Der Aufsatz - Antonio Skármeta/Ill. von Jacky Gleich (Kinderbuch ab 8 J.)

  • OT: La composición 2000


    Das Wichtigste im Leben des kleinen Pedro ist Fußballspielen. Zum Geburtstag hat er sogar einen eigenen Fußball bekommen, allerdings aus Plastik. Ein Lederball wäre viel besser, findet Pedro. Fast genauso wichtig sind Pedro die Eltern, ‚fast’, weil man mit ihnen zur Zeit weniger anfangen kann. Dauernd sitzen sie am Radio und lauschen auf etwas, das für Pedro eigentlich nur wie ein Rauschen klingt. Seine Mutter allerdings sagt, daß man durch das Rauschen interessante Dinge zu hören bekommt. Von Fußball handeln die ‚interessanten Dinge’ aber nicht, deswegen denkt Pedro auch nicht weiter darüber nach. Er macht sich auch keine Gedanken, als immer häufiger Soldaten in den Straßen auftauchen, aber es verwirrt ihn, daß mitten im schönsten Spiel seiner Straßenmannschaft der Obsthändler gegenüber, der Vater von Pedros Freund Daniel, verhaftet wird. ‚Weil er gegen die Diktatur ist’, sagt Daniel auf Pedros Frage. Pedro grübelt. Ist er auch gegen die Diktatur? Sein Vater sagt, daß Kinder gegen gar nichts sind, sie sind einfach nur Kinder. Spielen soll Pedro, brav in die Schule gehen und lieb sein zu seinen Eltern. Pedro hat nichts dagegen, auch wenn das heißt, daß er morgens rennen muß, um pünktlich in der Schule zu sein.


    In der Schule aber taucht eines Tages ein Offizier auf, der die Kinder auffordert, einen Aufsatz zu schreiben. Für den besten verspricht er eine wunderbare Belohnung. Dafür sollen die Kinder erzählen, was ihre Eltern tun, wenn sie abends nach Hause kommen. Pedro überlegt. Was soll er schreiben?


    Diese kleine Geschichte ist eine ungewöhnlich offene Auseinandersetzung mit dem schrecklichen Phänomen der Diktatur. Zielstrebig und mit nur wenigen Worten wird beschrieben, wie politische Gewalt in den Alltag eindringt, zuerst schleichend, dann immer schneller und heftiger, zuletzt mit höchster Brutalität. Soldaten tauchen auf, Erwachsene legen immer öfter die Finger auf die Lippen, Nachbarn werden verhaftet, beim Abendessen fängt Mutter aus heiterem Himmel zu weinen an. Zugleich geht das Leben seinen normalen Gang. Es wird Sommer, es wird Herbst, die Müllabfuhr streikt ein bißchen, Pedro lernt dribbeln und einen Fußball mit einem Kopfstoß nach hinten schießen, das Eis wird teurer und eine Klassenkameradin will einen Kuß von ihm. Bäh!
    Nie läßt Skármeta die Leserinnen und Leser vergessen, daß sein Protagonist neun Jahre alt ist. Auch nicht, wenn er eine sehr gefährliche Entscheidung treffen muß.
    Es ist eine kleine Geschichte über Zuneigung und Liebe, über Fürsorge und Beschützerinstinkt, über Mut und Widerstand. Es ist ein Kinderbuch mit einer klaren politischen Aussage, es ist eine sehr unheimliche Geschichte voll heimlichem Grauen und gleichzeitig die schöne, lustige und rundum lebendige Beschreibung einer harmonischen Kinderzeit.


    Die Illustrationen von Jacky Gleich fangen diese Atmosphäre der Widersprüchlichkeit perfekt ein. Da tobt Pedro vergnügt mit seinem Fußball durch die Straßen, dort schrubbt er munter seine Zähne (mit seinem Zeigefinger!). Aber sein Gesichtchen wird ernster im Lauf der Geschichte, nachdenklicher, sein Blick ist auf einmal auf der Hut. Bei seinen Freunden ist das nicht anders und so werden die Gesichter der Kinder allmählich denen der Erwachsenen immer ähnlicher, obwohl sie nur ahnen, worum es geht. Vom Fußballspiel wird übergeblendet zu umgestürzten Obstkisten, die rechte Bildecke ist gefüllt von einem Paar Beine in Soldatenstiefeln. Das gemütliche abendliche Wohnzimmer von Pedros Eltern ist auf einmal voller Schatten und ein Schatten ist auch das erste, was im Klassenzimmer von jenem Hauptmann sieht, der die Kinder den Aufsatz schreiben läßt. In den Illustrationen gibt es ebensoviel zu entdecken, wie im Text.


    Übersetzt wurde die Geschichte von Willi Zurbrüggen, der die Frische und den untergründigen Humor Skármetas auch im Deutschen eingefangen hat.


    Da man hierzulande Politik in Kinderbüchern stets halb entschuldigen, halb rechtfertigen muß, hat die deutsche Ausgabe ein Nachwort von Gudrun Pausewang bekommen, das nicht nur überflüssig, anbiedernd und pathetisch ist, sondern die ausgezeichnete Geschichte mit eben dem erhobenen Zeigefinger versieht, auf den ein Autor wie Skármeta im Traum nicht verfallen wäre. Am besten klebt man diese beiden Seiten einfach zusammen, ehe man das Buch Kindern überläßt. Man muß sie nicht jeder Peinlichkeit aussetzen. Mit Skármeta und Jacky Gleich werden sie prima allein zurechtkommen.



    edit: Altersangabe von 6 auf 8 Jahre heraufgesetzt

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • danke für die interessante rezension, magali, (obwohl ich zugeben muss, dass ich die beiden pausewangblätter jetzt vermutlich sogar zuallererst lesen würde :grin).
    von diesem schriftsteller las ich vor einigen jahren:

    "Aus der Ferne sehe ich dieses Land. Ein Chilene in Berlin"
    mE auch als jugnedbuch erschienen unter "nixpassiert" (der name, den ihm leute verpasst hatten, die seinen tatsächlichen nicht aussprechen bzw behalten konnten)


    und


    "Sophies Matchball. Roman."


    gefielen mir damals auch recht gut, für eine rezi reicht es aber nicht mehr...


    :wave

    "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute ohne Laster auch sehr wenige Tugenden haben." (A. Lincoln)

  • Eine wunderbare Rezi, Magali! Vielen Dank dafür.


    Der Verlag gibt das Alter der Zielgruppe mit 8 bis 10 Jahren an. Siehst du das auch so? Vermutlich interessiert es eher Jungs als Mädchen, bedingt durch das Fußballspielen. Ich werde mir das Buch auf alle Fälle besorgen und selber lesen.


    Wenn man sich Fotos von Skármeta anschaut, dann glaubt man gerne, dass dieser Autor Humor besitzt. Und das Kinderbuch hat er anscheinend nicht mit schwülstigen Formulierungen beladen... :grin

  • Rosha


    mit Altersangaben ist es immer schwierig. Ich habe gerade entdeckt, daß ich selbst sogar 'ab 6 Jahren' geschrieben habe. :gruebel
    Ich werde es doch ändern.
    Der Grundkonflikt ist heftig. Es geht um das Verhalten sehr kleiner Kinder in einer Diktatur. Die Illustrationen machen von vornherein klar, daß es keine niedliche Geschichte ist.
    Acht Jahre kann man durchaus ansetzen.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus