Tote ertrinken nicht - Ross Macdonald

  • OT: The Way Some People Die 1951


    Lew Archer erhält von einer besorgten Mutter den Auftrag, nach ihrer Tochter, Galatea, zu suchen. Die Tochter ist volljährig, Krankenschwester und hat ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Dennoch hat sie sich seit fast drei Monaten nicht mehr bei ihr gemeldet. Archer hat keine rechte Lust, sich um die Sache zu kümmern, die Auftraggeberin, Mrs. Lawrence, ist ihm mehr unsympathisch als sympathisch, die Geschichte selbst erscheint ihm mehr als klar. Galatea, kurz: Galley, ist mit einem Mann durchgebrannt, sie ist alt genug, auf sich selbst aufzupassen, die Mutter überfürsorglich. Daß er den Auftrag doch annimmt, liegt letztlich am Photo von Galley. Es zeigt eine ungewöhnlich schöne Frau.


    Dennoch geht Archer die Sache ziemlich lustlos an. Seine Begeisterung steigt nicht, als sich es erste Hinweise auf eine Verbindung zu Kleinkriminellen gibt, Schutzgelder, Spielautomaten, Boxen. Seine zugrundeliegende ambivalente Haltung zu Menschen aus diesem Milieu, eine nicht recht faßbare Mischung aus Abneigung, Verachtung und echtem Mitleid, verstellt ihm den klaren Blick auf die Dinge. Obwohl das Wetter, das in Macdonalds Krimis immer eine große Rolle spielt, für einmal durchgängig klar ist und auch die Nächte recht hell sind, wandert Archer durch eine Art Nebelwelt, eine Folge seiner eigenen ungeklärten Gefühlslage. Fast jede und jeden, denen er begegnet, schätzt er falsch ein, er reagiert spontan, instinktiv, läßt sich von Eindrücken leiten und verwirren. Das hat fatale Folgen, bald schon gibt es das erste Opfer und rasch darauf ein zweites, an deren gewaltsamem Ende Archer in seiner tapsigen Blindheit nicht unschuldig ist. Es bleibt nicht bei deisen beiden Toten.


    Dazu wächst die ganze Angelegenheit unter seinen Händen. Was hinter allem steckt, ist bald groß genug, daß Archer zu seinem eigenen Entsetzen zeitweise gezwungen ist, das Spiel eines in der Gegend großen Kriminellen mitzuspielen. Erst gegen Ende gelingt es ihm, die Hand ans Steuer zu legen. Aber zu diesem Zeitpunkt ist die Sache schon so verfahren, daß auch die Gerechtigkeit nur noch schal schmeckt.


    Dieser Krimi ist ein klassischer Noir, nicht häufig unter den Lew-Archer-Romanen. In der Regel enden sie bei allem Elend mit einer hoffnungsvollen Note. Dieser hier nicht. Die Sonne scheint, aber sie zeigt nur umso deutlicher, wie schäbig, heruntergekommen, klein und eng alles ist. Die Böden in den Wohnungen sind dreckverklebt, die Bäder und Küchen schimmelig. Farbe blättert von den Wänden, die modernste Einrichtung birgt blutige Schrecken. Es ist eine Geschichte der Fehleinschätzungen und des blinden Glaubens, Mütter täuschen sich in ihren Kindern, Kinder in ihren Eltern, Männer in Frauen, Frauen in Männer, Freunde in Freunden. Liebe ist, was Nutzen bringt. Träume vom Schönen, Guten, Friedvollen bringen nur der Alkohol oder Drogen. Geld ist eine der Drogen.


    Der deutsche Titel ist ein Fehlgriff, sensationslüstern, grell, und enthält noch dazu einen dummen Hinweis auf eines der Rätsel der Geschichte. Der Originaltitel sagt viel eher, worum es Macdonald in seinem dritten Roman mit dem Privatdetektiv Lew Archer ging. Nämlich zu schildern, auf welche Arten Menschen sich zugrunde richten können, bis hin zum gewaltsamen Tod. Es ist eine faszinierende Studie unglücklicher Charaktere und zugleich ein überaus spannender Kriminalfall. Wie Archer, der fast unablässig in Bewegung ist zwischen Los Angeles, Palm Springs und San Francisco, werden die LeserInnen von einer Fährte zu nächsten gehetzt. Die Gruppe der Figuren ist eigentlich klein, die Personen tauchen aber in den unterschiedlichsten Konstellationen auf, so daß man den Eindruck gewinnt, daß es mindestens doppelt soviele Beteiligte sind. Das ist nur eines der Täuschungsmanöver in diesem Roman, der voller Täuschungen steckt und von Täuschungen, vor allem von Selbsttäuschungen handelt.
    Ein Klassiker, dessen Wiederentdeckung lohnt. Auf deutsch ist er zur Zeit nicht lieferbar, auf amerikanisch gibt es ihn seit dem Sommer 2007 wieder. Endlich.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus