) Ophelia spielt ihren Wahnsinn genau wie Hamlet nur vor, um ungestraft das Königspaar "durch die Blume" beleidigen zu können und begeht dann Selbstmord. Dieses Szenario legt nahe, dass auch der Sturz ins Wasser inszeniert ist.


    2) Ophelia ist wirklich wahnsinnig und ihr Sturz ins Wasser ist ein Unfall. Nichts desto trotz versucht sie nicht zu schwimmen. Und bei diesem Ansatz habe ich überlegt, ob sie a) bewusst ihr Leben aufgibt, ob sie b) aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht begreift, dass sie ertrinkt, oder ob sie c) keinen Selbsterhaltungstrieb mehr besitzt und zwar versteht, dass sie ertrinkt, aber nicht imstande ist, etwas dagegen zu unternehmen.


    Da ich bei den Szenario 2)c) nicht wusste, ob so etwas überhaupt existiert, habe ich hier mal nachgefragt und auch einige gute Antworten und Links erhalten. Danke nochmal :wave.

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  • Ich versteh, daß man auf die Frage kommen kann, in meinen Augen aber sind die Gedanken dahinter zu modern und letztlich außer-literarisch.


    Wenn man Gertrudes Beschreibung liest, ergibt sich das recht klare Bild eines Unfalls. Ophelia ist nicht bei klarem Verstand, sie klettert auf eine Weide. Das heißt, sie unterschätzt bereits die Gefahr, die dieses schwankende Astwerk birgt. Zack, bricht sie durch und landet im Wasser. Wahnsinn hin oder her, das kann auch aus reinem Leichtsinn passiern. man ist so mit sich selbst beschäftigt, daß man gar nicht darüberhinaus denkt.


    Zeitbedingt ist sie mit einer enge Stoff umhüllt, Unterröcke, Röcke, Übergewand. der Stoff bläht sich im Wasser auf (während er sich mit Wasser vollsaugt.) Einige Augenblicke lang kann das Mädel durchaus den Eindruck gehabt haben, daß sie 'schwebt', sie hat sozusagen Auftrieb.
    Dann haben sich die Stoffe vollgesaugt und sie geht unter. Es passiert ja sehr schnell, sie liegt nicht lang im Wasser.
    Es dauert ja auch ein Weilchen, bis das Wasser an die Haut kommt und diese die entsprechenden Signale weitermeldet. Als Ophelia hätte merken können, daß sie naß ist, ging sie wahrscheinlich schon unter.


    Wenn schon, könnte man eher bei PathologInnen nachfragen, wie schnell ein Mensch ertrinken kann.


    Was das Schwimmen angeht: wo sol sie es gelernt haben? Sie ist ein junges, wohlerzogenes Mädchen. Schwimmen stand nicht auf dem Lehrplan.
    Damals war es ohnehin keine weitverbreitete Fähigkeit.


    Wahrscheinlich irritiert zunächst der Text, denn seit dem üblem Gespräch mit Hamlet, ist alles, was Ophelia angeht, voller Todessymbolik (neben der dicken sexeuellen). Tatsächlich wird ihr Weg in den Tod beschrieben.


    Den Selbstmord bringen die Clowns auf, typische Figuren der Verwirrung und des Chaos. Der verkehrten Welt.
    Zugleich ist es ein Kniff, Hamlets Schuldkonto zu erhöhen. Hier arbeitet Shakespeare einfach auf mehreren Ebenen zugleich.


    Für mich war's letztlich Mord, psychischer. Der Täter ist Hamlet.
    :grin



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Achsoooo, cool! Das klingt echt gut und spannend! Gibt's du uns am Ende auch ne Auflösung welches Szenario warum für dich am wahrscheinlichsten ist? :wave

    :lesend Ich lese gerade: "Carry On" von Rainbow Rowell und "Mansfield Park" von Jane Austen | SuB: 50

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  • magali : Das sind ja ein paar echt interessante Ansätze. Ich habe auch vor, Ophelia als Opfer darzustellen, aber dafür muss ich die anderen Szenarien ja entkräften.


    Dass Hamlet an Ophelias Wahnsinn mitschuldig ist, finde ich auch, aber ich bin der Meinung, er hat ihr nur den Rest gegeben. Ophelia wurde von ihrer Familie schon so erzogen, dass sie allein gar nicht lebensfähig ist. Hamlet hat zwar ihren Vater getötet, aber wenn dieser sie nicht andauernd bevormundet und abgewertet hätte, wäre Ophelia auch ohne ihn zurecht gekommen :-].


    Dass Ophelia nicht schwimmen kann, ist auch meine Meinung. Aber selbst Leute, die nicht schwimmen können, schlagen im Wasser um sich und / oder rufen um Hilfe. Dass Ophelia nicht einmal versucht zu überleben, ist das was mir am meisten zu denken gibt.


    Zitat

    Zitat von magali: Zeitbedingt ist sie mit einer enge Stoff umhüllt, Unterröcke, Röcke, Übergewand. der Stoff bläht sich im Wasser auf (während er sich mit Wasser vollsaugt.) Einige Augenblicke lang kann das Mädel durchaus den Eindruck gehabt haben, daß sie 'schwebt', sie hat sozusagen Auftrieb. Dann haben sich die Stoffe vollgesaugt und sie geht unter. Es passiert ja sehr schnell, sie liegt nicht lang im Wasser.


    Ich finde, dass sich das schon stark nach einer Wahrnehmungsstörung anhört :gruebel.

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  • Zitat

    Original von Eddie Poe
    Dass Hamlet an Ophelias Wahnsinn mitschuldig ist, finde ich auch, aber ich bin der Meinung, er hat ihr nur den Rest gegeben. Ophelia wurde von ihrer Familie schon so erzogen, dass sie allein gar nicht lebensfähig ist.


    Es gibt so ein Konzept der erlernten Hilflosigkeit


    Zitat

    Erlernte Hilflosigkeit bezeichnet das Phänomen, dass Menschen und Tiere in Folge von Erfahrungen der Hilf- oder Machtlosigkeit ihr Verhaltensrepertoire dahingehend einengen, dass sie negative Zustände nicht mehr abstellen, obwohl sie es (von außen betrachtet) könnten. Der Begriff wurde 1967 von den amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier geprägt, die auch Versuche mit Hunden durchführten.

  • Eddie Poe


    ja, das ist das Konzept, Ophelia 'wurde so erzogen', sie ist allein nicht lebensfähig. 'Erlernte Hilflosigkeit', Delphins Fachausdruck stimmt durchaus.


    Bloß: das sind außerliterarische Kriterien, die eine letztlich dazu bringen, sich zu überlegene, warum Ophelia nicht um sich geschlagen hat. Wenn man ins Wasser fällt, will man sich doch retten.


    Aber es geht hier nicht um ein Mädchen aus dem RL, sondern um eine fiktionale Figur. Deswegen argumentiere ich lieber anders. Mir geht es darum, in den Mittelpunkt zu rücken, wie Shakespeare die Figur geplant hat. Nach welchem Mechanismus sie ticken soll.


    Ophelia ist hilflos, passiv. Sie kann nicht ohne Anweisung handeln. Wenn sie ohne Anweisung handelt, dann tut sie Dinge, die anderen 'verrückt' vorkommen. Müssen, sage ich wieder, weil es der Autor so geplant hat.


    Wenn sein hilfloses, handlungsunfähiges Geschöpf aus dem Baum in den Fluß fällt, kann es ergo gar nichts anderes tun als untergehen. Ophelia ist nicht so angelegt, daß sie sich wehrt. Sie ist dem Fluß und den Kleidern - das ist die eine rationale Erklärung, die Shakespeare ja selber gibt - ausgeliefert.
    Sie kann nicht um sich schlagen, das ist ihrem Charakter fremd. In dem Moment wäre sie eine Figur geworden, die mit einem eigenen Ziel vor Augen handelt. So ist sie aber nicht angelegt. Sie wäre nicht mehr Ophelia.


    Die zweite Erklärung, die Shaespeare auch gibt, ist die, daß es schnell ging. 'But long it could not be, till that her garments... pull'd the poor wretch ... to muddy death.'


    So, wie die Königin es berichtet, gab es offenbar Augenzeugen, wenn man nicht sogar davon ausgeht, daß sie selbst es gesehen hat. (Darauf baut ja eine der Anschuldigungen späterer InterpretatorInnen auf, daß Gertrude mit dem Tod Ophelias etwas zu tun hätte, bzw. ihn sogar in die Wege geleitet. Halte ich nicht für wenig sinnvoll).
    Ophelia zu Hilfe eilen konnte aber niemand mehr, man war nah genug, sie noch singen zu hören, aber nicht nah genug, sie noch herauszuziehen. Weil es dann doch schnell ging.


    Für mich ist es ein ästhetisches Problem. Der Autor hat eine komplett handlungsunfähige Gestalt eingebaut, deren Uhrwerk nach dem festgelegten Mechanismus abläuft. Zugleich nützt er die Gelegenheit, um eine poetisch stark überhöhte Textpassage über das Sterben einer jungen Unschuld zu schreiben.


    Daraus ergibt sich eine Spannung, die aber vor allem dann zum Tragen kommt, wenn wir Ophelia als lebendigen Menschen ansehen und nicht als Kunstfigur.
    Dann sagen wir: He, so verhält sich doch keine. Die muß doch selbst, wenn sie komplettemang hinüber ist, merken, daß sie ins Wasser gefallen ist und gleich absäuft.


    Nein muß sie nicht. Shakespeare schreibt keinen Arztbrief, er ist kein Pathologe und kein Therapeut. Er ist Schriftsteller. Er folgt einer künstlerisch-ästehtischen Logik. Danach ist Ophelia eben 'incapable of her own distress'. Es ist die Krönung ihrer Hilflosigkeit, die sie schon fünf Akte lang bestimmt hat.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Aber es geht hier nicht um ein Mädchen aus dem RL, sondern um eine fiktionale Figur. Deswegen argumentiere ich lieber anders. Mir geht es darum, in den Mittelpunkt zu rücken, wie Shakespeare die Figur geplant hat. Nach welchem Mechanismus sie ticken soll.


    Sicher, Ophelia ist keine Person aus dem realen Leben. Aber da selbst im Stück "Hamlet" nicht klar gesagt wird, dass Ophelia sich umgebracht hat, muss meine Theorie dazu begründen. Mit Lady Macbeth hätte ich es an dieser Stelle wohl einfacher :grin.


    In der Sekundärliteratur ist immer wieder vom Selbstmord der Ophelia die Rede. Aber es wird nirgendwo explizit gesagt, dass Ophelia sich umgebracht hat. Ich denke, meine Meinung über Ophelia deckt sich weitesgehend mit deiner. Daher passt ein Selbstmord in meinen Augen überhaupt nicht zu dieser Figur und ich muss eine plausible Alternative finden, die ich anhand des Textes begründen kann. Aber die Selbstmordtheorie ist so weit verbreitet, dass ich sie zumindest erwähnen sollte ;-).


    Diese Hilflosigkeit legt auch nahe, dass Ophelias Wahnsinn echt ist. Jemand wie sie würde keinen Wahnsinn simulieren, um den König ungestraft beleidigen zu können.


    Ansonsten werde ich mich noch weiter mit der "erlernten Hilflosigkeit" befassen. Die Melancholie werde ich auch noch mal aufgreifen; die spielt im Elizabethanischen Weltbild ja eine große Rolle.

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  • Eddie Poe


    ich widerspreche ja gar nicht. So arg.
    Ich erlaube mir aber anzumerken, daß auch Lady Macbeth beträchtliche Probleme in der Interpretation bietet. :grin


    Klar mußt Du Dich mit dem Selbstmordproblem auseinandersetzen, es ist das klassische Bild von Ophelia. Leider ist es falsch, aber das hat noch nie jemanden daran gehindert, etwas zu kolportieren.
    Bist Du schon an der Stelle in der Sek.lit., ab der behauptet wird, sie sei von Hamlet schwanger und sei deswegen ins Wasser gegangen? :lache


    Zur Melancholie:


    und ob das wichtig war. Ohne die vier Säfte resp. vier Temperamente-Lehre kommst Du im Verständnis des Ganzen sowieso nicht weiter.
    Aber: Melancholie war eine Krankheit, die damals vornehmlich Männern zugeschrieben wurde.


    Der Melancholiker des Stücks ist der Protagonist selbst. 'How weary, stale flat and unprofitable seems to me all the uses of this world', sagt er - Du erinnerst Dich?
    Das ist der Kernsatz eines Melancholikers jener Zeit.


    Daran leidet Ophelia nicht.


    Bin gespannt, was Du austüftelst.


    Ich muß mich jedenfalls dafür bedanken, daß Du mich auf die Frage gebracht hast, ab wann eigentlich eine Art Konsens darüber zu herrschen begann, daß Ophelia sich umgebracht hat. :gruebel




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Schöner Thread :grin


    Muss Magali zustimmen, dass deine Herangehensweise ein wenig 'außer-literarisch' erscheint.


    Gegen den Selbstmord könntest du doch vielleicht mit einem Gegensatz aktiv-passiv argumentieren: Selbstmord begehen, das heißt aktiv mit dem Ziel, das eigene Leben zu beenden, handeln. Ophelia ist aber nicht aktiv, ihre einzige 'Schuld' besteht eben darin, PASSIV gewesen zu sein, sich nicht gewehrt zu haben. Sie lässt geschehen. Das ist kein Selbstmord.


    Warum sie geschehen lässt, dazu gab es ja schon einige ganz gute Ansätze.

    Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist. (Michel Houellebecq, Elementarteilchen)

  • Zitat

    Original von magali
    Bist Du schon an der Stelle in der Sek.lit., ab der behauptet wird, sie sei von Hamlet schwanger und sei deswegen ins Wasser gegangen? :lache


    Jepp. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll :gruebel. Man kann es zwar mit dem Text belegen, sogar ziemlich plausibel, aber es erscheint mir doch etwas zu speziell, um es in meiner Hausarbeit zu diskutieren. Zumal es nicht einmal meine eigene Idee ist.

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  • Auch wenn ich mich mit der Figur der Ophelia nicht so auskenne, find ich das Thema sehr interessant. Die Ansätze, die Bott, Delphin, LadyBrittany und andere geliefert haben, find ich auch schon sehr treffend und man kann damit sicher was anfangen.


    Ich stelle mir allerdings eine ganz andere Frage, die hier überhaupt nicht angesprochen wird. Kann natürlich sein, dass sie keine Rolle spielt, daher einfach erstmal einige Fragen: Wie genau wird es beschrieben, wie Ophelia im Wasser untergeht? Wie sicher ist es, dass sie üüüüberhaupt nicht versucht hat, NICHT zu ertrinken, als sie unter Wasser war? Kann man anhand des Textes davon ausgehen, dass sie - selbst als sie langsam unterging - nichts unternommen hat, um zu überleben?


    Unabhängig von einer psychischen Störung würd ich nämlich behaupten, dass ein Selbstmord durch Ertrinken eigentlich nicht möglich ist. Ich bin nicht sicher, wo ich das gelesen hab und es ist Jahre her, aber irgendwo stand mal, dass es eigentlich gar nicht möglich ist, dass ein Mensch einfach so "absichtlich" ertrinkt. Man kann unter Drogen stehen und "weggetreten" sein. Man kann sich etwas Schweres an den Fuß befestigen, was einen daran hindert, hochzuschwimmen. Aber eigentlich sollte man (so stand es in dem Text) schon davon ausgehen, dass jeder Mensch (egal, wie psychisch krank er ist) von seinem Körper dazu "gezwungen" wird, Luft zu holen und fürs Luftholen zu kämpfen. Ins Wasser steigen und nichts dafür zu tun, nicht unterzugehen, wenn dies körperlich möglich ist (also, keine schwere Fußfessel oder so), wäre somit gar nicht möglich. Ich behaupte, dass selbst ein hochdepressiver Mensch, der sich ohne zu zögern unter Zug wirft, sich erschießt oder vom Hochhaus springt, nicht in der Lage wäre, absichtlich zu ertrinken und im Wasser nicht zu versuchen nach Luft zu schnappen.
    Selbst wenn man den Selbsterhaltungstrieb ausschaltet - Ophelia steigt ins Wasser und treibt - , würde sie (denk ich) irgendwann Luft brauchen und ihre Lunge und ihr Körper würden - wie krank sie auch sein mag - dafür sorgen oder zu sorgen versuchen, dass sie Luft bekommt.


    Ich weiß nicht, ob klar ist, was ich sagen will. Und falls sie irgendwann im Laufe der Geschichte mit Händen um sich schlägt, um sich zu retten, hat sich dieser Einwand eh erledigt. Aber falls nicht, erscheint mir solches Ertrinken höchst fragwürdig. Genauso wie wenn jemand versuchen würde, durch Luftanhalten zu sterben. Ich wage es zu behaupten, dass dies nicht geht.

    With love in your eyes and a flame in your heart you're gonna find yourself some resolution.


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  • Gummibärchen : Nein, sie schlägt zu keiner Zeit um sich. Aber es steht im Text, dass sie von ihren durchnässten Kleidern nach unten gezogen wird. Vorher treibt sie auf der Oberfläche; da müsste sie also noch Luft bekommen :wave.

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