Rita ist ein Schaf auf einem Deich. Sie ist ein besonderes Schaf, denn sie hat Träume. Rita träumt davon, Pirat zu sein. Oder Freibeuter. Mindestens Störtebecker. Francis Drake gilt aber auch.
Auf diese Ideen kam sie, weil sie lesen kann. Sie besitzt ein Buch mit Piratengeschichten, das sie immer wieder liest, heimlich, in einer kleinen Höhle. Oder sie schleicht sich zum Haus des Schäfers und schaut durchs Fenster, wenn er fernsieht. Im Fernsehen werden immer wieder mal Piratenfilme gezeigt. Aufregend ist das!
Bei den anderen Schafen kommt Rita mit ihren Träumen nicht recht an. Von den Eltern bis zu den Lämmern kann keiner verstehen, was mit Rita los ist. Die Leserin auch nicht so recht, aber noch hat sie Geduld. Wir befinden uns erst am Ende des ersten Kapitels.
Rita ist nicht allein mit ihren Absonderlichkeiten. In der Stadt lebt das Rosettenmeerschweinchen Ruth. Ihr Besitzer, der kleine Johann ist ganz in Ordnung, er hört oft CDs, über Ritter, Saurier oder das Weltall. Ruth hört mit und ist daher ein umfassend gebildetes Rosettenmeerschwein. Am liebsten hört Johann Piratengeschichten. Die liebt auch Ruth am meisten. Sie träumt davon, Pirat zu sein. Oder Freibeuter. Mindestens Störtebecker. Francis Drake gilt aber auch.
Was sie gar nicht leiden kann, ist, wenn andere Kinder sich auf sie stürzen und rufen: Nein, ist die süß! Schrecklich sowas. Einem echten Piraten würde das nicht passieren. Aber Ruth weiß sich zu wehren. Sie lernt, gefährliche Geräusche zu machen. Schließlich kann sie so laut brüllen, daß das Haus wackelt. Johanns entnervte Eltern wollen das brüllende Tier loswerden, dabei gelingt Ruth die Flucht. Natürlich macht sie sich umgehend auf den Weg ans Meer, die Karibik ist das Ziel. Wenn der Autor es schreibt, wird’s schon stimmen.
Am Deich treffen sich die beiden Piraten-Anwärterinnen. Nachdem man ausführlich diskutiert hat, ob man eher ‚Freibeuter’ oder ‚Pirat’ sagen soll, beginnt eine kurze Piraten-Ausbildung. Ruth kann brüllen und bringt Rita das Kämpfen bei. Das beeindruckt sogar den Schäferhund. Die Leserin weniger, aber wir sind erst in der Mitte der Geschichte angekommen.
Schließlich brechen die beiden auf, eine Mannschaft muß angeworben werden und ein Schiff gefunden. Die Tiere, denen sie begegnen, vor allem im Zoo, sind nicht zu begeistern. Im Gegenteil, sie sind eher ängstlich und erzählen Merkwürdiges von einer Bande gefährlicher Wesen, die seit einigen Tagen die Gegend unsicher macht. Die Leserin nimmt auch das hin, an plötzlich auftretende unerklärliche Phänomene ist sie zwischenzeitlich gewöhnt.
Da sich Rita und Ruth niemand anschließen will - offenbar hat der aktuelle Piratenhype den Zoo ebensowenig erreicht wie die anderen Schafe auf dem Deich - , beschließen sie, eben allein in See zu stechen. Stracks geht’s zum Strand. Auf dem Weg findet Rita ein rotes Tuch, das sie sich piratenmäßig um ihr mit Piratenabenteuerrosinen gefülltes Schafsköpfchen knoten kann - sehr fingerfertig, die Kleine - , für Ruth legt der Autor ein Mützchen bereit. Am Strand überfallen sie zunächst ein Mausenest, zur höchsten Verblüffung der Mäuse, wie der Leserin, dann basteln sie ein Floß aus sinnig bereitgelegtem Strandgut. Die Abfahrt gerät überstürzt. Die Leserin hat nichts dagegen, eigentlich will sie die beiden bloß noch lossein. Aber sie hat nicht mit dem Autor gerechnet.
Er hetzt ihr nämlich noch eine Hundemeute auf den Hals, ach, nein, Ruth und Rita, natürlich. Die wütend bellende Meute stellt sich als Filmcrew heraus, die einen - wer errät’s? - P-Film drehen will. So werden unsere beiden wolligen Piraten-Mädels Filmstars und berühmt. In die weite Welt kommen sie auch, sogar in die Karibik. Angeblich tun sie dort und anderswo sogar Gutes, Schäferhunde treten oder Grapscher anbrüllen. Wow.
Dieses Bilderbuch zeigt auf seinen achtzig Seiten sehr überzeugend, was passiert, wenn Erwachsene kindlich sein wollen. Das Ergebnis ist kindisch.
Die Geschichte ist nicht durchdacht, es fehlt die elementarste Handlungslogik. Einfall reiht sich an Einfall, was originell und skurril sein soll, gerät in der Regel bloß albern. Viele Dialoge klingen gezwungen. Namen wie Kurt-Georg für den geplagten Vater-Hammel und Beate für Ritas sanfte Mama bringen nicht einmal eine Lachmöwe zum Grinsen.
Man es auch nicht als Fabel lesen, weil grundsätzlich nicht unterschieden wird, ob die Tiere stellvertretend für Menschen stehen oder ob sie eben doch Tier-Rechte einfordern.
Elemente der Handlung, die ausschlaggebend sein sollen, werden fast immer zu spät eingesetzt, so daß sie wirken, wie nachträgliche Einfälle, die auf die Schnelle dazugeschustert wurden. Streckenweise hat man den Eindruck, daß hier zwei ganz unterschiedliche Ideen gewaltsam zusammengeklebt wurden, einmal die Geschichte eines etwas ‚anderen’ Tiers, Ritas eben, die kein Schaf sein will, und dann die Geschichte von Kuscheltieren, eine ganz andere Art Leiden. Die in der zweiten Hälfte aus heiterem Himmel eingestreuten Hinweise auf Tierschutz und Fleischkonsum wirken vor allem aufgesetzt.
Die Sonderfähigkeiten, die die beiden Heldinnen entwickeln, überzeugen an keiner Stelle. Hin und wieder hätte ich Ruth gern ein Halsbonbon angeboten, sie hat sich meines Erachtens auf Seite 30 bereits heiser gebrüllt.
Der ‚Schiffsbau’ am Strand ist nur noch unglaubwürdig, die Behauptung, daß die beiden sich dann noch einen Kieselstein als Augenklappe ins Auge klemmen, krönt die Seltsamkeiten. Ob der Autor es ausprobiert hat, länger als zwanzig Sekunden, meine ich? Ich hab’s versucht. Vergeßt es. Abgesehen davon, sieht ein Kieselstein vor dem Auge nicht aus, wie eine Piraten-Augenklappe. Er sieht einfach aus, wie ein Kieselstein vor einem Auge.
Es gibt den einen oder anderen wirklich guten Ansatz, z.B. ein Gespräch Ritas mit einem anderen Schaf über die weite Welt und die Freiheit. Freiheit, so liest man, ist dort draußen, Freiheit ist, wenn man auch das Gras vor dem Zaun abknabbern darf. Das andere Schaf stutzt. Ist es nicht umständlich, den Zaun durch die ganze Welt zu schleppen? Das ist Witz im alten Sinn und komisch zugleich, eben davon hätte man sich mehr gewünscht. Aber solche schönen Stellen sind äußerst selten.
Schön sind auch die Wortspiele, die vielen Alliterationen oder eine eingeflochtene Beschreibung, wie die, daß sich Regenwürmer vor Schreck verknoten, wenn Ruth losdonnert. All das geht aber in der abstrusen Handlung unter.
Überzeugend und schön anzuschauen sind die Illustrationen, da sie vom Handlungsverlauf abhängen, retten sie die Geschichte nicht, sie verdeutlichen letztlich nur die Albernheiten.
Richtig ärgerlich ist die Lösung des gleichfalls unvermutet eingeführten ‚Geheimnisses’ der wilden Meute als Filmcrew. Was soll den jungen Leserinnen und Lesern das sagen? Freiheit ist, wenn man Filmstar wird? Wer ‚anders’ ist, wird umgehend reich und berühmt? Ausbrechen lohnt sich finanziell? Oder bellende Hunde beißen nicht?
Tatsächlich wird hier die zur Zeit in den bundesdeutschen Kinderzimmern grassierende, rein konsumbedingte Piraten-Nostalgie platt ausgenützt. Dicke Verweise auf jüngste Filmprodukte aus Hollywood fehlen auch nicht. Der Film, dessen Star Rita und Ruth werden, trägt selbstverständlich den Titel ‚Der Fluch der Karibikhunde’.
Hier hat einer beim Schreiben deutlich den Zaun mitgenommen. Nicht lustig.