Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1 - Warlam Schalamow

  • Kurzbeschreibung:
    In den Erzählungen aus Kolyma verarbeitet Schalamow seine Erfahrungen aus seiner Zeit im Gulag. Dieser Band ist der erste einer Werkausgabe im Matthes & Seitz-Verlag.


    Über den Autor:
    Warlam Schalamow (1907-1982) gilt als einer der einflussreichen russischen Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1937 wegen angeblicher konterrevolutionärer Aktivitäten verhaftet und verbringt die Zeit 1953 in diversen Gefängnissen und im Gulag.


    Meine Meinung:
    Ich bin auf Schalamow durch Iris Radischs begeisterte Kritik aufmerksam geworden. Sie bezeichnete Schalamow als eine der intensivsten Leseerfahrungen. Zudem grenzte sie ihn sehr positiv von Solschenizyn – sicher immer noch vielen eher bekannt – ab.
    Es fällt mir schwer, meine Rezension nicht vor dem Vergleich zu Solschenizyn zu schreiben, verzeiht also entsprechende Vergleiche.
    Schalamow beschreibt in meist relativ kurzen Geschichten Episoden und Erlebnisse aus dem Alltag von Lagerhäftlingen – teilweise wohl sehr autobiographisch. Die Sprache ist dabei sehr sachlich, distanziert, doch entfaltet im Zusammenhang mit dem Inhalt durchaus einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte.
    Die Erlebnisse sind zum großen Teil unvorstellbar grausam, die nur durch die distanzierte Erzählweise für mich als Leser einigermaßen erträglich blieben. An einigen Stellen schweigt Schalamow sogar und nur aus dem Schweigen und dem Wissen um die Umstände kann man auf den Ausgang schließen.
    Es gibt einige allgemeinere Überlegungen und Sentenzen, die sich mir nachdrücklich in das Gedächtnis eingebrannt haben – z. B., dass Freundschaft nicht im Unglück entstehe. Da wo es noch Freundschaften gebe, sei die Not nicht groß genug. In wirklicher Not zeige sich nur die eigene Kraft. Oder die Beschreibung der Kälte, die nicht nur Knochen und Hirn, sondern auch die Seele einfrieren lasse.
    Was mich an Schalamow im Verlauf des Buches gestört hat, waren drei Dinge:
    1. Die Geschichten sind doch sehr kurz und zerfasert, mit der Zeit wird es – bei aller Dramatik des Beschriebenen – doch etwas zäh.
    2. Ich fand, dass Schalamow eine merkwürdige Distanz zu seinen Figuren hat. Ob dies durch die Form der Kurzgeschichten oder das autobiographische Verhältnis bedingt ist, weiß ich nicht. Aber die Charaktere blieben für mich fremd. Das hat allerdings den Vorteil, dass ich als Leser mich wiederum gut von den Erzählungen distanzieren konnte und bspw. keine Alpträume wie bei Solschenizyn hatte.
    3. Schalamow thematisiert praktisch an keiner Stelle die Frage, warum die Menschen diesen Bedingungen ausgesetzt werden. Das, was bei Solschenizyn eine große Rolle spielt – die Unmenschlichkeit, die Irrwitzigkeit der stalinistischen Verfolgungen, das Klima der Denunziationen, dem begegnet man bei Schalamow nicht. Während ich bei Solschenizyn das Gefühl hatte, dass er versucht, im Gegensatz zum unmenschlichen System die Menschlichkeit der einzelnen Personen (durchaus auch mit ihren Schwächen und Fehlern) herauszuschälen, liest man bei Schalamow kaum etwas über das stalinistische System und seine Anhänger als Triebfeder des Gulags. Im Gegenteil, er stellt sogar die Kriminellen im Gulag, also jene, die (auch wenn er schon dies nicht mehr explizit ausführt) nicht aus politischen Gründen inhaftiert sind, als die eigentlichen Unmenschen und die wahren Feinde des Häftlings dar – zumindest kam es bei mir so an.
    Insgesamt finde ich Schalamows Erzählungen eindrucksvoll, weil sie zeigen, wie Menschen sein können und dass das Wort „Menschlichkeit“ durchaus einen doppeldeutigen Sinn haben kann.
    Mir persönlich sagt Solschenizyn mehr zu – ich empfinde ihn, der eine ähnliche Lebensgeschichte zur Zeit der stalinistischen Sowjetunion hatte, als idealistischer, als hoffnungsvoller, als einer, der zwar noch deutlicher die Grausamkeiten, die Brutalitäten ausspricht, der aber auch mehr Mitleid für die von ihm beschriebenen Schicksale zeigt (vielleicht deswegen auch insgesamt schwerer zu ertragen ist) und zudem durch seine Analysen zur Genese und zu den Konsequenzen des Stalinismus mir mehr zusagt.


    Trotzdem finde ich es wirklich begrüßenswert, dass der kleine Berliner Verlag sich die Werkausgabe von Schalamow zum Ziel gesetzt hat. Für diejenigen, die sich für russische Literatur des 20. Jahrhunderts oder für die literarische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus interessieren, ist Schalamow sicher ein lohnender Autor. Wer an der Verarbeitung von existentiellen, lebens-und menschenfeindlichen Situationen interessiert ist, müsste ebenso mit diesem Buch gut bedient sein.

  • Ich kann dieses Buch nur empfeheln und mich hat es gerade wegen der Distanz zu den Figuren sehr mitgenommen.


    Übrigens ist der zweite Teil jetzt erhältlich! "Linkes Ufer"

  • @ Foer
    Stimmt, der zweite Band ist raus. Ich weiß momentan noch nicht, ob ich die Werkausgabe sammeln möchte oder nicht - aber das hat ja Zeit.


    Mitgenommen hat mich das Buch auch, ohne Frage, und gegen diese distanzierte Schreibweise habe ich prinzipiell nichts. Aber irgendwie fehlt mir trotzdem etwas - schwer zu beschreiben. Aber ich nörgele auf sehr hohem Niveau, das Buch lohnt sich wirklich. (Und dass ich Solschenizyn sehr, sehr, sehr schätze, ist hoffentlich deutlich geworden, so dass sich die Nörgelei an Schalamow noch weiter relativiert.)