'Der Mann ohne Eigenschaften' - Seiten 0347 - 0434

  • Die Parallelaktion geht immer noch nicht voran und langsam beginnen die Beteiligten, sich damit abzufinden. Sehr interessant ist, wie schon erwähnt, das erste Kapitel dieses Abschnitts, in dem deutlich wird, dass es in der Zeit Ulrichs für alles Vereine, also Verfechter und Anhänger gibt - eine schwierige Situation, wenn man - wie Diotima - auf der Suche nach einer großen zusammenführenden Idee für die Parallelaktion ist.
    Urlich sinniert nun über das Wesen der Geschichte und kommt zu einigen sehr griffigen Formulierungen, so dass die Geschichte nicht einem angestoßenen Billardball, sondern einem Menschen ähnelt, der durch die Gassen streift und von allem möglichen abgelenkt wird. geschichte, so die Quintessenz, hat nichts zwingendes. Könnte man die Zeit zurückdrehen, würde sie sich erst ein bisschen parallel zu der Geschichte, wie wir sie kennen, entwickeln, dann aber abschweifen, und keiner weiß, warum.
    Die großen historischen Ideen scheinen also verlorenzugehen, und doch ist das 20. Jahrhundert, auch zur Zeit der Entstehung des MoE, ein Jahrhundert der großen Ideologien. Während die Geschichte "fortwurstelt", wie es bei Musil so schön heißt, zersplittert die Wahrheit immer mehr, jedoch nicht die Vehemenz, mit der jede Gruppe glaubt, ihrer teilhaftig zu sein.


    Das Verhältnis von Diotima und Arnheim wird immer schlüpfriger, dabei lernen wir sehr viel über sie und ihre Nöte, Wünsche und schlaflosen Nächte, aber wir lernen recht wenig über die Sicht Paul Arnheims. Langsam bekomme ich Zweifel daran, dass aus den beiden noch etwas wird. Sektionschef Tuzzi schöpft langsam auch Verdacht, doch er ist ein viel zu vollendeter Diplomat, um irgendetwas beim namen zu nennen. So wird uns die Ungewissheit, ob Diotima zum Seitensprung ansetzen wird, wohl noch eine Weile begleiten.


    Schließlich noch das schöne Kapitel über den "Großschriftsteller", der eigentlich selber gar nichts mehr Großartiges produzieren muss, sondern vollkommen in seiner repräsentativen Funktion für das schöngeistige Establishment erstarrt. Arnheim fungiert als solcher, wahrscheinlich erfahren wir auch deshalb so wenig über die Inhalte seines Denkens. Alles an ihm ist geschmeidige Rhetorik und glänzende Fassade; zwar ist er nicht inhaltsleer, doch er bringt die Diskussion auch nicht wirklich voran, auf keinem der Gebiete, auf denen er dilettiert. Sollte in dieser Saturiertheit auch einer der Gründe liegen, warum nicht nur die Parallelaktion von ihm keine Impulse erfährt, sondern auch Diotima so ohne Hoffnung auf Erfüllung schmachtet?

  • Der Abschnitt schildert Ulrichs Tätigkeit als Sekretär der Parallelaktion (Kap. 81), enthält einen Dialog zwischen Ulrich und Clarisse (Kap. 82), zu dem später Walter hinzutritt (Kap. 84), eine Reflexion über die Entstehung und Eigenart von Geschichte (Kap. 83) und die Gefahr einer Verbindung des Geistes mit „großen Dingen“. General Stumm versucht, „Ordnung in den Zivilverstand zu bringen“ (Kap. 85, 93). In zahlreichen Kapiteln geht es um Arnheim: sein Verhältnis zu Diotima, seine Jugend, seine Auffassungen (Kap. 86), sein Verhältnis zu den von Diotima geladenen Gesellschaften (Kap. 89, 90), seine Position als „Großschriftsteller“ (Kap. 95, 96). Ein Kapitel widmet sich dem inneren Konflikt Diotimas (Kap. 94), eines handelt von Moosbrugger (Kap. 87). Wir erfahren von einem Gespräch zwischen Tuzzi und Ulrich (Kap. 91) und lernen etwas von den „Lebensregeln reicher Leute“ (Kap. 92).


    Alles in allem ein breiter, sehr unübersichtlicher Strom von Gedanken, der an die zuvor angelegten Erzählstränge anknüpft, zum Teil schon Gesagtes aus anderen Blickwinkeln betrachtet, Weltanschauungen in Form von Dialogen, Monologen oder Ausführungen des Erzählers erläutert. Äußerlich geschieht nichts: Diotima lässt den Sektionschef Tuzzi nicht im Stich, Moosbrugger wird nicht hingerichtet, Clarisse bleibt bei Walter und die Parallelaktion verwaltet sich ohne konkreten Inhalt oder Außenwirkung selbst.


    Es stellt sich die Frage, worum es hier eigentlich geht. Was sind die großen Themen, die Musil im Mann ohne Eigenschaften aufgegriffen hat?


    M. E. handelt das Buch in erster Linie von einer Art systematischem Skeptizismus gegenüber „großen Ideen“. Musil kritisiert Menschen, die ihr Leben solchen Ideen verschreiben, egal ob es sich dabei um nationalstaatliche, moralische, theologische, kunsttheoretische oder „neuzeitliche“ Ideen handelt. Jede Idee fordert mit gleicher Existenzberechtigung eine Gegenidee heraus, jedes Ordnungssystem vernichtet Lebendigkeit und Vielfalt bei den nicht oder unzutreffend erfassten Gegenständen. Man kann dem mit Ironie begegnen (so im Kapitel über die Stenographievereine oder den Versuchen Stumms, der Gedankenvielfalt mit militärischen Mitteln zu begegnen). Es scheint Musil aber ernster zu sein und eher um die Gefahr zu gehen, die entsteht, wo immer Menschen einen Teil für das Ganze nehmen oder die Wirklichkeit einer unbedingten Regel unterwerfen. Ganz konkret in diesem Buch – wer ein „Weltösterreich“ fordert, spielt mit dem Feuer, auch wenn Diotima dies arglos und mit den besten Vorsätzen tut.


    In zweiter Linie ist Musil am komplexen Seelenleben seiner Charaktere interessiert – ob er nun von Ulrich, Arnheim, Clarisse oder Diotima spricht, ob von Moosbrugger, dem Direktor Fischl oder Walter die Rede ist. Auch wenn äußerlich „nichts“ geschieht: im Innern der Akteure brodelt es, werden gewaltige Konflikte ausgefochten, wird zwischen Verrat und Treue, zwischen Neigung und äußerer Ordnung geschwankt - jeder einzelne am Steuer seines inneren Jumbojets, den er verzweifelt auf Kurs zu halten sucht.
    Auf beide Schwerpunkte muss sich der Leser einlassen wollen. Mit scheint aber gerade der zweite viel mehr mit dem wirklichen Leben zu tun zu haben, als man es vielleicht von einem Roman erwarten würde.


    Letzter Punkt – im Gespräch mit Walter und Clarisse scheint mir Ulrich (Musil?) einige wichtige Aussagen über sein Verständnis von Literatur zu machen, die vielleicht auch den Mann ohne Eigenschaften charakterisieren:
    „Jedes große Buch atmet diesen Geist aus, der die Schicksale einzelner Personen liebt, weil sie sich mit den Formen nicht vertragen, die ihnen die Gesamtheit aufnötigen will. Es führt zu Entscheidungen, die sich nicht entscheiden lassen; man kann nur ihr Leben widergeben. Zieh den Sinn aus allen Dichtungen, und du wirst eine zwar nicht vollständige, aber erfahrungsmäßige und endlose Leugnung in Einzelbeispielen aller gültigen Regeln, Grundsätze und Vorschriften erhalten, auf denen die Gesellschaft ruht, die diese Dichtungen liebt!“ (Kap. 84).


    Da haben wir beides: die Liebe zum Einzelschicksal und den Regelverstoß, das grundsätzliche und radikale Sich-nicht-abfinden-wollen mit der Konvention, dem Hergebrachten, der Mode und der äußeren Anforderung.

  • Hallo John,


    Zitat

    Original von John Dowland
    M. E. handelt das Buch in erster Linie von einer Art systematischem Skeptizismus gegenüber „großen Ideen“. Musil kritisiert Menschen, die ihr Leben solchen Ideen verschreiben, egal ob es sich dabei um nationalstaatliche, moralische, theologische, kunsttheoretische oder „neuzeitliche“ Ideen handelt. Jede Idee fordert mit gleicher Existenzberechtigung eine Gegenidee heraus, jedes Ordnungssystem vernichtet Lebendigkeit und Vielfalt bei den nicht oder unzutreffend erfassten Gegenständen. Man kann dem mit Ironie begegnen (so im Kapitel über die Stenographievereine oder den Versuchen Stumms, der Gedankenvielfalt mit militärischen Mitteln zu begegnen). Es scheint Musil aber ernster zu sein und eher um die Gefahr zu gehen, die entsteht, wo immer Menschen einen Teil für das Ganze nehmen oder die Wirklichkeit einer unbedingten Regel unterwerfen. Ganz konkret in diesem Buch – wer ein „Weltösterreich“ fordert, spielt mit dem Feuer, auch wenn Diotima dies arglos und mit den besten Vorsätzen tut.


    Ist das so? Beim ersten Satz deines ersten Punktes kann ich dir noch zustimmen, aber dann? Wo siehst du denn die Kritik an den Menschen, die sich großen Ideen verschreiben? Es ist ja nun nicht so, dass Ulrich das Muster an Tugendhaftigkeit wäre, der in seiner Eigenschaftslosigkeit locker alle anderen schlägt. Außerdem scheint es mir eher als Not, als Defizit empfunden zu werden, dass man sich keiner großen Idee anzuschließen vermag (es sei denn man ist ein Fossil wie Graf Leinsdorf). Und was aus der Prinzipienlosigkiet, die eine Abkehr von leitenden Ideen ja im Buch auch ist, ensteht, ist auch nicht immer nur positiv.
    Insofern würde mich interessieren: Wo siehst du die Kritik?


    Herzlich, Bartlebooth.

  • Hallo Bartlebooth,


    habe ich das falsch verstanden? Zwei Beispiele:


    Kapitel 57 – „Ideale haben merkwürdige Eigenschaften und darunter auch die, dass sie in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie genau befolgen will. (...) Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, dass es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt. Darum hat der vernünftige Mensch, und das war in diesem Fall Sektionschef Tuzzi, der dadurch sogar eine gewisse Ehrenrettung erfuhr, ein tief eingewurzeltes Misstrauen gegen ewige Wahrheiten; er wird zwar niemals bestreiten, dass sie unentbehrlich seien, aber er ist überzeugt, dass Menschen, die sie wörtlich nehmen, verrückt sind.“


    Kapitel 62 – „Der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln,“ (Anm.: gemeint ist Ulrich) „verbietet ihm, an das Vollendete zu glauben; aber alles, was ihm entgegentritt, tut so, als ob es vollendet wäre. Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ru-henden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist.“


    Die Kritik Musils richtet sich m. E. beispielsweise gegen die Truppe um Hans Sepp, die einem leeren Ideal von umfassender Liebe und Gemeinschaft anhängen, bei dem am Ende nichts als antisemitische Zerstörungswut herauskommen wird. Sie richtet sich an alle Menschen, die die oben dargelegten Zusammenhänge nicht erkennen, sondern eine Idee vom „wahren Österreich“ verfolgen (Musil legt ja in mehreren Kapiteln dar, um welchen Unfug es sich da bei näherer Betrachtung handelt).


    Diotima lernt. Aber das Volk, dem die Ideen in den Kopf gesetzt werden sollen, wird immer nur auf die einfache, passende Botschaft hören wollen.


    Viele Grüße


    J.D.

  • Hallo John,


    ob du's falsch verstanden hast, weiß ich nicht. Das erste Zitat würde ich aber, da es von Sektionschef Tuzzi stammt, mit Vorsicht genießen. Es zeigt eine gewissen Schizophrenie im Handeln der Großbourgeoisie - einerseits Ideen anhängen und sie unterschwellig aber für inexistent halten. Da geht was im Denken nicht zusammen. Die Kritik geht hier in eine andere Richtung.


    Das zweite Zitat von Ulrich ist eine Beschreibung des Zustands, die Ahnung einer Reaktion auf diesen, aber eine Kritik kann ich hier immer noch nicht erkennen.


    Was die Truppe um Hans Sepp betrifft, so ist sie eher ein aus dem Ruder gelaufener Tuzzi. Es wird sich auf Ideen berufen, man hält sie für notwendig, aber eigentlich hat man keine, so dass man sich ma Ende sogar mit denen, die das genaue Gegenteil vertreten, irgendwie verständigen kann. Insofern geht es weniger um eine Kritik, dass irgendwer sein Leben an Ideen ausrichtet, sondern eher darum, dass man vorschützt, es zu tun, wohingegen eigentlich den schärfsten Verfechtern einer Idee die Idee selbst überhaupt nicht klar ist, sie sich aber trotzdem weigern, von ihr abzurücken (so ähnlich funktioniert ja auch Graf Leinsdorf). Nur in diesem letzten Sinne sehe ich eine Kritik an denen, die ihr Leben den großen Ideen verschreiben, aber vielleicht meinst du das ja.


    Herzlich, Bartlebooth.