Hier kann zu den Seiten 0435 - 0530 geschrieben werden.
'Der Mann ohne Eigenschaften' - Seiten 0435 - 0530
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Und weiter geht es mit den gelehrten Gesprächen. In die Geschichte scheint mir in diesem Abschnitt ein bisschen Bewegung zu kommen. Da ist zum einen General Stumms Begegnung mit dem Weltwissen, das die bittere Erkenntnis mit sich bringt, dass der einzige, der sich noch einen Überblick über das vorhandene Wissen bewahren kann, der Bibliotheksdiener ist, der nichts als den Katalog bedienen kann. Inhaltlich weiß er nichts, aber er kennt sich in der Verweisstruktur des Wissens aus, weiß, wo man was zu welchem Stichwort findet. Damit ist gewissermaßen auch der Kern der Parallelaktion erfasst, der Grund, warum sie zu scheitern droht: Nichts kann als große, zusammenführende Idee ausgewählt werden, denn entweder befasst man sich mit Inhalten und verliert den Überblick und die Fähigkeit sie zu korrelieren und zu gewichten, oder man verschafft sich einen Überblick, kann aber dann inhaltlich keine Aussagen mehr treffen, da die Fülle der INhalte zu groß ist. Wie auch immer, General Stumm gefällt es in der Bibliothek, denn indem er die Bücher liest, die vorher Diotima gelesen hat, fühlt er sich dieser näher.
Diotima und Ulrich haben eine Aussprache und da kommt doch tatsächlich (! John, du hattest recht) so etwas wie erotische Spannung auf, die natürlich nicht ausgelebt wird. Endlich entschlüsselt sich auch das Verhältnis von Diotima zu Arnheim. Er will sie heiraten, sie will ein Opfer bringen. Beide sind so von den Usancen und den Abwägungen ihrer Liebe und den äußeren Gegebenheiten durchdrungen, dass es sicherlich noch einige Zeit dauern wird, bis wir erfahren, ob sie sich zu einer Affäre durchringen können.
Und dann kommt es noch zu einem ausführlichen Gespräch zwischen Gerda Fischel und Ulrich, in dem dieser darauf hinweist, dass die Taten und die Entscheidungen des Einzelnen für den Gang der Weltgeschichte irrelevant sind: "wir können rechts oder links, hoch oder tief denken und handeln, neu oder alt, unberechenbar oder überlegt: es ist für den Mittelwert ganz gleichgültig, und Gott und Welt kommt es nur auf ihn an, nicht auf uns!" (S.491) Hier kapituliert Ulrich gewissermaßen vor der Statistik; das Persönliche wird in einer weiten Perspektive natürlich irrelevant. Erstaunlicherweise geht Ulrich aber nicht darauf ein, dass ja ein Mittelwert einer zwischen extremen ist, und sich also der Mittelwert verändert, wenn man auf die Extreme verzichtet. Und noch erstaunlicher: Er wirft Gerda und ihrer deutschnationalen Entourage vor, kein Ziel zu haben, wo er doch eigentlich selbst keines verfolgt.
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Hallo Bartlebooth,
einige Anmerkungen aus den Notizen, die ich mir beim Lesen gemacht habe: Clarisse macht es sich offenbar zur (Lebens-)Aufgabe, einen Kampf mit Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften aufzunehmen (97). Das Kapitel über die Polizeiausstellung (98): im „Hintergrund“ des Weltgeschehens werden systematisch Vorbereitungen für einen Krieg getroffen – wobei sich die Besucher mehr für den Schlaf eines Fräulein Vogelsang oder das Puppenhaus der englischen Königin zu interessieren scheinen. Ein Buch über die Verwirklichung des Wichtigsten ist auch in der Staatsbibliothek nicht zu finden (100) ... Diotima sucht Ulrichs Nähe und vertraut ihm tiefe Geheimnisse an – in diesem Kapitel (101) wird erstmals deutlich ausgesprochen, wie Ulrich zu Arnheim und Diotima zu den beiden Männern steht – Ulrich wirft Arnheim Gewinnsucht und Eitelkeit vor, Diotima sehnt sich nach einer Auszeit von den Mühen der Parallelaktion. Der Kampf im Hause Fischl (102) – der arme Direktor muss zusehen, wie er im eigenen Haus „entmachtet“ wird – wenn ich die verzweifelten Versuche sehe, Hans Sepp auf den Boden der Wirklichkeit zu führen (indem Fischl dessen Studium finanziert und Sepp im Gegenzug während einer „Probezeit“ nicht mehr im Hause Fischl erscheinen darf), denke ich an die Parallelen zum Ausgreifen des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich. Rachel erweist sich als stille Verehrerin von Ulrich, und macht sich gemeinsam mit Soliman auf den Weg, die Welt ihrer Herrschaft zu entzaubern (104). Schließlich: die Paralyse der „hohen Liebenden“ und Arnheims Entschluss, sein bisheriges (vernunftgeprägtes) Leben nicht für Diotima aufs Spiel zu setzen – einen Moment lang blitzen in Arnheim sogar Vorstellungen auf, die wir bislang nur an Moosbrugger wahrgenommen haben ... (106). Alles in allem: die Geschichte (sowohl die Parallelaktion als auch die Entwicklung der Charaktere) kommen keinen Milimeter voran, sondern fahren sich immer weiter in einer unentrinnbaren Sackgasse fest - ich sehe nicht ganz, welche "Bewegung" Du hier wahrgenommen hast...
Viele Grüße
J.D.
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Hallo John,
ich halte diesen Abschnitt praktisch für den wichtigsten des ganzen Buches. Das Kapitel mit dem Bibliotheksbesuch von General Stumm ist ein Schlüssel für das Scheitern der Parallelaktion, irgendwie ein Schlüssel für das ganze Buch. Die Reflexionen über die Geschichte haben mich ein ganzes Stück konkreter verstehen lassen, was bei Ulrich zur Eigenschaftslosigkeit führt. Und dass Diotima endlich mal zu Arnheim Stellung nimmt, empfand cih auch als einen platzenden Knoten, der allerdnigs eher auf der Handlungsebene lag, hier ist mein Verständnis des konzeptionellen Kerns nicht vorangekommen.
Das meine ich mit Bewegung. Wo man am Anfang das Stagnieren in vielerlei Hinsicht bemerkte, aber nicht recht fassen konnte, wo das alles hingeht, bzw. woran die Stagnation genau lag, bekommt man hier doch Antworten.Herzlich, Bartlebooth