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'Der Mann ohne Eigenschaften' - Seiten 0001 - 0082
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Ich habe bereits begonnen und bin auf Seite 47 (Ende Kapitel 13, Die Dame, deren Liebe Ulrich nach einem Gespräch über Sport und Mystik gewonnen hat) vorgedrungen.
Mein erster Eindruck:
es lässt sich recht flüssig lesen, dieses Buch. Die Kapitel sind kurz und überschaubar, das hält mich bei der Stange. Die Sprache ist etwas gewunden, Sätze gehen über mehrere Zeilen, trotzdem ist sie verständlich. Gelegentlich blitzt ironischer Humor hervor.Inhalt:
Die Kapitel sind inhaltlich nur lose verbunden. Personen werden vorgestellt: Ulrich, seine Geliebten, sein Vater. Umstände werden vorgestellt: sein Haus, sein Lernen, ein paar Erlebnisse. Ich hoffe, irgendwann fügt sich alles in ein Bild und die vielen Details gewinnen im Verlauf der Handlung an Bedeutung. -
Ich habe auch schon zu lesen angefangen und bin sogar schon ein klein wenig weiter als du.
Ich muss aber sagen, dass ich es keineswegs 'leicht zu lesen' finde, sondern eher den Eindruck habe, dass diese Buch eine hohe Konzentration beim Lesen erfordert... die langen Sätze sind ja nicht nur lang, sondern auch sehr gehaltvoll Ich finde aber gerade das macht auch den Reiz des Buches aus, auch wenn ich langsamer vorwärts komme als gewohnt.
Gerade das Eingangskapitelchen ('Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht') zeichnet ja schon auf 2 1/2 Seiten ein dichtes Bild der Gesellschaft:
Der Puls der Zeit, die Massen, das Gedränge und Geschiebe, das Durcheinander, das scheinbar aber doch irgendeiner Ordnung gehorcht. Dann wird diese Ordnung durchbrochen: Ein Autounfall. Interessant, wie die Menschen erst mit Schock reagieren und dann mit der Bemerkung: "Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg" alles wieder von sich schieben und in die Ordnung re-integrieren. Sie selbst haben mit den Geschehnissen nichts zu tun, der Unfall lässt sich mit den Gesetzen der Physik, der Mechanik erklären. Auch ist ja für die Bewältigung solcher scheinbaren 'Unordentlichkeiten' gesorgt: durch staatliche Institutionen wie den Rettungswagen. Den Einzelnen geht das nichts an, der Fluss geht also bald ungestört weiter.Ich sehe da schon die Grundlagen für die späteren Reflexionen Ulrichs (und Walters) auf die Gesellschaft.
Morgen mehr...
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Also das Wort "leicht" habe ich nicht benutzt, bewusst. Ich hegte die Befürchtung, ich müsste mich durch das Buch schlagen wie durch Ulysses, an dem ich nachweislich gescheitert bin, und war deshalb angetan von der relativ verständlichen Sprache Robert Musils. Der Inhalt steht auf einem anderen Blatt. Ich komme also schneller, aber immer noch langsam vorran.
Mit dem ersten Teil bin ich durch. Am faszinierendsten fand ich das Kapitel "Moosbrugger". Das Innere eines Mörders, der, wenn ich es recht verstanden habe, keiner sein wollte. Und gleichzeitig die Sicht von aussen, das Unverständnis der Beobachter. Auch ich bin ein Mensch, der verstehen möchte und der irritiert reagiert, wenn das nicht gelingt.
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Du hast recht, entschuldige, dann habe ich dich auch noch falsch zitiert Wobei im Vergleich zum Ulysses wahrscheinlich sogar 'leicht' fast eine angemessene Bezeichnung wäre... am Ende ist doch alles relativ (Bin ich jetzt auch eine Frau ohne Eigenschaften?)
Ja, das Moosbrugger-Kapitel fand ich auch sehr eindrucksvoll.
Besonders interessant fand ich, wie Psychater, Psychologen, Richter und Journalisten immer versuchen, Moosbrugger durch Worte quasi 'einzufangen' und zu definieren, aber genau dagegen scheint er sich ja am meisten sperren zu wollen. Er selbst sieht sich ja als "eine ganze Welt" und lässt sich nicht als Teil eines Ganzen einordnen.. deshalb meiner Meinung nach am Ende auch das Todesurteil: Was sich nicht einordnen lässt, muss verschwinden.Ich glaube, dass das beinah eine allgemeine menschliche Eigenschaft ist, irritiert zu reagieren, wenn man etwas nicht versteht, und das wird ja hier, wie du auch sagst (wenn ich dich diesmal richtig verstehe ), ganz eindrucksvoll vorgeführt. Daher auch Ulrichs etwas 'andere' Position zu Moosbrugger, denn Ulrich ist ja schließlich der Mensch 'ohne Eigenschaften'.
Was das genau heißt, darüber müssen wir dann später vielleicht alle noch mal reden...
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Das "Missverstehen" geht schon in Ordnung, ich habe es nur richtig gestellt um nicht als intellektuelle Allesversteherin und Hochliteraturverschlingerin dazustehen. Du würdest mich sehr schnell als das Gegenteil entlarven.
ZitatQ-fleck
Besonders interessant fand ich, wie Psychater, Psychologen, Richter und Journalisten immer versuchen, Moosbrugger durch Worte quasi 'einzufangen' und zu definieren, aber genau dagegen scheint er sich ja am meisten sperren zu wollen.
Das ging mir ebenso. Was mich aufhorchen ließ war die Tatsache, dass er vor seinem Opfer flüchtete und sie "schuldig" wurde, weil sie sich ihm lästig anhängte. Ich frage mich nun, war es tatsächlich so oder hat er sich das so zurecht geredet/gedacht um sich zu rechtfertigen? Man wird es wohl nie wissen. Und genaus dieses nie ganz wissen können ist es, was mich so irritiert.Ob er aus Grund des Nichteinordnenkönnens verschwinden muss, kann ich nicht beurteilen. Fakt für mich ist: er hat eine Frau umgebracht, er gehört dafür bestraft. Die Todesstrafe allerdins ist nicht mein Ding.
Ja und die Frage, was ein Mann ohne Eigenschaften eigentlich ist, treibt mich ebenfalls um. Ulrich hat ja Eigenschaften, jedenfalls bisher. Vielleicht hat er die, weil ich sie ihm "andenke"? Was müsste er tun bzw. nicht tun, um keine zu haben? Sich nicht festlegen? Keine Entscheidungen treffen? Nur beobachten? Ich weiß es (noch) nicht.
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Das ist ja interessant, welche Eigenschaften schreibst du Ulrich denn zu?
Was mit der Bezeichnung gemeint sein könnte, wird ja aus Walters Äußerungen vielleicht ein wenig deutlicher, schließlich ist er es, der Ulrich so nennt: Walter scheint mir ein wenig in den Denkweisen der Klassik verankert, für ihn gibt es absolute (humanistische) Werte, wie die Seele, Menschlichkeit, klare, deutliche Formen, während Ulrich ja alles irgendwie relativiert, die Dinge immer aus den verschiedensten Sichtweisen betrachtet und von daher auch keine eindeutigen Urteile fällt.
Aber das ist es jetzt erstmal ein recht oberflächlicher Befund, habe den Text grad nicht zur Hand, vielleicht später mehr.
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Hey, wunderbar. Das mit der Relativierung von Ulrich und dem nicht Festlegen kommt meinem Eindruck sehr nahe, ich habe nur nicht die passenden Worte gefunden.
Ich schreibe ihm trotzdem folgende Eigenschaften zu: Eigensinn, Wiederspenstigkeit, Stolz ...
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Ah, super.
Bei Eigensinn würde ich dir auf jeden Fall zustimmen, schließlich will er die Dinge schon so machen, wie es ihm gefällt und lässt sich auch nicht so sehr reinreden. Bei den beiden anderen Eigenschaften weiß ich nicht, ob sie nicht zu stark für ihn sind..? Stolz.. hm..
Interessant fand ich auch den Teil über seine Wohnungseinrichtung. Motto: Zeig mir wie du wohnst und ich zeig dir wer du bist. Aber Ulrich gelingt es eben nicht, sich auf eine Linie festzulegen. Immer wieder muss er Neues ausprobieren, Anderes und er bekommt all seine Ideen und Vorstellungen nicht auf den einen Nenner, der es ihm erlauben würde, eine Einrichtung für sein Schlösschen zu entwerfen.
Und so lässt er am Ende einfach den Möbelfirmen freie Hand....Ich glaube eine Große Frage in diesem Buch ist auch die Frage nach Identität. Identität eines Menschen, aber auch Identität einer Nation.
Und ich habe den Eindruck, dass Identität oftmals einerseits über Abgrenzung von etwas Anderem und andererseits über innere Widersprüche erst erreicht wird. (Man denke zum Beispiel an die zehn Charaktere eines Landesbewohners). -
Die große Frage nach dem Inhalt wage ich noch nicht zu beantworten.
Identität ist aber schon mal gut. -
So, die ersten 50 Seiten sind inzwischen gelesen, und ich bin mal wieder ganz begeistert von Musil.
Die erste Frage: Worein führt die Einleitung, die wir hier präsentiert bekommen überhaupt ein. Zum einen in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Jahrhundertwende. Stichworte sind vielleicht für die ersten 50 Seiten am geeignetsten: Kommensurabilität und Technisierung. Der Mann ohne Eigenschaften lebt in einer Welt (und in Wien auch an einem Ort) der grundsätzlichen Zählbarkeit und der grundsätzlichen Erfassbarkeit. Der Mensch und seine Möglichkeiten sind in der Moderne tatsächlich zum Maß aller Dinge geworden (wie Foucault einmal gesagt hat).
Doch das führt auch zu einem unvermeidlichen Relativismus und zu unendlichen Kombinationsmöglichkeiten (es wird zu sehen sein, inwiefern das dasselbe ist). So kommen wir auch zur zweiten großen Frage und zum zweiten großen thema, in das eingeführt wird: In die grundsätzliche Figurenkonstellation und die Frage der Eigenschaftslosigkeit. Ulrich, soviel wird deutlich, ist eigenschaftslos, zu einen weil er "Möglichkeitssinn" besitzt, sich also nicht wie sein Vater zu seinem Besten in die gesellschaftlichen Verhältnisse einfügt, sondern über sie hinauswachsen möchte (interessant in diesem Zusammenhang sind auch die permanenten Nietzschezitate, die ich aber alle nicht zuordnen kann).
Doch eine Welt, in der Rennpferde genial sind, d.h. in der der menschliche Maßstab allem übergestülpt wird und zum Maß aller Dinge wird, ist die Exzellenz, nach der Ulrich strebt, praktisch unerreichbar. Tasächlich beitzt er Eigenschaften, "aber die Möglichkeit ihrer Anwendung war ihm abhandengekommen." (S. 47) In einer Welt, in der alles und jedes zum Herausragenden taugt, kommt es nur noch darauf an, wie man seine Begabungen einsetzt, nicht, welche man hat. In diesem Staium befindet sich Ulrich: Er hat Anlagen, Möglichkeiten, aber keine Ahnung, wie er sie am besten einsetzt. Seine Versuche im Militär, als Ingenieur oder als Mathematiker zu reüssieren laufen alle irgendwann in eine Sackgasse.Ulrich wird zunächst vor allem als ein Mann ohne Prinzipien vorgestellt. Er hat mehrere Freundinnen auf einmal, die ihn aber alle nicht sonderlich kümmern; er hat auch keine starken moralischen Prinzipien, man hat den Eindruck, dass eigentlich alles für ihn in Frage kommt, es keine Hemmnisse inhaltlicher Art gibt. Einziges Ziel des Mannes ohne Eigenschaften ist zunächst die Entfaltung einer Eigenheit, egal in welcher Richtung.
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Nach Euren Postings fällt mir ehrlich gesagt nichts halbwegs Intelligentes mehr ein. Mich erinnert die Anlage ein wenig (wenn auch nur entfernt, aber in der Art der Handlungsverweigerung und dem Eröffnen eines groß angelegten Gesellschaftspanoramas) an Prousts Suche. Sprachlich finde ich Musil sehr angenehm - schöne Wendungen, elegante und einfallsreiche Formulierungen ohne für mich gestelzt zu wirken und die ein sehr differenziertes Bild von Gesellschaft und Nation in der Moderne zu zeichnen versprechen.
Ulrich selbst hat für mich bisher sehr schemenhafte Züge - ich habe kein klares Bild bisher von ihm, sondern ein im wahrsten Sinne schwammiges.
Bartlebooth - ich bin für Beispiele von Nietzsche-Zitaten immer dankbar. Ich bin leider noch relativ unbelesen hinsichtlich Nietzsche, was angesichts meiner Neigung zur deutschsprachigen Literatur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zwar sträflich ist, aber was soll's.
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So, mit einiger Verspätung kann ich mich endlich – direkt aus dem Kongo (= der „Heart of Darkness“-Leserunde) – an Eurer Diskussion über den Mann ohne Eigenschaften beteiligen - und mit der tausendseitigen Textausgabe von rororo in den Händen kommt es mir vor, als hätte ich soeben das Basislager einer Himalaya-Expedition erreicht...
Worum geht es in den ersten 19 Kapiteln? Aus meiner Sicht sind zwei Hauptthemen zu unterscheiden. Zum einen hat Musil viel über Österreich in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg geschrieben; zum anderen ist es natürlich ein Text über den "Mann ohne Eigenschaften".
Österreich vor dem ersten Weltkrieg... Da haben wir es mit der „Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie“ zu tun, keinem beschaulichen Urlaubsland, sondern einem Staatsgebilde, dessen schiere Größe heute unglaublich erscheint. Es umfasste (neben Österreich und Ungarn) die heutigen Staaten Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Teile des heutigen Rumäniens, Montenegros, Polens, Italiens und Serbiens. Österreich-Ungarn war seinerzeit ein global player ersten Ranges, es wurde seit 1867 von Kaiser Franz Joseph I. regiert und hat mit der Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli 1914 den entscheidenden Schritt in den ersten Weltkrieg gemacht. Musil legt die Handlung des ersten Teils genau in die Vorkriegsepoche hinein (veröffentlicht wurde der Roman im Jahr 1930) und ich gehe einmal davon aus, dass die Frage nach dem „Warum“ für die großflächigen Gewaltorgien der Weltkriegsepoche auch bei Musil Thema sind.
Zum „Mann ohne Eigenschaften“. Dass Ulrich von seinem Jugendfreund Walter und auch vom Autor so bezeichnet wird, heißt ja nicht, dass man über ihn nichts erzählen könnte. Wir erfahren im Gegenteil eine ganze Menge: Ulrich ist 32 Jahre alt, stammt aus wohlhabenden, bürgerlichen Verhältnissen und führt das unabhängige Dasein eines gelehrten Mathematikers, nachdem er sich zuvor als Soldat bzw. als Ingenieur versucht hatte. Ulrich ist sportlich, er kann kämpfen und schöne Frauen für sich gewinnen (wenngleich er diese nicht eben zuvorkommend behandelt). Was ihn auszeichnet ist seine Missachtung der Ideale anderer (Seite 19) und sein „Möglichkeitssinn“. Was das nun im Einzelnen bedeutet, und wie der geschichtliche Rahmen und das individuelle Schicksal Ulrichs miteinander verwoben sind, werden wir beobachten müssen. Ich habe es ähnlich wie Bartlebooth verstanden: Ulrich kennt keine festgefügten „Prinzipien“ und keine feststehenden Werte. Ihm erscheint (das hat Q-Fleck beschrieben) vieles (alles?) relativ. Er könnte kein Richter sein. Er könnte (nach einem Streit, einem Krieg, einem Verbrechen) keinem die Schuld zuweisen. Stattdessen verfiele er in endloses Grübeln, warum die Dinge so gekommen sind, wie sie sind. Bei einer Mordverhandlung würde er die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Eltern des Mörders, die Erziehung desselben in seine uferlosen Überlegungen einbeziehen.
Was mich beunruhigt: während der ersten Kapitel habe ich Ulrich als sympathischen Sonderling erlebt, einen unangepassten Außenseiter, der den Mut hat, seine Meinung zu äußern und zu den Folgen zu stehen (so als Schüler und so als Soldat - bemerkenswert finde ich beispielsweise auch den schonungslos offenen Umgangston, den Ulrich mit seinen Freunden Walter und Clarisse pflegt). Wenn Ulrich entdeckt, dass er sich auf einem Irrweg befindet, nimmt er ohne zu Zögern Kurskorrekturen vor und unterscheidet sich damit insgesamt wohltuend von den einfachen Mitläufern aller Gesellschaftsschichten. Nach dem Plädoyer Walters und der Lektüre des „Moosbrugger-Kapitels“ bin ich mir in meinem (positiven) Urteil allerdings nicht mehr so sicher. Denn in Walters Augen ist Ulrich kein Sonderling, sondern im Gegenteil Repräsentant der breiten Masse („Das gibt es heute in Millionen.“ [...] „Das ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat.“ – Seite 64). Seiner Ansicht nach stellen Menschen wie Ulrich eine ernstzunehmende Gefahr dar. Und Moosbrugger – das ist ein Ungeheuer in der Maske des erdverbundenen „von Gott gesegneten“ Handwerkers. Ulrich ist gerade von seiner „Verteidigungsstrategie“ angetan, die den Mord als „Unglücksfall“, als Folge gar des „verdächtigen Benehmens“ der Frau darstellen möchte. Was von außen als Mord erscheint, trägt im Innern mit einem Mal die Züge einer (begründbaren) Notwehrhandlung... Ein wenig habe ich mich gefragt, ob Walter mit seiner Einschätzung richtig liegt und man sich vor Ulrich, dem Moosbruggers Argumentationsmuster nicht fremd sind, in Acht nehmen sollte.
Der Mann ohne Eigenschaften ist (bislang) natürlich auch ein Buch über die Moderne, über die Technikbessessen- und gläubigkeit in Europa und anderswo, über Hektik, über blindes Streben nach wirtschaftlichem und beruflichem Erfolg. Besonders schön hat mir die Schilderung der „überamerikanischen Stadt“ gefallen, ein „Ameisenbau“ mit horizontal und vertikal verlaufenden „Rohrpostmenschensendungen“ (Seite 31), weil ich hier sofort an Luc Bessons „Fifth Element“ denken musste – die Szene, in der Bruce Willis in sein Luftfahrttaxi steigt...
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Zitat
Original von John Dowland
Worum geht es in den ersten 19 Kapiteln? Aus meiner Sicht sind zwei Hauptthemen zu unterscheiden. Zum einen hat Musil viel über Österreich in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg geschrieben; zum anderen ist es natürlich ein Text über den "Mann ohne Eigenschaften".
Über Kakanien gibt es zwar das eigene Kapitel, aber ich habe den Eindruck, dass wir in die Beschreibung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und ihrer Vertreter erst im nächsten Abschnitt eintreten, wenn es um die Parallelaktion geht.ZitatOriginal von John Dowland
Was mich beunruhigt: während der ersten Kapitel habe ich Ulrich als sympathischen Sonderling erlebt, einen unangepassten Außenseiter, der den Mut hat, seine Meinung zu äußern und zu den Folgen zu stehen (so als Schüler und so als Soldat - bemerkenswert finde ich beispielsweise auch den schonungslos offenen Umgangston, den Ulrich mit seinen Freunden Walter und Clarisse pflegt). Wenn Ulrich entdeckt, dass er sich auf einem Irrweg befindet, nimmt er ohne zu Zögern Kurskorrekturen vor und unterscheidet sich damit insgesamt wohltuend von den einfachen Mitläufern aller Gesellschaftsschichten. Nach dem Plädoyer Walters und der Lektüre des „Moosbrugger-Kapitels“ bin ich mir in meinem (positiven) Urteil allerdings nicht mehr so sicher. Denn in Walters Augen ist Ulrich kein Sonderling, sondern im Gegenteil Repräsentant der breiten Masse („Das gibt es heute in Millionen.“ [...] „Das ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat.“ – Seite 64). Seiner Ansicht nach stellen Menschen wie Ulrich eine ernstzunehmende Gefahr dar. Und Moosbrugger – das ist ein Ungeheuer in der Maske des erdverbundenen „von Gott gesegneten“ Handwerkers. Ulrich ist gerade von seiner „Verteidigungsstrategie“ angetan, die den Mord als „Unglücksfall“, als Folge gar des „verdächtigen Benehmens“ der Frau darstellen möchte. Was von außen als Mord erscheint, trägt im Innern mit einem Mal die Züge einer (begründbaren) Notwehrhandlung... Ein wenig habe ich mich gefragt, ob Walter mit seiner Einschätzung richtig liegt und man sich vor Ulrich, dem Moosbruggers Argumentationsmuster nicht fremd sind, in Acht nehmen sollte.
Das ist interessant, mir ist Ulrich als Figur von Anfang an weniger sympathisch gelesen (das hat sich auch diesmal nicht geändert). Er ist zwar auf der Suche und sicherlich bereit zu Kurskorrekturen, doch die geschehen doch eher aus einem unspezifischen enttäuschten Ehrgeiz heraus. Ulrich ist kein Mann der Sache, sondern einer, der Erfolg um des Erfolgs willen haben will.
Die Engführung mit Moosbrugger ist auch sehr auffällig. Zum einen ist Ulrich von seiner Argumentation beeindruckt, zum anderen wird er sich aber im nächsten Abschnitt vor Graf Stallburg für Moosbrugger verwenden und sagen, dass er ihn für wahnsinnig hält. Auch hier scheint die herausstechendste Eigenschaft Ulrichs wieder zu sein, dass er sich nicht entscheidet, dass er unspezifisch fasziniert ist, erst Dinge tut und denkt, und dann andere Dinge tut und denkt, die zu den ersten gar nicht zu passen scheinen.
Wichtig ist der Hinweis auf den Unfall. Der Text beginnt mit einem Unfall und dieses Hineinschliddern in Tatsachen bleibt ein wichtiges Thema des Textes: Bei Ulrich und Bonadea z.B. oder eben bei Mossbrugger oder später, als Ulrich irgendwie in die Parallelaktion hineingerät, ohne es zu wollen oder nicht zu wollen. Das Zufällige, Unfallhafte ist eben etwas, das Eigenschaften nicht erfordert. Man wird tatsächlich beobachten müssen, inwieweit Ulrich hier von Musil als Vertreter seiner Zeit beschrieben wird. -
Der Gedanke, dass Ulrich in etwas hineingerät ohne zu wollen oder doch ist interessant. Könnte man nicht eine Parallele zum Ersten Weltkrieg ziehen, in den die Staaten ohne es zu wollen hineingeraten, oder eben doch? Der trotz aller Euphorie und Anfangsbegeisterung ziemlich schnell aus dem Ruder läuft und die Kriegsherren überrollt? Vielleicht wage ich mich zu weit hinaus, aber irgendwie hat auch dies mit der damaligen Zeit und Gesellschaft zu tun.