Koenigs Kinder - Kathrin Schmidt

  • Ein kleines Mädchen verschwindet und wird einige Tage später schwerverletzt wiederaufgefunden. Der Roman von Kathrin Schmidt aber handelt überraschenderweise nicht von der Entführung, ihren Gründen und der Aufklärung dieses Kriminalfalls, sondern er erzählt die Geschichte desjenigen, der das Mädchen ganz durch Zufall gefunden hat. Dieser, der homosexuelle Rechtsanwalt Marl, ist aber nicht der einzige, auf dessen Leben die Entführung Einfluß nimmt. Die kleine Janina, wie sie in den Medien bald nur noch genannt wird, dringt auch in das Leben der russischen Aussiedlerfamilie Zeiger ein sowie in das der Lehrerin Lioba Zeplin. Verbunden sind die Figuren zudem durch die junge Frau Koenig, ein ein wenig zurückgebliebenes, kindlich-kindisches Wesen, die als Putzfrau bei einigen der Personen arbeitet.
    Es geht um Kindheiten, verschüttete, durchlittene und geschönte, um unerfüllbaren Kinderwunsch, um die Ablehnung von Kindern wie Kindheit, emotionale Vernachlässigung, Gewalt. Es geht um ausgesetzte Kinder und angenommene Kinder, um geliebte und gehaßte.


    Die Geschichte ist breit angelegt, die Autorin nimmt sich viel Zeit. Fast ein Drittel der Erzählzeit verstreicht, ehe man mehr als nur das vage Versprechen hat, daß sich hier ein Bild zusammenfügen wird. Ausführlich werden die einzelnen Personen vorgestellt, die Ehe von Marl und Frieling - die beiden Männer haben seltsamerweise keine Vornamen - , Marls Eltern, Marls Sekretärin, die seine ehemalige Geliebte ist. Daneben das Ehepaar Zeiger mit der Großmutter Ida Berger, wie sie in Deutschland heißt, Lioba, die Schneiderstochter, die Kinder haßt, vor allem ihre Schülerinnen und Schüler, und schließlich die seltsame Putzfrau mit ihrem sehr alten Vater, Herr Koenig. Die Schwerpunkte verschieben sich ganz langsam, von der jüngeren Generation zu älteren, zwischen dem Ostberlin der Nach-Wendezeit zum Ost-Berlin der frühen fünfziger Jahre bis nach Kasachstan und wieder zurück in die DDR und ins heutige Ost-Berlin.


    Erzählt wird von einem Beobachterinnen-Standpunkt aus, fast berichtsartig werden die Gefühlsregungen der Figuren wiedergegeben. Es gibt keine Dialoge, nur indirekte Rede. Der Außensicht folgt umgehend die Innensicht der Figuren, Selbsteinschätzungen und Reflexionen sind häufig. In kurzer Zeit entsteht so ein dichtes, wucherndes emotionales Flechtwerk. Noch seinen dünnsten Fäden wird analysierend nachgegangen. Aus dem Fadengewirr - das ist durchaus wörtlich zu nehmen, Stoffe, Nähen, Häkeln, Stricken, Garne tauchen als Motive immer wieder auf - schält sich tatsächlich ein Familienporträt heraus, auf dem alle Figuren ihren Platz finden, vier Generationen zuletzt.


    Der Grund der Zusammengehörigkeit war ein gewalttätiger, dementsprechend gewaltsam aber mutet auch der dieser Geschichte zugrundeliegende Gedankengang an. Es ist ein Laborversuch, äußerst kunstvoll ausgeführt, zugleich aber eben künstlich. Es ist streckenweise stark intellektuell geprägt, Männlichkeits - und Weiblichkeitsmuster werden hinterfragt, auf den Kopf gestellt und wieder auf die Füße, und das so lange, bis man endlich begriffen wie wenig sie gelten, obwohl sie solche Gültigkeit besitzen.


    Um der Sterilität, die Laborversuche auszeichnet, auszuweichen, wird das Ganze mit einer überbordenden Sprachfülle dargeboten. Darüberhinaus ist der Text mit sehr ausführlichen Beschreibungen sinnlicher Genüsse, vornehmlich des Essens, ausgestattet. Der Geschmack von Speisen sind ein Mittel die Kindheit herbei zu erinnern und damit die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen. Folgerichtig endet auch ein wesentlicher Teil der Geschichte bei einem Feinschmeckermahl. Zugleich aber läuft eben diese aufgesetzte Sinnlichkeit häufig Gefahr, die Anämie der äußerst künstlichen Figurenkonstellation eher herauszuheben als zu überdecken.


    Der Roman ist im Grund ein wahnwitziges Unterfangen, aber selbst diesen Wahn weiß die Autorin für sich zu nützen. Nichts ist in dieser Geschichte ‚normal’, aber eben das ist normal, denn damit müssen wir doch alle leben. Und wer ist schuld an dem Ganzen?
    Die Liebe, die Hur, natürlich, die die Autorin immer kursiv gedruckt durch den Roman geistern läßt. Sie kleistert das ganze seltsame Konstrukt zusammen, das hier so künstlich, aber doch zugleich so lebensecht vorgeführt wurde. Am Ende sind sie alle zusammengekommen, obwohl sie nicht beieinander sind, der Titel des Buchs ist selbstverständlich Programm, obwohl die Liebe, die Hur noch einmal kräftig hineingespuckt hat.


    Eine Geschichte über Gewalt, Schuld und die Folgen des Verdrängens, eigenartig steril und sinnlich zugleich, märchenhaft-phantastisch und zugleich seltsam distanziert. Ein vielgängiges Festmahl des Artifiziellen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus