OT: The Island of Adventure 1944
Obwohl Blyton 1944 bereits drei Kinderbuchserien und eine Bilderbuchreihe auf dem Markt hatte, deren Fans ungeduldig auf Fortsetzungen warteten, war ihr Einfallsreichtum immer noch groß genug, daß sie sich eine neue Folge von spannenden Geschichten ausdenken konnte. So betraten mitten im zweiten Weltkrieg zwei Geschwisterpaare die Bühne der Abenteuerliteratur, und ein Papagei. Philip und Dinah (dt: Dina), Jack und Lucy-Ann (dt: Lucy) und selbstverständlich Kiki sind seither aus den Kinderzimmern nicht mehr wegzudenken. Die jüngste deutsche Auflage dieses ersten Bands stammt aus dem Jahr 2003, 2006 folgte die nächste in England.
Das Elend des Kriegs ist in diesen Büchern ebensowenig zu spüren, wie in anderen Büchern von Blyton. Im Gegensatz zu nicht wenigen ihrer KollegInnen im Genre gibt es bei ihr keine Luftangriffe, keine Nazi-Spione. Es gibt nicht einmal Lebensmittel-Rationierungen, ganz im Gegenteil. Bei ihr wird keine Nation verteidigt, Uniformen tragen höchstens die Polizisten, die am Ende die Verbrecher abführen. Verteidigt wird allein eine friedliche Zivilgesellschaft gegen das ganz normale Verbrechen, den Paragraphen des Strafgesetzes wird zur Geltung verholfen. Zur Geltung verholfen wird auch dem Drang von Kindern, etwas beizutragen, wichtig zu sein, Entscheidungen treffen zu dürfen, Verantwortung zu tragen. Und das alles in einer Situation, die größtmögliche Freiheit vom Einfluß der Erwachsenen gewährleistet, in Ferienzeiten, in ländlichen Gegenden, wo man unbeeinträchtigt von Verkehr und sonstigem Regelwerk, herumtoben kann.
Der Einstieg in die Geschichte ist vom ersten Satz an fesselnd, witzig, originell und vertraut gleichermaßen, die typische Blyton-Mischung. Philip, der wegen Krankheit einen Teil des vergangenen Schuljahrs verpaßt hat, muß in den Sommerferien bei einem Lehrer Nachhilfe-Unterricht nehmen. Das gefällt ihm wenig, die Lage hellt sich aber auf, als ein weiterer Schüler eintrifft, Jack. Dieser hat nicht nur seine kleine Schwester Lucy-Ann im Schlepptau, sondern ist auch Besitzer des Papageis Kiki, einer Papageiendame, genauer gesagt, doch dazu unten mehr. Die Kinder freunden sich an, Jack und Lucy-Ann sind Waisen, für die ein Onkel sorgen muß, der Kinder nicht mag, Philip lebt mit seiner Schwester Dinah bei Onkel und Tante, da sein Vater gestorben ist und seine Mutter berufstätig. Gerade als Philips Nachhilfezeit abgelaufen ist, erfahren Jack und Lucy-Ann, daß ihr Onkel krank geworden ist, und sie auch den Rest der Ferien bei ihrem Nachhilfe-Lehrer verbringen sollen. Wie schrecklich! Kurzerhand fassen sie den Entschluß, mit Philip zu dem alten Haus an der Küste zu fahren, in dem seine Tante wohnt.
Dort erwarten sie nicht nur eine vor Neugier fast platzende Dinah, sondern auch der wenig freundliche Hausdiener Jo-Jo. Die Schwierigkeiten mit Philips Tante werden auf ziemlich witzige und zugleich recht gescheite Weise gelöst, das Abenteuer kann beginnen.
Und das tut es. Nächtliche Wanderungen am Strand, eine geheimnisvolle Insel, Höhlen, Segelboote, Picknicks und eine aufregende Bekanntschaft mit einem Erwachsenen, Bill, Smugs, der in den Klippen Ferien macht. Ob das stimmt? Selbstverständlich nicht.
Die Gefahr wächst, tatsächlich sind die Kinder über eine höchst gefährliche Verbrecherbande gestolpert. Die Situation wird schließlich lebensbedrohend. Die Rettung gelingt um Haaresbreite. Ende gut, alles gut. Aber ein wenig Herzklopfen bleibt.
Unter den Abenteuergeschichten von Blyton gilt die Serie, die das Wort Abenteuer auch im Titel trägt, als die reifste, und das ist so falsch nicht. Obwohl Blyton stark mit Stereotypen arbeitet, gelingt es ihr hier, Mehrschichtigkeit zu erzeugen. Die Erwachsenen werden mit Humor und Verständnis gezeichnet, vom eigentlich sympathischen, aber sehr genervten und unterbezahlten Lehrer, über die geplagte Tante Polly, die mit einem Egomanen als Ehemann geplagt ist, über den ziemlich geheimnisvollen Bill Smugs bis hin zu Jo-Jo, den schwarzen Hausdiener, einer der beeindruckendsten Charaktere, die Blyton je geschaffen hat. Die Geschichte hat einen dunklen Unterton, hier wird nicht geschönt, die Gefahren, denen die Kinder ausgesetzt sind, sind sehr realistisch geschildert, und wirklich lebensbedrohend. Es gibt Augenblicke echter Angst, es werden nur wenig Signale dafür gesetzt, wem die Kinder vertrauen können und wem nicht. Zwischen Philip und Bill kommt es zu einer Begegnung, in der Bill plötzlich sehr angsteinflößend auftritt und da befinden wir uns schon im letzten Drittel des Buchs!
Der führende Kopf hinter der Verbrecherbande ist in einem Maß kaltblütig und mörderisch, daß man Gänsehaut bekommen kann.
In keinem anderen Buch von Blyton übrigens wird so viel vom Geld geredet, das fehlende, das, das man braucht, das, das man in Riesenmengen erstrebt, das echte und das falsche.
Sehr gut getroffen sind auch die Kinderfiguren. Die kleine, freundliche Lucy-Ann, die ihren Bruder anbetet. Sie ist aber kein süßes Mädchen, wenn jemand Jack angreift, kann sie böse werden, und der Vorschlag, mit Philip durchzubrennen, stammt von ihr. Jack versucht, großer Bruder und Vaterfigur zu sein, was ihm auch meist gelingt, er ist der Vernünftigste. Die Vernunft setzt allerdings völlig aus, wenn es um sein Lieblingsthema geht, Vögel. Dann kommt es zu regelrechten Irrsinns-Taten, die ihn und die anderen Kinder immer wieder in Klemmen bringen. Philip und Dinah sind das typische Geschwisterpaar, die sich im Alter sehr nahe sind, und wohl deswegen stets streiten. Philip ist tierlieb bis ins Extrem, er sammelt ein, was ihm unter die Finger kommt, Dinah kann das Krabbelzeug nicht ausstehen. Die beiden aber schreien sich nicht nur an, sie prügeln sich richtiggehend. Dinah kann ebensogut zuschlagen wie Philip. Die Streitszenen haben es in sich und sind keineswegs nur lustig.
Die Komik bringt Kiki, auch sie eine veritable Persönlichkeit. Jack mit einem Papagei auszurüsten, der prima sprechen kann, ist eine tolle Idee und bringt viel Schwung in den Handlungsablauf. Blyton nützt das aus bis zum letzten. Mit Kiki hatte es von Anfang an eine eigene Bewandtnis. Im Text wird sie als scharlachrot und grauer Papagei beschrieben. Blytons Illustrator, Stuart Tresilian, aber zeichnete von Anfang an - einen weißen Kakadu! Es ist mir nie gelungen. dieses Rätsel zu klären. In den neuen Ausgaben, in denen aus verschiedenen Gründen so manche Textstelle verändert wurde, wurde Kiki inzwischen zu einem weißen Papagei mit gelber Federkrone. Ob das besser ist?
Eine einschneidende Veränderung erfuhr die Figur des schwarzen Jo-Jo. Aus ihm wurde zwischenzeitlich ein Joe, alle Hinweise auf seine Hautfarbe wurden getilgt. Nicht verschwunden ist seine Anrede von Philips und Dinahs Tanten mit ‚Miss Polly’. Das klingt nun mehr als seltsam. Ausgehebelt wurde damit jedoch gleichzeitig die besondere Funktion, daß die Rolle des ‚dummen Negers’ im Rahmen der Geschichte hat. De facto büßt Jo-Jos wahre Persönlichkeit, nämlich die eines hochintelligenten Menschen, damit Beträchtliches ein. So erhebt sich hier die unangenehme Frage, ob die Eingriffe tatsächlich die Beseitigung rassistischer Vorstellungen darstellen oder ob aus dem Gruppenbild ein eigenständiger Schwarzer entfernt wurde, wodurch ein Porträt in reinweiß übriggeblieben ist. Was wiederum rassistisch wäre.
Nicht verändert wurde das hochkonservative Mutterbild, dem Blyton anhängt, und das einen störenden antimodernen Impetus hat. Blyton mißbilligt mit Philip als Sprachrohr nämlich aufs Höchste, daß seine und Dinahs Mutter arbeiten geht. Eine so nette Frau soll so etwas nicht tun müssen, sagt ihr männlich denkender Sohn, der von dem Tag träumt, an dem er selbst Geld verdienen kann und Muttchen von der Fron erlösen. Mrs. Mannering allerdings führt eine sehr erfolgreiche Künstleragentur. Es scheint ihr Spaß zu machen. Aber das darf nicht sein. Diese Haltung hat in den modernen Bearbeitungen keine und keinen gestört, denn sie wird unverändert nachgedruckt.
Daß Blyton unverändert als Renner gilt, läßt sich auch daran erkennen, daß sich dtv ab 2000 eine Neu-Übersetzung geleistet hat. Sie enthält die Veränderungen, die inzwischen im englischen Text vorgenommen wurden, Jo-Jo ist also Joe. Sie liest sich modern-flüssig, ohne ins Saloppe abzugleiten. Für die jungen LeserInnen in Deutschland bringt sie eine neue Erkenntnis: endlich ist Kiki auch hierzulande weiblich geworden. Das war sie bislang nämlich nicht. Und selbstverständlich lautet ihr Schlußsatz heutzutage auch: Gott schütze die Königin.
‚Die Insel der Abenteuer’ ein Klassiker, immer noch spannend und recht gut lesbar, trotz des einen oder anderen Körnchens Salz.