Räuberhände ist die Geschichte von Janik und Samuel. Und die Geschichte von Janiks Eltern und Samuel. Ebenso die Geschichte von Janik und seinen Eltern. Und von Samuel und seiner Mutter Irene. Von Janik und Irene. Und ein wenig von Lina. Ihren Eltern. Von Janiks Eltern und Irene, davon schon mehr. Auch von Janik und Bubu, gar nicht so wenig. Von Samuel und seinem unbekannten Vater. Von Janik. Und von Samuel.
Janik und Samuel sind zwanzig, sie kennen sich seit der siebten Klasse. Samuel ist ohne Vater aufgewachsen, seine Mutter ist Alkoholikern und sitzt meist bei den anderen Trinkern vor dem Supermarkt. ‚Pennerin’, sagt Samuel. Janik sagt es auch, er sagt meist das, was Samuel sagt. Samuel ist sein Bruder, sein Vorbild, sein Traum. Wo Samuel geht, folgt Janik. Am liebsten wäre er Samuel. Janiks Eltern haben Samuel quasi adoptiert, er hat sogar ein Bett in Janiks Zimmer. Janiks Eltern sind die besten Eltern der Welt. Sie sind glücklich verheiratet, beide im Schuldienst, sie wissen alles. Vor allem wissen sie immer, was zu tun ist, und sie tun immer und grundsätzlich das Richtige. Sie wissen, wann man Jungen Freiheiten zugestehen kann und wann es angebracht ist, die Zügel ein wenig zu straffen. Sie wissen, was andere brauchen, um glücklich zu sein. Sie unterstützen unauffällig Irene. Als Samuel den Vorschlag macht, daß er sich zusammen mit Janik einen kleinen Schrebergarten zulegt, stimmen sie sofort zu.
Samuel wächst und gedeiht unter ihrem Schutz, aber er hat auch eigene Träume. Einer davon ist der Traum von seinem türkischen Vater. Er entstand aus einer Bemerkung Irenes, halbnüchtern, halbbetrunken, unbeweisbar. Samuel aber ist sicher. Er tauft den Schrebergarten ‚Stambul’ und beginnt, Türkisch zu lernen. Gleich nach dem Abitur und auch als Geschenk zwanzigsten Geburtstag plant er eine Reise nach Istanbul, dort will er seine Heimalt und seinen Vater finden. Die Reise findet statt und bildet einen Teil dieser Geschichte. Janik folgt Samuel, blind, wie gewohnt.
Aber Janik ist eben Janik und nicht Samuel. So kommt es kurz vor dem Abflug zu einer dramatischen Begegnung zwischen Irene und Janik, die fast zur Tragödie wird. In Istanbul muß Janik sich endlich eingestehen, die er und sein bester Freund zwei sehr unterschiedliche Personen sind, daß sie mit den Jahren auseinadergewachsen sind, trotz aller Liebe und Nähe (oder deswegen?). Daß er Samuel nicht weiter begleiten kann, auch wenn er noch etwas für ihn erledigen kann.
‚Räuberhände’ ist der Debütroman von Finn-Ole Heinrich (geb. 1982 in Cuxhaven). Er kommt leise daher, Janiks Erzählstimme ist ruhig, fast gelassen. Erst mit der Zeit spürt man seine Verzweiflung.
Der Roman ist recht vertrackt konstruiert. Eigentlich ist es eine Rückschau aus einer fiktiven, sehr kurzen Jetztzeit. Diese läuft ab, ihre Ereignisse sind in wenigen knappen Sätzen, in kleiner Schrift und in eckige Klammern jeweils über die einzelnen Abschnitte gesetzt. Im Haupttext mischen sich die Geschichte von Samuel und Janik aus den vergangen sieben Jahren mit dem gerade erst verstrichenen Aufenthalt in Istanbul. Die Sprünge zwischen den Zeiten sind nicht nur kunstvoll ausgeführt, sondern ein wesentlicher Pfeiler des schwierigsten Teils der ganze Konstruktion, nämlich des sich immer stärker verdichtenden Beziehungsgeflechts der Figuren. Heinrich gelingt es dabei, auf gerade unheimlicher Weise das Angedeutete und Unausgesprochene immer mehr Raum greifen zu lassen, bis es zur Klangfarbe geworden ist, die Janiks Stimme bestimmt. Seine Unentschlossenheit, seine innere Zerrissenheit zwischen seinen vielen Liebesgefühlen - zu Samuel, den Eltern, der gleichaltrige Freundin Lina, zu Bubu, dem Penner, den er zum Abenteurer idealisiert, zu Irene - werden im Lauf der Geschichte immer deutlicher. Ebenso sein Haß den gleichen Personen gegenüber, bis hin zum Selbsthaß.
‚Räuberhände’ ist die Bezeichnung, die Janik für Samuels Hände hat, weil dieser, von Kopf bis Fuß äußerlich ein Junge aus besten Haus, seine Finger blutig beißt, Zeichen seines inneren Drucks, Zeichen, daß etwas ‚nicht stimmt’. Zugleich ist der Ausdruck eine stete Erinnerung daran, wie die beiden zu Freunden wurde. Samuel wurde in der Schule einmal als Dieb verdächtigt, das Pennerkind eben, zu Unrecht allerdings. Keiner hielt zu ihm, nur Janik.
Aber es ist nicht nur Samuel, der Räuberhände hat in diesem Buch. Auf ihre Art betätigt sich jede Person in diesem Buch räuberisch. Samuel raubt Janiks Eltern, Janiks Eltern rauben aufgrund ihrer schieren Perfektion Janik den Lebensatem, Irene raubt Samuel durch ihren Alkoholismus das Leben, Samuel raubt ein türkisches Leben für sich. Janik raubt Lina. Irene raubt Janik. Oder raubt Janik Irene? Bubu raubt sein Essen, dreimal täglich im Supermarkt, ein durch und durch räuberischer Schnorrer. Die Unfallhand von Janiks Vater. die ‚Quallenhand’ ist nur ein weiteres Bild von Händen in diesem Buch, die nach etwas greifen, es umfassen, umkrallen. Zuneigung, Liebe, das Leben. Nur nicht loslassen, gleich, ob es einem zusteht oder nicht.
Es ist kein Roman vom Erwachsenwerden, es gibt keinen Endzustand, den man anstreben könnte. Dem Autor gelingt es, das Leben als Geflecht vielschichtiger Beziehungen und Gefühlslagen zu zeichnen, die man mit Worten allein nicht mehr entflechten kann. Es ist eine Identitätssuche, die von der steten Erkenntnis begleitet wird, daß Identität alles andere als eine feste Größe ist. Es ist der Roman einer haßerfüllten Abrechnung mit Eltern, die man zugleich liebt, egal, ob sie perfekt oder Penner sind. Es handelt von vagen Sehnsüchten, von heimlichen Begierden, davon, wie sinnlos Träume sind und zugleich wie wichtig.
Es ist die Geschichte von zwei jungen Männern. Von Eltern. Von maßloser Liebe. Von bohrendem Haß. Vom Zusammenwachsen und Auseinandergehen. Von Janik und Samuel. Von Samuel. Und ganz besonders von Janik.