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'Der Mann ohne Eigenschaften' - Seiten 0182 - 0257
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Na, habt ihr schon vor den Verästelungen der Parallelaktion kapituliert? Ich hoffe doch nicht.
Ich bin wieder ein Stückchen weitergekommen. Der gelesene Abschnitt beschäftigt sich vor allem mit den Figuren Arnheim und Moosbrugger. Während mir Moosbrugger noch immer nicht ganz durchsichtig ist, entwickelt sich Arnheim zu einer Art Gegenentwurf zu Ulrich. Arnheim ist sozusagen der Mann mit allen Eigenschaften. Er kann auf allen wissenschaftlichen Gebieten, wenn auch keinen brillanten, so doch wenigstens einen beachtlichen Beitrag leisten. Er ist ein Universalgelehrter wie aus einem anderen Jahrhundert, weshalb ihm auch Soliman als Kammerdiener so außerordentlich gut steht.
Interessant ist, dass Arnheim von allen außer von Diotima argwöhnisch beäugt oder gar gehasst wird. Das bezieht sich auf Graf Leinsdorf ebenso wie auf Ulrich oder Soliman, den Arnheim anfänglich als Gleichgestellten behandelt hat, nun aber - ganz feudal - wieder auf seinen Platz in der Gesellschaft stellt. Doch Soliman ist kein frühneuzeitlicher Kammerdiener, sondern ein modernes Subjekt eigenen Rechts. Ich bin gespannt, ob der Anachronismus, den ich bei Arnheim sehe, noch irgendeine Rolle spielen wird.
Moosbrugger berichtet über psychologische Tests, die mit ihm durchgeführt werden, und deren Unzulänglichkeit in der Innensicht des Untersuchten überdeutlich wird. Die moderne Obsession der totalen Erfassung des Menschen wird hier einer kritischen Durchleuchtung unterzogen. Denn die Theorie der völligen Erfassbarkeit und Optimierbarkeit menschlicher Funktion und Tätigkeit lässt vor allem einen Faktor außer Acht: den Menschen selbst, der sich zu den Analyse- und Optimierungsmaßnahmen immer auf eine Weise aktiv verhält oder wenigstens verhalten kann.
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Dieser Abschnitt beschreibt den Fortgang der Parallelaktion, wobei in den Kapiteln 45 – 50 sowie 52 sehr stark von Arnheim, in den Kapiteln 53 und 59 von Moosbrugger und in den Kapiteln 60 bis 62 mehr und mehr von Ulrich die Rede ist. Das 51. Kapitel ist der Hölle gewidmet, die sich die Eheleute Fischl auf Erden bereiten (und die ihnen vom aufkommenden Antisemitismus bereitet wird). Am Wichtigsten scheint mir das 62. Kapitel zu sein, worin Musil ausführlich Charakter und Geisteshaltung Ulrichs beschreibt.
Zu Arnheim: Musil hat der Beschreibung des preußischen Wirtschaftsführers viel Platz gewidmet. Er trägt dabei allerdings so dick auf (Wirtschaftskönig, Universal-, Sprach- und Kommunikationsgenie), dass ich bisweilen am Realitätsgehalt gezweifelt habe. Darüber hinaus ist mir nicht vollständig klar, welche Position der Autor Arnheim gegenüber bezieht. Fest steht, dass der Preuße Gegner hat – Ulrich, den Grafen Leinsdorf, Sektionschef Tuzzi (nachvollziehbar...) und Soliman. Fest steht aber auch, dass Arnheim durchaus lobenswerte Ideale vertritt: er stellt „philosophische Anforderungen“ an eine nur auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaft; er kämpft gegen Rationalismus, Rechentrieb, Seelenlosigkeit und Wettrüsten und setzt alldem seine Idee des „Ganzen“, seine Sehnsucht nach der Führerschaft starker Persönlichkeiten entgegen. Möglicherweise hat bartlebooth Recht, und Arnheim ist tatsächlich eine Art Gegenpol zu Ulrich, der „Mann mit Eigenschaften“ sozusagen. Er wird von Musil nicht ausdrücklich so bezeichnet (vielleicht hab ich´s überlesen); aber vieles, was einen solchen Menschen kennzeichnet , bringt Arnheim mit: er verfolgt mit großem Ernst große Ideale, ist festgefügt in seinem Urteil und er verkörpert ein durch und durch geordnetes Weltbild. Die Idee mit dem Gegenpol gefällt mir, sie würde auch die Ausführlichkeit der Beschreibung erklären.
Auf Moosbrugger & Co. komme ich in den nächsten Tagen zurück.
Edit: Tippfehler
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Vom Moosbrugger ist zum ersten Mal im 18. Kapitel die Rede. Es gibt Kapitel, in denen sich Musil ausschließlich mit ihm befasst (z.B. das eben erwähnte 18, das 53. und das 59.) Andernorts geht es vor allem um die Wirkung, die der Frauenmörder in der Öffentlichkeit hervorruft (vor allem um die Wirkung auf Clarisse, die soweit geht, im 56. Kapitel die Freilassung des Mörders zu fordern). Darü-ber hinaus nimmt Musil den Fall (den es möglicherweise tatsächlich gegeben haben mag) zum Anlass, über Recht und Unrecht, Schuld, Zurechnungsfähigkeit, Gesundheit, Normalität und Wahnsinn nachzudenken (so im 60. Kapitel).
Allein der Umfang der Darstellung, mehr aber noch dessen Betrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen, dass Musil dem Fall Moosbrugger mehr Bedeutung zumisst, als ihn eine x-beliebige skurrile Gerichtsstory gehabt hätte. Dem Autor geht es meiner Meinung nach um das „Prinzip Moosbrugger“. Das heißt konkret um die Schilderung einer Geisteshaltung, die der Inhaftierte zugespitzt zum Ausdruck bringen mag, die aber zugleich eine Art Sinnbild für den Wesenszug einer ganzen Gesellschaft sein könnte: Moosbrugger verkörpert für mich eine sprachlose, dämonische Gewalt, die -wenn man sie nur lange und beharrlich genug herausfordert - jederzeit bereit erscheint, aus der Oberfläche eines schönen und friedlichen Scheins herauszubrechen. Er begeht seinen Mord auch oder gerade deswegen, weil er weiß, dass er im Leben immer ein zu kurz Gekommener bleiben wird. Jedem denkbaren Glück setzt dieser berufsmäßige Nihilist ein „aber“ entgegen, wünscht sich im Gefängnis nur, dass alles ein rasches Ende haben möge.
Die Gefängnis- und Gerichtsszenen habe ich so gelesen, als ob hier eine Gesellschaft ein Monster verwahrt, an dem jeder Mann und jede Frau in gewisser Weise Anteil hat und von dem sich alle nicht im Klaren darüber sind, ob sie es tatsächlich in Ketten oder nicht lieber in Freiheit sehen würden. Insofern halte ich Christian Moosbrugger sogar für eine Art Identifikationsfigur für Menschen, die jubelnd dem nächsten Vernichtungskrieg entgegen marschieren.
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Wer sich gefragt hat, was für ein merkwürdiges Wesen ein „Mann ohne Eigenschaften“ sei, der erfährt es, wie gesagt, im 62. Kapitel. Und er erfährt es wiederum nicht. Denn Musil rückt diesen grundlegenden Wesenszug seines Helden in die Nähe einer Erkenntnis, die man zwar erfahren, nicht aber erlernen kann: vom Versuch, die „Lebenslehre“, so wie sie sei, in ein „Lebenswissen“ umzuwandeln, bleibe soviel übrig, „wie von dem zarten Fadenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in den Sand gelegt“ habe. Sehr deutlich: „Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Unvernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn, ...“ Die Schwierigkeiten, zu begreifen, worum es hier eigentlich geht, sind damit sozusagen vorprogrammiert.
Soviel steht fest: Ulrich folgt keiner abstrakten und vorgefertigten Glaubens- oder Morallehre. Er anerkennt keine festen Ideale. Er gehorcht weder allein seinem Gefühl noch seinem Verstand. Er setzt sich jeder Kategorie, jeder Ordnung, jedem Prinzip und jedem Gesetz zur Wehr und setzt dagegen eine Haltung des Versuchs, der Hypothese, der Möglichkeit und der Wandlung, ein Lebensmotiv, das Musil als „Essayismus“ bezeichnet und das die Grundgedanken der Relativität, des Fragmentarischen und des Versuchs zum Kern hat: „Der Wert einer Handlung ... erschien ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten.“
Mir hat sich die Frage gestellt, wo dieses System seinen Halt hernimmt. An welchen Werten richtet Ulrich, wenn es darauf ankommt, sein Handeln aus? Und worin liegt eigentlich der Unterschied zwischen dem haltlosen (aber seine Haltlosigkeit reflektierenden) Ulrich einerseits und dem haltlos-triebhaften Moosbrugger andererseits? Für´s erste meine ich, dass es eben das Nachdenken ist, was die beiden voneinander trennt. Vielleicht der Satz im 62. Kapitel, dass nach Ulrichs Auffassung „nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.“
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Hallo John,
ich bin mir nicht sicher, wie ich zu deiner Moosbrugger-Interpretation stehe. Ihn als eine Art bösen Leviathan zu sehen, auf den die Abgründe der Gesellschaft geladen werden, hat etwas für sich, scheint mir aber zu einfach, denn Moosbrugger wird so oft als nicht böse und nicht amoralisch im harten Sinne dargestellt, sondern im Gegenteil erscheint er eher als Opfer und als jemand, der in seinen Kategorien durchaus moralisch und verantwortungsbewusst, vielleicht aber nicht unbedingt reflektiert handelt, da gebe ich dir recht.
Interessant ist in diesem Zusammenhang sicher das Kapitel über Geschichte und wie sie entsteht im übernächsten Abschnitt (Kapitel 83 glaube ich). Dass Moosbrugger und seine Art, mit der in ihm schlummernden Gewalt umzugehen, etwas mit dem heraufziehenden Krieg zu tun hat, das glaube ich auch, aber wohl eher in einer verschlungeneren Art und Weise, ich werde im entsprechenden Abschnitt noch etwas dazu schreiben, wenn ich so weit bin.
Inwieweit sich Moosbrugger von Ulrich unterscheidet, ob es durch das Nachdenken ist, ich bin nicht sicher. Sicherlich haben beide sehr unterschiedliche Voraussetzungen, vielleicht ist Ulrich die zivilisierte Moosbrugger-Version, ich kann es noch immer nicht sagen.
Und was deine andere Frage betrifft:
ZitatMir hat sich die Frage gestellt, wo dieses System seinen Halt hernimmt. An welchen Werten richtet Ulrich, wenn es darauf ankommt, sein Handeln aus?
Das System nimmt seinen Halt aus der Vielfalt, daraus, dass es aus jeder Sackgasse wieder auf einen völlig neuen Weg springen kann. Die Eigenschaftslosigkeit als eine Art Essayismus, Ausloten von Möglichkeiten, Zufällen und unbeschränkten gedanklichen Experimenten ist für Musil, ich kann das nicht oft genug wiederholen, sicher auch ein direkter Ausdruck der Moderne. Die immer weider eingefügten Kapitel über die große vaterländische Aktion sprechen da Bände, auch dazu werde ich gleich im nächsten Abschnitt noch etwas schreiben.
EDIT Tippfehler