OT: Hemingway Ve-Geshem Ha-Tziporim Ha-Metot 2006
Tal Schani, um die Vierzig, seines Zeichens israelischer Schriftsteller, wird von einer Kulturorganisation in die Ukraine geschickt, um bei einem Festival israelischer Kultur aufzutreten. Dieser eigentlich normale Vorgang ist für Tal alles andere als normal. Von einem Augenblick zum nächsten wird er gezwungen, sich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen und mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Er stammt nämlich aus der Ukraine, eingewandert nach Israel ist er mit seinen Eltern (oder seine Eltern mit ihm?) erst in den siebziger Jahren. Auch lautet sein Name nicht Tal Schani (oder doch? Was ist ein Name?), sondern Anatoli Schnaiderman, genannt Tolik. Die ersten Erinnerungen, noch im Flugzeug der Linie El Al, übrigens, den Freiflug, den die Kulturorganisation bei Aeroflot spendierte, hat er, Israeli durch und durch, natürlich nicht angenommen, die ersten Erinnerungen also gelten dem Jungen Tolik und dem Ablauf der Auswanderung. Es ist ein Rückflug in die Vergangenheit, ‚hier’ und ‚dort’ werden auf sehr schmerzliche Weise umgekehrt. Am Ende dieser ersten Episode, die zugleich den Ausgangspunkt der Erzählung bildet, haben zwei Personen wieder zusammengefunden. Tal ist wieder Tolik, der kleine Junge von damals.
Doch wer ist Tolik? Drei weitere Episoden schildern eine Kindheit in der Sowjetunion Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Tolik ist ein Junge, der stolz darauf ist, Sowjetbürger zu sein, Bewohner des Landes des Friedens und des Fortschritts, des Landes, in dem es nur vorwärts geht. Arbeit gibt es für alle und Schulen, Wohnungen und genug zu essen. Die Siegernation des zweiten Weltkriegs siegt auch im Zivilleben auf der ganzen Linie. Zugleich sind Brüche und Spannungen spürbar, Zensur, Bespitzelung, Unfreiheit. Propaganda in Großpackungen. Die Eltern bemühen sich, vieles davon von Tolik fernzuhalten, die Tatsache, daß ein Großvater offenbar in einem Lager lebt, wird z.B. nur unter der Hand abgehandelt. Die Brief verschwinden schnell, gesprochen wird nur im Flüsterton und möglichst nicht in seiner Gegenwart.
Es gibt noch ein zweites Problem. Tolik und seine Eltern sind Juden. Aber was sind Juden in der Sowjetunion? Eine Nation, erfährt Tolik, zu seinem nicht geringen Schrecken. So steht es im Paß. Das macht dem Jungen doppelt zu schaffen. Denn die Erinnerungen an die deutsche Besatzungszeit, an Verfolgung und Ermordung russischer Jüdinnen und Juden wird im Land hochgehalten. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der kulturellen Identität der großen Siegernation. Tolik ist als Sowjetbürger ein Sieger, die Soldaten der Roten Armee sind seine großen Helden. So möchte er auch sein, er ist stolz darauf. Zugleich aber ist er Opfer. Weil er Jude ist. So schwankt er zwischen Heldenposen und den Traumata der Eltern - und Großelterngeneration. Seine heimlichen Ängste vor den ‚Fritzen’ sind immens. Dazu kommt der alltägliche Antisemitismus.
Dennoch ist er unglücklich, als sein Vater beschließt, nach Israel auszuwandern. Das Land ist fremd. Er versucht, dem Ganzen auszuweichen, indem er sich kopfüber in seine neue Identität stürzt. Der Staat Israel kommt ihm dabei entgegen. Wer einwandert, muß schriftlich auf alle Ansprüche an das Herkunftsland verzichten, von der Rente bis zum Paß. Und den Namen. Tolik wird neugeboren, als Israeli, als Zionist. Als Jude. Wieder. Ein neuer Mensch, ein neuer Name. Und doch ...
Diese 230 Seiten sind eine sehr schwierige Lektüre. Es geht um Identität und Fremdheit und das am Beispiel zweier Länder, deren gesamter Aufbau, de facto Existenz, diskussionsbedürftig ist und mindestens ebenso viele Probleme geschaffen haben, wie gelöst wurden. Da es um Jugenderinnerungen geht, steht die Sowjetunion bei den Beschreibungen im Vordergrund. Tatsächlich muß man aber Israel mitlesen, es zeigt sich sozusagen immer im Spiegel. So entspricht z.B. die Schikane der sowjetischen Soldaten bei der Ausreise der Schikane, der die Einwanderer bei der Aufnahme in Israel ausgesetzt sind. Dort wird der Inhalt von sieben Koffern ausgekippt, hier wird den Einreisenden per Formular ihre Herkunft entzogen, Punkt für Punkt. Was war, zählt nicht mehr, nur der Blick nach vorne gilt. Arbeit gibt es für alle und Schulen, Wohnungen und genug zu essen. Israel ist das beste Vaterland der Welt.
Viel wird erzählt von den Soldaten der Roten Armee, im Krieg und in den Jugendjahren Toliks, das ist aber immer auch Hinweis darauf, daß Israel ein durch und durch militarisiertes Land ist. Was der Schriftsteller Tal bitte während des Festivals in der Ukraine nicht erwähnen soll. Zuweilen nimmt Saidman dann doch kein Blatt vor den Mund.
Tolik, der noch keinen Buchstaben hebräisch lesen kann, entziffert bei seiner Ankunft in Israel die Symbole, die Bilder und den Spruch darüber instinktiv. Anstatt ‚Proletarier aller Länder’ heißt es nun ‚Juden aller Länder’, da ist er sich sicher. Die Fahnen haben eine andere Farbe, aber auch hier gibt es einen ‚Marx’ und einen ‚Lenin’. Brüche und Spannungen, Zensur. Die Situation Israels mit den judenfeindlichen Arabern wird den Einwandererkindern auch prompt serviert, in einem kitschigen Film. Propaganda in Großpackungen.
Es ist ein Buch über die Frage nach den Wurzeln, über die Verdrängung und vor allem das Benutzen von Ereignissen der Vergangenheit zu Stiftung von Identität, die sich in ihrer Ausschließlichkeit als negativ für das Individuum erweist. Es ist ein Buch über die alte Frage, was ist ein Jude, wer ist einer und was ist er, wenn er es ist? Ohne ein gewisse Vorkenntnis der Situation in der Sowjetunion und vor allem der Diskussion in Israel über eben diese Themen ist dieser Episodenroman nur schwer zugänglich.
Die deutschsprachigen Rezensionen, die es bislang zu diesem Buch gibt, bestätigen das. Der Inhalt ist zum Teil falsch wiedergegeben, es wird ausschließlich als Kritik an der Sowjetunion gelesen. Daß dieses Buch von Israel und dem Zionismus handelt, wird übersehen. Es ist ein ungewohntes Thema, man muß sich auf Fragen einlassen, denen man ungern nachgeht. Manches versteckt sich hinter solchen Beschreibungen wie ‚der israelische Lenin’ oder in einer schlichten Kapitelüberschrift. ‚Tolik Frank’ heißt es da und man stutzt. Es dauert seine Zeit, bis man begriffen hat, daß es, obwohl sich die Handlung in der Ukraine abspielt, darum geht, daß jedes jüdische Kind Anne Frank ist, eine wichtige zionistische Denkfigur.
Die Darstellungsweise des Autors ist beim Verständnis nicht unbedingt hilfreich. Er ist Art Director und Fachmann für visuelle Kommunikation. Dementsprechend konzentriert er sich darauf, im Text Bilder aufzubauen. Tolik/Tal stellt sich seine Vergangenheit auch immer als Film vor, den er abspielt. Phantasievorstellungen und Träume, etwa der, in dem ein Nenn-Onkel der Familie im fernen Sibirien einem Vogel, der erfroren aus der Luft fiel, neues Leben einhaucht oder jene Schreckensvision, in der die Wehrmacht wieder einmarschiert, nehmen breiten Raum ein. Es gibt auch Ungewöhnliches, Menschenmassen als Fleischwolf, der den einzelnen am Ende als rohen Fleischfaden wieder ausspuckt. Oder die Werke der Weltliteratur, die wie Soldaten in blauen, braunen oder auch schwarzen Uniformen in Reih und Glied in den Regalen stehen. Mit den russischen, hebräischen, jiddischen und am Ende auch arabischen Einsprengseln im Text muß man sich arrangieren.
Wenn man sich am Ende fremd vorkommt und verwirrt, ist ein Ziel dieses Romans erreicht. Ein wenig Trost bietet die Episode am Schluß. Tal, der als Tolka ins heiße, betonbebaute und von kurzangebundenen, westlich-unfreundlichen Zeitgenossen besiedelte, kurz: rundum moderne Israel zurückgekehrt ist, bekennt sich zu seiner Vergangenheit. Und gewinnt einen Großvater. Ob der tatsächlich sein Großvater ist? Das ist nicht wichtig, wichtiger ist es, zu akzeptieren, daß man eine Vergangenheit hat. ‚Hier’ und ‚dort’ verbunden werden kann, ja, muß. Ohne Vergangenheit ist man kein Mensch.
Harte Lektüre, hartes Thema.