'Der Mann ohne Eigenschaften' - Seiten 0083 - 0182

  • Ich habe hier schon einige Kapitel weiter gelesen, manche auch doppelt, weil die Konzentration an warmen Sommerabenden deutlich fehlt und das Gelesene dann nur an mir vorbei rauscht.
    Eine neue Frau wird vorgestellt, rund aber schön. Ihre Beschreibung fasziniert mich. Wülste am Hals, mit samtener Haut bezogen, oder so ähnlich. Ihr Leben, sie gilt als geistreich, weil sie ihre Bildung und Gehörtes in ihrem Salon ausbreitet. Trotzdem betont sie ihre Vorliebe für "ungebrochene" Frauen, die ich als schöne aber simple Gatinnen angesehener Männer sehe.
    Eine Kapitel sind mit Seitenhieben gegen gesellschaftliche Gepflogenheiten versehen: ein Mann, der gegen Geschäftsabläufe redet, die er selbst anwendet. Ich nenne sowas bigott.
    Ein großes Fest, dass die siebzigjährige Amstzeit des Österreichischen Oberhauptes feiern soll, immer im Bewusstsein des Preussischen Herrschers, der zur selben Zeit sein dreissigjähriges Fest feiern wird. Die Österreicher scheinen sich ihrer Größe nicht sicher zu sein. Genauso suchen sie nach dem Inhalt der Worte "Österreichische Kultur".
    Ein interessanter Abschnitt. Und noch immer verständlich zu lesen.

  • Die Kapitel 20 bis 44 handeln im Schwerpunkt von der Entwicklung der „Parallelaktion“. Wir beobachten Ulrichs Aufwartung beim Grafen Stallburg (Kap. 20), erfahren viel von „Diotima“, die eigentlich Hermine Tuzzi heißt und so etwas wie den „geistigen Mittelpunkt“ der großen vaterländischen Aktion darstellt (Kap. 22 – 27). Musil beschreibt Ulrichs Charakter (Kap. 28 – 35, 39), seine Verhaftung (Kap. 40) und den Verlauf der ersten „großen Sitzung“ in Diotimas Salon (Kap. 41 – 44). Ein Kapitel ist Clarisses Dämonen gewidmet (Kap. 38).


    Unendlich viel Stoff, über den es sich nachzudenken lohnt: das Dreieckverhältnis zwischen Ulrich, Clarisse und Walter beispielsweise. Oder was die merkwürdige Ankündigung besagt, wonach „Seinesgleichen geschieht“. Ich möchte mal mit der Parallelaktion beginnen. Musil beschreibt hier zweierlei, nämlich zum einen den Versuch (vor allem des Grafen Leinsdorf) der Aktion so etwas wie ein Ziel, eine Struktur und eine feste Ordnung zu geben. Und tatsächlich nimmt die Sache ja im Verlauf der ersten großen Sitzung Formen an: es werden Ausschüsse gebildet, Verantwortliche benannt, eine Resolution wird geschrieben. Zum anderen zeigt Musil aber auf, wie die Parallelaktion aus dem Ruder gerät: zunächst, mit der Erfindung des „österreichischen Jahres“, im erwünschten Sinn (Kap. 37). Später mit unerwünschten, geradezu gefährlichen Folgen: Ulrich gerät in Polizeigewahrsam (Kap. 40) und kommt nur Dank seiner Geistesgegenwart und mit Hilfe seiner einflussreichen Bekannten rasch auf freien Fuß. Das „Volk“ beginnt, eine eigene Vorstellung von der großen vaterländischen Aktion zu entwickeln. In der ersten großen Sitzung meldet sich ein General zu Wort und spricht von Aufrüstung um des Völkerfriedens willen (Kap. 44). Graf Leinsdorf hegt ja durchaus hehre Absichten. Aber er kann nicht verhindern, dass „Seinesgleichen geschieht“. Er muss bereits machtlos zusehen, wie Diotima ausgerechnet den Preußen Arnheim an die Spitze der Bewegung stellt. Diesen Prozess der gefährlichen Verselbständigung einer guten Idee hat Musil im 40. Kapitel mit seinen Ausführungen über „den Geist“ sowohl abstrakt als in den konkreten Folgen sehr anschaulich beschrieben.


    Zum zweiten Ulrichs Charakter. Ulrich ist ein selbstbewusster, furchtloser und vor allem selbstbestimmter Mensch. Er vertraut seiner eigenen Kraft (Kap. 39), lässt sich von Autoritäten nicht beeindrucken, neigt zu unangepasstem, unvorhersehbarem Verhalten. Beim Grafen Stallburg setzt er sich für Moosbrugger ein; er kommt einem betrunkenen Arbeiter zu Hilfe. Das Kapitel 40, worin von den „zwei Ulrichen“ die Rede ist, scheint mit so etwas wie das Manifest dieses Mannes zu sein: einerseits ein äußerlich angepasster Realist, ein Pragmatiker, der, innerlich unbeteiligt, die ihm zugedachte Rolle in der Gesellschaft spielt. Andererseits der zornige, wachsame und jederzeit zur Selbstaufgabe bereite Idealist, der wahrscheinlich als einziger klug genug ist, die unheilsamen Mechanismen der großen vaterländischen Idee zu durchschauen und als einziger den Mut aufbringen könnte, sich dagegen zu stemmen.


    Ein Punkt, der mich schon im ersten Kapitel beschäftigt hat, ist das Spiel Musils mit Erfindung und Wirklichkeit. Der „Mann ohne Eigenschaften“ spielt ja sozusagen mitten im Leben, im Österreich-Ungarn der Vorkriegszeit. Es werden geschichtliche Ereignisse, Schauplätze, Zusammenhänge, Namen genannt. Wie viel ist davon „wahr“, was hat Musil erfunden? Im fünften Kapitel schreibt er über Ulrich: „... sein Familienname soll mit Rücksicht auf seinen Vater verschwiegen werden...“ und suggeriert damit einen "Tatsachenbericht". In der Folge werden jedoch zahlreiche weitere Akteure mit Rang und Namen genüsslich durch den Kakao gezogen (Hermine Tuzzi beispielsweise, der Preuße Arnheim...) Musil scheint mir hier eine Art Satire aufzuführen, ein Schauspiel von Stellvertretern, bei dem hinter jedem Charakter tatsächlich ein realer Zeitgenosse (oder eine Genossin...) gestanden haben könnte. Es dürfte den damaligen Lesern nicht schwer gefallen sein, solche Bezüge herzustellen und sich dabei, je nach Betroffenheit, vor Lachen auf die Schenkel oder vor Ärger an den Kopf zu hauen.

  • Zitat

    Original von John Dowland
    Ich möchte mal mit der Parallelaktion beginnen. Musil beschreibt hier zweierlei, nämlich zum einen den Versuch (vor allem des Grafen Leinsdorf) der Aktion so etwas wie ein Ziel, eine Struktur und eine feste Ordnung zu geben. Und tatsächlich nimmt die Sache ja im Verlauf der ersten großen Sitzung Formen an: es werden Ausschüsse gebildet, Verantwortliche benannt, eine Resolution wird geschrieben. Zum anderen zeigt Musil aber auf, wie die Parallelaktion aus dem Ruder gerät (...). Das „Volk“ beginnt, eine eigene Vorstellung von der großen vaterländischen Aktion zu entwickeln. In der ersten großen Sitzung meldet sich ein General zu Wort und spricht von Aufrüstung um des Völkerfriedens willen (Kap. 44). Graf Leinsdorf hegt ja durchaus hehre Absichten. Aber er kann nicht verhindern, dass „Seinesgleichen geschieht“. Er muss bereits machtlos zusehen, wie Diotima ausgerechnet den Preußen Arnheim an die Spitze der Bewegung stellt. Diesen Prozess der gefährlichen Verselbständigung einer guten Idee hat Musil im 40. Kapitel mit seinen Ausführungen über „den Geist“ sowohl abstrakt als in den konkreten Folgen sehr anschaulich beschrieben.


    Ja, unendlich viel Stoff. Dir Parallelaktion bestimmt den zweiten Abschnitt. Dass Graf Leinsdorf "hehre Absichten" hat, sehe ich nicht ganz so. Sicherlich, er führt nichts irgendwie Böses im Schilde, aber die unauflöslichen Widersprüche, die mit der Parallelaktion und ihrer Konzeption zusammenhängen, werden an ihm schon überdeutlich.
    Zum ersten ist da die absurde Vorstellung, die von Musil sehr schön beschrieben wird, dass eine Idee zwar aus der Mitte des Volkes entspringen soll, gleichzeitig aber von oben her gelenkt werden soll, worin diese Idee bestehen kann. Das Ergebnis der Großen Sitzung, über die ich mit großem Vergnügen gelesen habe, ist entsprechend: Diotima verkündet als Sprachrohr von Graf Leinsdorf, dass der Staat durch die Regierung ja bereits perfekt in Bereiche aufgeteilt sei, in denen nun auch nach der großen, einigenden Idee zu suchen sei. So zerfällt die Einigkeit bereits ganz zu Anfang.
    Interessant auch die Intervention des namenlosen Wissenschaftlers, der sich über das eigenartige Phänomen verbreitet, dass man als Zeitgenosse nie begreift, welchen Sinn die Geschichte hat, dass in der Rückschau sich aber immer alles wunderbar klar ineinanderfügt. Zum einen wird das von der Versammlung mit peinlich berührtem Schweigen und Übergehen quittiert, niemand weiß mit einem solchen abstrahierenden Standpunkt etwas anzufangen. Zum anderen scheint hier schon der Zweifel auf, dass diese Intervention, die sehr nach einem Historiker des 19. Jahrhunderts, nach einem Anhänger der großen historischen Erzählungen, klingt, in die richtige Richtung weist. Musils Komposition macht schon hier klar, dass es vielleicht gar nicht stimmt, dass man in der Rückschau einen Sinn in der Geschichte zu erkennen vermag. Ganz sicher können es seine Figuren nicht.
    Was sie können - und das zeigt deutlich der Einwurf des Generals Stumm von Bordwehr -, ist, ein beliebiges Thema und sei es in noch so widersinniger Weise, auf sich selbst zu beziehen. John hat es angesprochen: Aufrüstung um des Friedens willen, der General biegt das Thema, bis es seiner Art zu denken entspricht, nicht umgekehrt.


    Zitat

    Original von John Dowland
    Ein Punkt, der mich schon im ersten Kapitel beschäftigt hat, ist das Spiel Musils mit Erfindung und Wirklichkeit. Der „Mann ohne Eigenschaften“ spielt ja sozusagen mitten im Leben, im Österreich-Ungarn der Vorkriegszeit. Es werden geschichtliche Ereignisse, Schauplätze, Zusammenhänge, Namen genannt. Wie viel ist davon „wahr“, was hat Musil erfunden? Im fünften Kapitel schreibt er über Ulrich: „... sein Familienname soll mit Rücksicht auf seinen Vater verschwiegen werden...“ und suggeriert damit einen "Tatsachenbericht". In der Folge werden jedoch zahlreiche weitere Akteure mit Rang und Namen genüsslich durch den Kakao gezogen (Hermine Tuzzi beispielsweise, der Preuße Arnheim...) Musil scheint mir hier eine Art Satire aufzuführen, ein Schauspiel von Stellvertretern, bei dem hinter jedem Charakter tatsächlich ein realer Zeitgenosse (oder eine Genossin...) gestanden haben könnte. Es dürfte den damaligen Lesern nicht schwer gefallen sein, solche Bezüge herzustellen und sich dabei, je nach Betroffenheit, vor Lachen auf die Schenkel oder vor Ärger an den Kopf zu hauen.


    Das weiß ich nicht. Ich habe bisher nirgends einen Hinweis auf den "MoE" als Schlüsselroman gefunden. Irgendwie glaube ich da auch nicht so recht dran. Zwar war Musil auch ein begnadeter und bekannter Feuilletonist und kannte die Geistesströmungen und ihre Protagonisten seiner Zeit sehr gut, doch die Anlage des Romans wirkt auf mich bisher sehr viel abstrakter, als man nach den Erzählerbemerkungen, die du zitiert hats, vermuten könnte.


    Was Moosbrugger betrifft, bin ich mir immer noch nicht sicher, wo dieser Strang hinführt. Die Faszination Ulrichs und auch Clarisses bezüglich dieses Mörders ist auffällig, das fügt sich für mich bisher aber noch zu keiner Idee zusammen. Das Wohlwollen, mit dem Leinsdorf und Stallburg auf Ulrichs diesbezügliche Bitten reagieren ist auch auffällig, wenn auch geordnet und irgendwie verhalten. Dazu will mir noch nichts Rechtes einfallen.

  • Danke, Bartlebooth, für den Hinweis auf den Begriff „Schlüsselroman“; da lerne ich nämlich etwas dazu.


    Lt. Wiki ist ein Schlüsselroman „ein Roman, der es nahelegt, als wahre Geschichte gelesen zu werden.“ Die Bezeichnung rühre daher, dass es möglich sei, zu diesen Romanen "Schlüssel" zu verfassen, Seiten, auf denen aufgeschlüsselt wird, wer mit welchen Personen des Romans tatsächlich gemeint sein soll.


    Meine Überlegungen gehen tatsächlich in diese Richtung, und zwar u.a. wegen der Stelle aus dem fünften Kapitel, die ich oben zitiert habe. Möglicherweise beschreibt Musil nur „Typen“ und keine realen Personen. Aber dass diese Typen sehr starke Ähnlichkeiten mit der einen oder anderen Person aufweisen, die es in der Lebenswirklichkeit gegeben haben mag, halte ich doch für wahrscheinlich. Es würde sonst auch keinen Sinn machen, den Roman am konkreten Schauplatz der österreichischen oberen Zehntausend der Vorkriegszeit spielen zu lassen.

  • Noch ein paar Gedanken zu Clarisse, Walter und Ulrich, zwischen denen ja ein kompliziertes Beziehungsgefüge zu bestehen scheint. (Was wahrscheinlich, wenn man es richtig betrachtet, keine Besonderheit ist – die Besonderheit besteht hier in der wachen, analytischen Aufmerksamkeit, die Musil diesem Beziehungsgefüge schenkt und in seiner Weigerung, an der Oberfläche der Geschehnisse stehen zu bleiben).


    Die drei werden im 14. Kapitel als „Jugendfreunde“ vorgestellt – das wäre sozusagen die formale „Oberfläche“; darunter haben wir es mit einer hochentzündlichen Mischung aus Anziehung, Abneigung, Eifersucht, Angst und unerfüllter Sehnsucht zu tun. Clarisse scheint mir an einem Abgrund zu stehen, jederzeit bereit, dort hineinzuspringen, und in Walters Augen könnte Ulrich derjenige sein, der sie zu diesem Sprung ermutigt. Soweit es um die suchende Clarisse geht, ist Moosbrugger, der Frauenmörder, nach meiner Einschätzung ein Bild für die Lust an der Zerstörung, am Untergang der „heilen Welt“, die Clarissens Träumen nicht mehr genügen will.


    Was über Walter gesagt wird, beschreibt den verzweifelten Versuch, diese Frau am Boden zu vertäuen. Ich bin gespannt, wie das ausgehen wird ...

  • Zitat

    Original von John Dowland
    Meine Überlegungen gehen tatsächlich in diese Richtung, und zwar u.a. wegen der Stelle aus dem fünften Kapitel, die ich oben zitiert habe. Möglicherweise beschreibt Musil nur „Typen“ und keine realen Personen. Aber dass diese Typen sehr starke Ähnlichkeiten mit der einen oder anderen Person aufweisen, die es in der Lebenswirklichkeit gegeben haben mag, halte ich doch für wahrscheinlich. Es würde sonst auch keinen Sinn machen, den Roman am konkreten Schauplatz der österreichischen oberen Zehntausend der Vorkriegszeit spielen zu lassen.


    Das verstehe ich nicht. Man kann doch ohne Problem eine konkrete Zeit beschreiben und zu ihrer Chaakterisierung Typen heranziehen, die zwar auf verbreitete Verhaltensweisen, nicht aber auf konkrete Personen referieren. Insofern: Ich halte es nicht für unmöglich, dass es im MoE Elemente des Schlüsselromans gibt - aber keinesfalls für zwangsläufig, nur weil er eine sehr gängige Beglaubigungsstrategie anwendet, die es schon sehr lange gibt. Spontan fallen mir Beispiele bei Fontane, Kleist oder Storm ein, die ganz ähnlich funktionieren, auf vermeintlich tatsächlich existierende Personen oder Topographie verweisen, nur um die intendierte Plausibilität des geschilderten Geschehens zu erhöhen.


    Zitat

    Original von John Dowland
    Soweit es um die suchende Clarisse geht, ist Moosbrugger, der Frauenmörder, nach meiner Einschätzung ein Bild für die Lust an der Zerstörung, am Untergang der „heilen Welt“, die Clarissens Träumen nicht mehr genügen will.


    Möglich. Auf der anderen Seite könnte er auch eher in die Richtung eines Sinnbilds für die zerfallende Zeit ohne klare Leitidee gelesen werden. In diesem Fall wäre Clarisse diejenige, die in zwei Wirklichkeiten leben könnte, nach einer völlig herkömmlichen Logik oder nach einer - nach vorherrschender Meinung - verrückten Logik. Ich denke dass, weil am Anfang so ein großer Wert darauf gelegt wurde, dass Moosbrugger sich selbst für alles, nur nicht für verrückt hält. Leinsdorf hält ihn - natürlich! - für verrückt und bei Ulrich weiß man es nicht so recht, er ist ja auch der Mann ohne Eigenschaften. Clarisse scheint mit der verrückten Weltsicht zu sympathisieren.