• Auf die Gefahr hin, dass es schon einmal ein ähnliches Thema gab, stelle ich hier mal die umgekehrte Frage:


    Was haben Autoren an ihren Lesern auszusetzen?


    Dieser Gedanke ist mir gekommen, nachdem ich gesehen habe, wie auffällig häufig Bücher nicht danach beurteilt werden, ob der Stil gut, die Geschichte originell oder etwa eine Botschaft vermittelt wird, sondern, ob die Figuren gefallen (man sich mit ihnen und ihrem Tun identifizieren kann) und gewisse vertraute Muster auftauchen.
    Sehr oft machen sich die Leser nur darüber Gedanken, wieso irgend ein Charakter sich so oder so verhält und ob er nett ist oder nicht - selbst in hiesigen Leserunden.
    Das muss doch für den Autor etwas dürftig sein?


    Deshalb bin ich neugierig auf eure Eindrücke, Erfahrungen und Ansichten zur Kritik der Leser.


    Wer macht den Anfang bei der Kritik einmal andersrum?

    :flowersIf you don't succeed at first - try, try again.



    “I wasn't born a fool. It took work to get this way.”
    (Danny Kaye) :flowers

  • Liebe Alice Thierry,
    ich bin gespannt, ob das Fass, das du gerade aufgemacht hast, zur Pandora-Büchse wird ...


    Nein, für mich sind derartige Reaktionen alles andere als dürftig. Die handelnden Personen sind diejenigen, die die Geschichte tragen, und ich lege sie so an, dass sie Emotionen auslösen und sich möglichst durch die gesamte Geschichte ihrem Charakter entsprechend verhalten. Das heißt, ich freue mich darüber, wenn eine Person, die ich positiv angelegt habe, von den Lesern gemocht wird. Vielleicht ruft selbst dieser Symphatieträger Kopfschütteln hervor, aber wenn der Leser es so empfindet, dann hat das ja meist den Grund, dass ich beim Schreiben selbst den Kopf geschüttelt habe und dachte 'wie kann er/sie nur'. Bei den kontroverseren Charakteren oder gar den Bösewichten will ich Missfallen bis hin zu Antipathie erregen. Wenn sich die Leser also darüber beschweren, was für ein Vollidiot/Schluffi/Arsch oder was auch immer jene Person ist, dann sitze ich vorm Rechner und denke: Bingo! Ich hab's rübergebracht.
    In meinem ersten Buch sind die Personen zugegebenermaßen psychologisch nicht allzu tief ausgearbeitet, was einmal daran lag, dass das Buch sehr handlungsgetragen ist und ich es zum zweiten einfach auch noch nicht besser konnte. In meinem neuen Projekt hingegen gibt es zwar auch eine Menge "Action", doch eine der tragenden Figuren wird eine ziemlich heftige und (wie ich hoffe) nachvollziehbare Wandlung durchleben. Auf den ersten Metern ist sie eine fürchterliche Zicke, die gerade der Klischee-Schublade entsprungen zu sein scheint. Es wird, sollte es eine Leserunde geben, zu einem grässlichen Alexandra-Bashing kommen. Ich freu mich schon drauf, ist es doch genau das, was ich will.


    Schlimm wird's, wenn ich andere Inhalte transportiere, auf die nicht eingegangen wird. Aber auch da muss ich mich an die eigene Nase fassen. Wenn sie nicht erwähnt werden, sind sie wahrscheinlich keinem aufgefallen, und das wiederum bedeutet: Ziel verfehlt.


    Fazit: Egal, was ich erreichen bzw. auslösen will – ich muss meine Botschaft verdammt gut ausarbeiten und formulieren. Erst dann wird sie auch diskutiert werden. Ich als Autor werde meine Leser nie und nimmer kritisieren. Im Zweifelsfalle liegt der Fehler nämlich bei mir.


    Ganz liebe Grüße von
    SteffiB

  • Noch ein Wort, damit der Thread nicht falsch verstanden wird.


    Es soll nicht darum gehen, das Verhalten oder die Äußerungen von Lesern herabzuwürdigen oder darauf herumzuhacken - leider wird Kritik so oft mit negativer Kritik gleichgestellt - sondern zu berichten, was euch bei der Kritik eurer Leser so auffällt oder vielleicht sogar manchmal fehlt.


    Klar, jede Art von Feedback ist gut, solange es nicht in die Polemik abrutscht bzw. völlig ohne Bezug zum Buch ist. Und es ist sicher schön, wenn die Leser regen Anteil an Persönlichkeiten nehmen, die man selbst geschaffen hat. Einerseits. Aber andererseits kommen dadurch vielleicht andere Facetten, zu denen man als Autor auch gerne das eine oder andere Wort gehört hätte, zu kurz.
    Darum kreist meine Frage.


    Dir, Steffi, lieben Dank, das Du mutig das Wort ergriffen hast, denn dadurch konnte ich das Ganze jetzt besser präzisieren. :wave


    edit: Tippfehler

    :flowersIf you don't succeed at first - try, try again.



    “I wasn't born a fool. It took work to get this way.”
    (Danny Kaye) :flowers

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Alice Thierry ()

  • Ein Autor muss mit seinen Lesern leben, er kann sie sich nicht aussuchen. Wenn sich diese Leser dann auch noch zu Wort melden, also ihre Meinung kundtun, beginnt ein Eiertanz. ;-)


    Ich habe vor kurzem eine Geschichte geschrieben, in der ein Hund eine Rolle spielt. Ich hatte selbst mal einen, als Kind, aber eigentlich mag ich Hunde nicht (sie stinken, sabbern und gehen nicht alleine aufs Klo). Deshalb verhält sich der Hund in dieser Geschichte auch ein bisschen ungewöhnlich. Nicht sehr. Aber ein bisschen. Dieses Verhalten ist ausschlaggebend für den weiteren Verlauf der Story, in der es eigentlich nicht um Hunde geht. Der Hund ist nur dramaturgischer Hebel.


    Diese Geschichte ist sehr amüsant, kann ich ganz objektiv feststellen, denn als ich sie - dreimal inzwischen - bei Lesungen vorgetragen habe, hat sich das Publikum gekringelt. Nach einer dieser Lesungen kam trotzdem ein Mensch auf mich zu, der sich nicht namentlich, sondern als Hundekenner vorstellte, und der mir einen weitschweifigen Vortrag (Dauer: zwei halbe Bierchen) darüber hielt, wie loyal und rudeltreu Hunde wären und dass sehr atypisch wäre, wie sich der Köter in meiner Story verhalten hat. Ich behauptete erwidernd, selbst Hundekenner zu sein (schließlich hatte ich mal einen) und unterstrich, dass das Viech eher treulos und tendentiell ziemlich merkbefreit gewesen sei, und nicht selten irgendwelchen anderen Leuten hinterherlief, gerne auch mal für eine ziemliche Weile (das nämlich macht der Hund in der Geschichte auch). Die anschließende Diskussion dauerte wieder eine gefühlte Ewigkeit und ich fragte mich währenddessen, warum mir dieser Typ (dem, wie er eingangs behauptete, die Geschichte grundsätzlich gut gefallen habe) ein Ohr abkaute. Ich blieb brav und wiederholte gebetsmühlenartig, dass ich wisse, dass sich die meisten Hunde superprimalassiemäßig verhalten, was aber nicht dagegen spräche, dass es einzelne Kläffer geben könne, die eben nicht aus der Zeitung vorlesen oder Mama begatten, wenn Papa mal einen über den Durst getrunken hat und deswegen nicht kann. Die Argumente nahm er bestenfalls zur Kenntnis, aber wir drehten uns im Kreis. Irgendwann rettete mich dann jemand, der ein Buch signiert haben wollte. Wahrscheinlich hatte der Mensch erwartet, dass ich sofort den Korrekturstift aus der Tasche ziehen und die Story vor seinen Augen hundekennermäßig umschreiben würde.


    Das ist kein Einzelfall. Es gibt Leute, die verwechseln fiktionale Literatur mit Sammlungen von Alltagsweisheiten oder sogar Lebensanleitungen. Da wird es dann sehr schwierig, wenn man Leserbriefe bekommt, in denen einem vorgeworfen wird, man würde Alkohol heroisieren (dutzendfach zu "Idiotentest") und Menschen beleidigen, die Partner von Alkoholkranken oder sogar -toten wären. Großer Gott. Wenn man jedes denkbare Fettnäpfchen auslassen würde, gäbe es nichts mehr, worüber man verdammtnocheins schreiben könnte. Und warum zur Hölle lesen diese Leute solche Bücher? :wow


    Undsoweiter. Ich habe gut gefüllte Mailordner mit Leserbriefen, die mich tendentiell fassungslos gemacht haben. Selbsternannte Kritikerpäpste, notorische Besserwisser, tränendrüsige Betroffenheitsapostel. Da muss man durch, und irgendwie ist es ja auch lustig, wenn man auf diese Art Spaß steht. Ich versuche, höflich zu bleiben und meinen Standpunkt zu erklären, was leider nicht selten zur Folge hat, dass aus Leserbriefen Lebensgeschichten und -beichten werden. Irgendwann zieht man dann die Reißleine und antwortet einfach nicht mehr.


    Aber es gibt auch Trost. Die überwiegende - weit überwiegende - Zahl der Leser, die sich zu Wort melden, wollen sich einfach nur bedanken oder mitteilen, dass das Buch etwas in ihnen ausgelöst hat. Aus solchen Zusendungen sind schon spannende Briefwechsel und in Einzelfällen sogar Freundschaften entstanden.

  • Ich glaube, der Thread wird spannend, Alice!
    Meine unmaßgebliche Meinung als Leser: Da ich von Autoren erwarte, dass sie klüger, weiser und erfahrener als ich sind und zudem mit Sprache, Stil, Plotting und was es alles gibt, das ich nicht kenne, 1000mal besser umgehen können als ich, hoffe ich, dass kein guter Autor auf inkompetente Leser wie mich hört. :grin
    Aber ich bin gespannt auf Eure Erfahrungen als Autoren.

  • Zitat

    Original von Babyjane
    @ Tom
    Ich kenn den Hund. :lache


    Und ich die Geschichte, die war grandios.


    Und für mich durchaus glaubwürdig! Und ich kenne auch eine Menge Hunde!

    :lesend Anthony Ryan - Das Heer des weißen Drachen; Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
    :zuhoer Tad Williams - Der Abschiedsstein

  • Hallo, Alice.


    Zitat

    Klar, jede Art von Feedback ist gut, solange es nicht in die Polemik abrutscht bzw. völlig ohne Bezug zum Buch ist. Und es ist sicher schön, wenn die Leser regen Anteil an Persönlichkeiten nehmen, die man selbst geschaffen hat. Einerseits. Aber andererseits kommen dadurch vielleicht andere Facetten, zu denen man als Autor auch gerne das eine oder andere Wort gehört hätte, zu kurz. Darum kreist meine Frage.


    Zunächst einmal melden sich natürlich - bezogen auf die gesamten Verkäufe - nur außerordentlich wenige Leser zu Wort. Ein Forum wie die Büchereule bietet da die Chance, mehr und intensiveres Feedback zu erhalten. Das ändert aber nichts daran, dass die meisten Leser schweigen, jedenfalls den Autoren gegenüber, und nur mit ihren Freunden über Bücher reden, sie weiterempfehlen oder vor ihnen warnen. Viele Leser nehmen Bücher auch einfach so wahr, wie sie sind. Sie lesen sie, fühlen sich gut oder schlecht unterhalten, erleben mit oder sind genervt, aber wenn sie das Teil zuklappen, greifen sie zum nächsten Buch, ohne dass sich die Welt großartig verändert hat. Man sollte seine eigenen Werke auch nicht überschätzen. Oder zum Beispiel die Büchereulen für repräsentativ halten. :grin


    Jeder Leser nimmt Bücher individuell wahr. Sein Leseempfinden und -eindruck hängt auch sehr vom persönlichen Umfeld, vom Erleben, vom Hintergrund ab. Deshalb lässt sich auch so gut wie keine geschmäcklerische Rückmeldung generalisieren. Wer in einer bestimmten Branche tätig ist, zum Beispiel Staubsauger verkauft, entdeckt im Alltag sehr viel mehr Elektrogeschäfte oder Lieferwagen von Staubsaugerherstellern als jemand, der damit nichts zu tun hat. Das gilt auch fürs Lesen - siehe Beispiel mit den Alkoholismusvorwürfen weiter oben. Wenn man gerade verlassen wurde, wirkt ein Liebesroman anders als wenn man gerade unter Glückshormonstau steht. Aber wir schreiben für alle Leute und wissen nicht, wie sie beim Lesen dabei sind.


    Natürlich wünscht man sich, dass bestimmte Elemente oder Aspekte auf bestimmte Weise ankommen, dass Leser bemerken, was einem wichtig war, dass sie Botschaften erkennen oder sich in die gleichen Figuren verlieben, in die man beim Schreiben selbst verliebt war. Zu erwarten ist das allerdings nicht. Und unter diesem Aspekt muss man Feedback bewerten. Das ist äußerst diffizile, vielschichtige Kommunikation, die nur schwer zu kategorisieren ist. Zu hohe Erwartungen sollte man m.M.n. nicht stellen.


    Zudem richtet sich die Kritik, so sie erfolgt, auf ein fertiges Produkt. Das Buch, das im Laden steht, kann man nicht mehr ändern. Man sollte es nicht einmal erklären.


    Trotzdem gehe zumindest ich auf jede Kritik ein, aber meistens nur unter dem Aspekt, sie verstehen zu wollen, was auch für die oben genannten Aspekte (Hintergründe, persönliche Situation) gilt. Ein Buch, das im Handel ist, ist für mich "durch". Ich liebe es von ganzem Herzen, aber das Kind ist volljährig und muss ohne mich zurechtkommen; ich habe meinen Teil geleistet. Gespräche über dieses Kind machen großen Spaß, aber für Erziehungsratschläge ist es zu spät. Ich merke sie mir dennoch, und vielleicht wende ich sie beim nächsten Kind an. Möglich.

  • Hallo Alice



    "Sehr oft machen sich die Leser nur darüber Gedanken, wieso irgend ein Charakter sich so oder so verhält und ob er nett ist oder nicht - selbst in hiesigen Leserunden.
    Das muss doch für den Autor etwas dürftig sein?"


    Warum sollte das für den Autor dürftig sein? Eine Geschichte lebt durch die Figuren, die in ihr auftreten. Wenn sich der Leser Gedanken um eine Figur macht und sich fragt, warum sie so oder anders handelt, ob sie sympathisch ist oder ein Schurke, dann hat der Autor alles richtig gemacht, dann hat er hat eine lebendige Figur geschaffen. Und das gilt meiner Meinung nach für alle Arten von Romane, ganz gleich ob Thriller oder Historienroman. Menschen reden und tratschen über Menschen, über Nachbarn, Freunde und Kollegen, weil sie sich für andere Menschen interessieren. Warum hat die „Lindenstraße“ so einen lang anhaltenden Erfolg? Weil sie der Blick durch das Küchenfenster des Nachbarn ist! Hochtrabende Botschaften kommen bei mir als Leser nur an, wenn sie in spannende Geschichten verpackt sind, und das geht eben nur über die Charaktere. Rückt die „Message“ eines Romans zu sehr in den Vordergrund, nervt mich das eher. Dann lese ich lieber ein Sachbuch zu dem entsprechenden Thema.
    Stil und Originalität entwickeln sich ebenfalls nur durch die Figuren. Sie bestimmen, was als nächstes passiert, und zwar wiederum aufgrund ihrer Eigenarten und ihres Charakters. Ich behaupte folgendes: Sind die Figuren passiv oder unglaubwürdig angelegt, spürt der Leser das nach spätestens 10 Seiten – gleichgültig, ob er Germanistik studiert hat oder ob er überhaupt nichts über Grammatik und Satzaufbau weiß.
    Darum werde ich als Autor meine Leser nie kritisieren. Sie sind für mich das unverzichtbare Messgerät, ob meine Geschichten funktionieren.
    Dass man es niemals allen Lesern Recht machen kann, zeigt das Beispiel von Tom’s Hund. Es zeigt aber auch gleichzeitig, dass seine Geschichte funktioniert hat – egal ob der eine nun Hunde als treue Partner des Menschen ansieht oder als sabbernder, Pansen verschlingender „Dertutnix“. Er hat mit dem Hund eine Figur erschaffen, die bei den Lesern unterschiedliche Reaktionen hervorruft. So sollte es sein. Es hängt natürlich immer auch von der Einstellung des Lesers ab, wie er eine Figur wahrnimmt.
    Diese unterschiedlichen Reaktionen habe ich auch erfahren. Ein Leser beklagte sich bei mir über das Happy-End in meinem Erstling. Er hätte es lieber gesehen, wenn eine der Hauptfiguren nicht überlebt hätte. Ein anderer kritisierte, dass ich den Bösewicht im Roman auf schreckliche Weise enden ließ. Kommentar dazu: „Der war doch so cool!“ Das hat mich umgehauen - eine Reaktion, mit der ich nie gerechnet hätte. Und dennoch haben mich beide Reaktionen gefreut. Es ist der Zauber der Identifikation, der den Leser gefangen nimmt. Schaffe ich es als Autor, dass der Leser sich mit einer Romanfigur identifiziert, wird er das Buch als gelungen empfinden. Das große Thema, um das es dabei geht, ist gar nicht sooo wichtig.


    Dean

  • Zitat

    Original von dean
    "Sehr oft machen sich die Leser nur darüber Gedanken, wieso irgend ein Charakter sich so oder so verhält und ob er nett ist oder nicht - selbst in hiesigen Leserunden.
    Das muss doch für den Autor etwas dürftig sein?"


    Warum sollte das für den Autor dürftig sein? Eine Geschichte lebt durch die Figuren, die in ihr auftreten. Wenn sich der Leser Gedanken um eine Figur macht und sich fragt, warum sie so oder anders handelt, ob sie sympathisch ist oder ein Schurke, dann hat der Autor alles richtig gemacht, dann hat er hat eine lebendige Figur geschaffen.
    [...] Es ist der Zauber der Identifikation, der den Leser gefangen nimmt. Schaffe ich es als Autor, dass der Leser sich mit einer Romanfigur identifiziert, wird er das Buch als gelungen empfinden. Das große Thema, um das es dabei geht, ist gar nicht sooo wichtig.


    Das kommt vielleicht auch ein wenig auf den Leser an. Mir z. B. ist es völlig egal, ob ich mich mit einer Romanfigur identifizieren kann oder nicht. Das ist nicht mein Ziel. Ich habe auch kein Problem damit, wenn die Romanfigur Sachen tut und Gedanken denkt, die ich nie selbst tun oder haben würde. Das ist für mich der Sinn des Lesens, dass man neue Perspektiven erlebt und das geht bekanntlich nicht durch Sühlen im eigenen Dunst.
    Entscheidend ist, dass der Autor es nachvollziehbar darstellen kann, warum jemand wie handelt. Ich habe mich kürzlich über die Ehegeschichte in O'Neills "Niederland" mokiert, weil ich es völlig unsinnig fand, warum sich die Eheleute trennen. Das Problem war aber wahrscheinlich nicht die Trennung aus für mich banalen Gründen, sondern offensichtlich die Schwäche des Autors, mir zu erklären, wie es aus solch banalen Gründen zu einer Trennung kommen kann.


    Nicht die Frage, ob eine Figur sympathisch ist oder nicht, ist für mich entscheidend, sondern ob es nachvollziehbar ist. Orhan Pamuks Hauptfigur in "Museum der Unschuld" handelt völlig irrational und nach normalen Maßstäben "idiotisch". Aber Pamuk kann darstellen, warum er so handelt. Das ist die Kunst. Identifikation macht mich ehrlich gesagt nur stutzig - das hatte ich mit 12 Jahren bei meinen Pferdebücher, aber irgendwann muss man doch mal erwachsen werden. :grin

  • Hallo Vulkan


    Das mit der Identifikation klappt durch die Hintertür. Ganz wie Du es beschreibst: Wenn eine Romanfigur nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten agiert, wird sie unglaubwürdig. Der Leser spürt das und er kann sich mir ihr nicht mehr identifizieren. Bei der Identifikation geht es mir nicht um das Anhimmeln einer heldenhaften Romanfigur, sondern darum, dass der Leser mit der Figur leidet, wenn sie Schreckliches erlebt, und sich mit ihr freut, wenn sie im Roman glücklich ist, eben das nachempfinden kann, was die Figur durchmacht.
    Ein Beispiel: Nehmen wir an, unser Romanheld ist ein schwächlicher Junge, der in der Schule ständig die Jacke voll kriegt. Wenn ich als Autor dem Jungen einfach einen Wagenheber in die Hand drücke und ihn seine Widersacher totschlagen lasse, funktioniert das nicht. Man könnte fragen: "Was ist daran falsch?" Ganz einfach, der Leser wird sagen: "Ne, das ist nicht der Junge, den ich kenne, der würde sowas nicht tun, da hat der nicht den Mumm zu."
    Trotzdem wird der Leser auf jeder Seite dem Tag entgegenfiebern, an dem es dem Jungen gelingt, sich endlich zu wehren. Nur muss er das im Rahmen seiner Möglichkeiten tun. Vielleicht ist er ein heller Kopf und ihm fällt ein toller Plan ein, seine Widersacher bloßzustellen oder was weiß ich.
    Eine Figur kann sich wie ein Idiot benehmen, aber dann muss sie im Roman auch die Rolle eines Idioten einnehmen. Und ganz wie Du schreibst, es ist die Aufgabe des Autors, dem Leser nahezubringen, warum dieser Typ ein Idiot ist, die Figur muss immer "fassbar" bleiben.


    Dean

  • Zitat

    Diese unterschiedlichen Reaktionen habe ich auch erfahren. Ein Leser beklagte sich bei mir über das Happy-End in meinem Erstling. Er hätte es lieber gesehen, wenn eine der Hauptfiguren nicht überlebt hätte. Ein anderer kritisierte, dass ich den Bösewicht im Roman auf schreckliche Weise enden ließ. Kommentar dazu: „Der war doch so cool!“


    @ dean


    Das ist zum Beispiel auch ein interessantes Phänomen, das es wahrscheinlich nur im schriftstellerischen Bereich ist. Es passiert wohl eher selten, dass sich jemand an einen Maler wendet und sagt:
    "Also ich hätte in diesem Bild ja ein bisschen mehr Rot verwendet. Und der Faltenwurf am unteren Rocksaum hätte ruhig etwas üppiger ausfallen dürfen."


    Liegt wahrscheinlich daran, weil der Bildbetrachter weniger in das Werk reingezogen wird als ein Leser, der die "Fremdgedanken" eins zu eins vermittelt bekommt und sehen muss, wie er damit leben kann.


    Mir als Leser geht es eher wie Vulkan - das Sich-Identifizieren-Können steht nicht im Vordergrund. Es macht ein Buch sicher noch einprägsamer und beeinflusst die positive Wahrnehmung, aber ich achte auch sehr darauf, wie ich die Geschichte sprachlich und vom Aufbau her serviert bekomme.
    Vielleicht tun das andere Leser unbewußt auch, können aber ihre Eindrücke nicht anders beschreiben als über die handelnden Figuren und das eigene Gesamtempfinden.


    Noch ein Vergleich: es ist erfreulich, wenn man etwas kocht und derjenige, der es isst, im Anschluß sagt, dass es lecker war. Noch schöner ist es vermutlich, wenn er ein wenig mehr ins Detail geht. Ähnlich dürfte es dem Autor mit Lesermeinungen gehen, oder?

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  • Und ich freu mich als Leser/Rezensent, wenn der Autor mir bestätigt: "Genau so hab ich's gemeint." Ist schon gelegentlich vorgekommen. :grin


    Wenn ich mich wirklich fragen muss, warum zum Geier der Held dies oder das tut, dann stimmt was nicht mit der Geschichte.


    Bescheuert handeln darf jede Figur, gerne, aber es muss sich dem Leser ein Grund dafür erschließen. Da gibt's den Einzelkämpfer, der gelernt hat, dass er am besten alles selber regelt. Der begibt sich dann auch statt zur Polizei lieber in Teufels Küche.


    Oder diese Nervbratze von Gerichtsmedizinergattin in den Krimis von Elizabeth George. Ich hab sogar schon ihren Namen verdrängt. Die macht doch nur Sch***. Aber es ist halt eine verwöhnte und weinerliche Zimtzicke und handelt unter dieser Prämisse ausgesprochen konsequent.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Oft tut eine Figur etwas, das einfach für die Geschichte nötig ist. Ein Großteil der Leser wünscht sich aber einen "perfekten" Helden, der das verkörpert, was sie gern wären. Dann sind sie enttäuscht, wenn eine Figur nicht so heroisch handelt. Nur würden Geschichten unglaubwürdig, wenn alle nur noch über solche Supermänner/Superfrauen schreiben würden.
    Wie so oft stellt sich die Frage "Will ich eine Geschichte erzählen, oder gebe ich den Lesern einen tollen Helden, der sie sich gut fühlen läßt?"
    Und erzählt mir nicht, die Leser würden diese Figuren nicht wollen, denn nur so funktionieren Filme/Bücher/Comics wie Star Wars, Matrix, John Sinclair u.ä. die ja sehr erfolgreich sind, obwohl da keinerlei Geschichte oder Inhalt zu erkennen ist

  • @ Vandam



    "Wenn ich mich wirklich fragen muss, warum zum Geier der Held dies oder das tut, dann stimmt was nicht mit der Geschichte. "


    (Vielleicht wäre mal jemand so freundlich, mir zu erklären, wie man ein Zitat einfügt, dass es als solches erkennbar ist - ich bin für sowas zu blöd)


    Das ist es, was James N. Frey "die Figuren im Schmelztiegel halten" nennt. Wenn eine Romanfigur vor seinem Widersacher Angst hat, muss der Autor dafür sorgen, dass sie nicht weglaufen kann, denn das würde sie im wahren Leben wahrscheinlich tun. Die Leser wollen aber nun mal nichts über Feiglinge lesen, über statische und passive Charaktere - kein Mensch interessiert sich für so eine Figur. Also muss der Autor die Figur zwingen, zu kämpfen - aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Je geschickter er das tut, desto spannender wird die Geschichte. Ken Follett zum Beispiel ist ein absoluter Meister darin. Darum mag man seine Bücher am liebsten in einem Stück lesen.


    Dean

  • @ Dichterdämon


    "Oft tut eine Figur etwas, das einfach für die Geschichte nötig ist. Ein Großteil der Leser wünscht sich aber einen "perfekten" Helden, der das verkörpert, was sie gern wären."


    Ich bin mir nicht sicher, ob der Held immer perfekt sein muss. Der Kampf David gegen Goliath ist durchaus reizvoll. Jemand, der perfekt ist, ist eigentlich stinklangweilig. Eine gute Figur sollte ihre Ecken und Kanten haben und darf ruhig unbequem sein. Bleiben wir mal bei Star Wars. Man stelle sich Han Solo als aufrechten, strahlenden Helden vor. Gääähhn! George Lucas hat Solo als "Schurken" konzipiert, der mit einer vergammelten Schrottmühle auf Schmuggelfahrt geht. Und damit gibt er ihm die Chance, sich zu entwickeln. Zu Beginn denkt er überhaupt nicht daran, für die Ideale der Rebellen seinen Hals zu riskieren, er will seine Credits, das war's für ihn. zum Schluß handelt er sehr selbstlos, aber immer noch auf seine ureigene Weise.


    Dean

  • Zitat

    Zitat von dean
    Die Leser wollen aber nun mal nichts über Feiglinge lesen, über statische und passive Charaktere - kein Mensch interessiert sich für so eine Figur.


    Doch. Die Leser von Hedwig Courths-Mahler und anderen Schriftstellern älterer Semester.


    Es gab mal Zeiten, da war die passive, duldsame Frau das Idealbild. Auch in Romanen. :-)

    :flowersIf you don't succeed at first - try, try again.



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