Tigerauge - Judy Blume (ab 13 J.)

  • OT: Tigereyes


    Es beginnt mit einer Beerdigung. Beerdigt wird der Vater der 15jährigen Protagonistin Davey. Er war 34 Jahre alt und wurde bei einem Überfall auf seinen kleinen Lebensmittelladen in Atlantic City erschossen. Davey, ihre Mutter Gwen und der kleine Bruder Jason bemühen sich, eine Art Normalalltag in ihrer Trauer aufrechtzuerhalten. Bald aber zeigt sich, daß das nicht geht. Daher beschließen sie, Atlantic City zu verlassen, und ziehen zu Verwandten nach Los Alamos. Sie werden herzlich aufgenommen, und eine Zeitlang sieht es so aus, als hätten sie ein neues Zuhause gefunden.


    Doch der Schein trügt. Die Familie muß sich nicht nur mit ihrem Kummer auseinandersetzen, sondern vor allem damit, daß der plötzliche Tod des Vaters ihr Sicherheitsgefühl grundlegend zerstört hat. Am tiefsten getroffen hat es Davey, sie schläft nur noch mit einem Brotmesser unter dem Kopfkissen. Da sie aber zugleich ein hellwaches und lebenshungriges junges Mädchen ist, kann sie sich vor ihrer Umgebung nicht lange verschließen. Und so fällt ihr auf, daß die Menschen um sie herum, von der gleichaltrigen Freundin bis hin zu den Erwachsenen, von Ängsten geplagt werden. Nicht wenige davon kommen Davey im Lauf der Zeit unwichtig, falsch und absurd vor.


    Beim Herumklettern in den Bergen der Umgebung trifft sie einen jungen Mann. Er verschweigt ihr seinen Namen, er nennt sich Wolf. Davey antwortet mit Tiger. Wolfs Geheimnis klärt sich im Lauf der Geschichte auf, ebenso das von Davey. Das Jahr in Los Alamos lehrt Davey nicht nur, daß es begründete und unbegründete Ängste gibt, sondern vor allem, daß sie eben das sind, was das Leben für eine bereithält. Es gibt keine umfassende Sicherheit, gleich, wie dick die Mauern sind, mit denen man sich umgibt. Man kann nur wagen.


    Daveys Geschichte ist eine eher ungewöhnliche Geschichte über den Tod geliebter Menschen. Es geht nicht nur um die Bewältigung von Trauer und das Leben mit dem Kummer, sondern vor allem um die Ängste, die ein solcher Verlust auslöst. Daß Blume dabei vom Extremfall ausgeht, dem Mord an einem recht jungen Familienvater, hat zur Folge, daß man auch als Leserin von Anfang an Daveys zunächst verdrängte Angstgefühle mitempfindet. Die Geschichte beginnt sehr langsam und steigert sich eher gemächlich. Rasch aber ist man mitten in einer Welt voller Gefahren. Daß so manche Angst in den Bereich des Absurden gehört, erschließt sich nur langsam, zu überzeugend werden die Argumente für die vielen Sicherheitsvorkehrungen vorgebracht.


    Ein wesentliches Element dabei ist es, daß die Figuren der Romans allesamt sehr freundliche und liebevolle Personen sind. Sie handeln aus Sorge, für sich und die anderen. Das gilt für Onkel Walter, der in der örtlich angesiedelten Produktionsstätte für Kriegswaffen arbeitet, ebenso, wie für Tante Bitsy, die schon dem siebenjährigen Jason Kleie zum Frühstück verabreicht, damit er ‚später keine Hämorrhoiden bekommt’. Viele Szenen sind ambivalent angelegt, so ist Wolfs Ärger über Daveys Leichtsinn, mit dem sie nur mit Turnschuhen an den Füßen und ohne Wasserflasche stundenlang in den Bergen herumklettert, durchaus berechtigt, während Davey dabei ist, aus seinem Ärger Vergewaltigungsabsichten herauszulesen.
    Zu den schlimmsten Szenen gehört sicher die, in der Onkel Walter, der Waffenentwickler, seiner echten Fürsorge für Davey dadurch Ausdruck verleiht, indem er ihr stolz eine Karte für einen Platz im Atombunker überreicht. Es ist eine Szene seltener Grausamkeit in einem Jugendbuch, die zugleich nichts anderes ist als eine Szene höchster Liebe.


    Was Blume zugleich gelingt, ist es, ein Bild einer hochparanoiden weißen Bevölkerungsgruppe zu zeichnen, die mit allem Erdenklichen, vom Fitnessbuch bis zur Atombombe, bis an die Zähne bewaffnet dem Leben trotzen will. Ein erstaunlicher Wurf.
    ‚La vida es una buena aventura’ sagt Davey am Ende, stolz, einen Satz in einer neuen Sprache gelernt zu haben. In der Tasche trägt sie das kleine Tigerauge, den letzten Gruß von Wolf. Aber Davey kann jetzt nach vorne blicken, auch wenn sie die Scherben, die hinter ihr liegen, nicht vergessen wird.


    Vielschichtiges, überzeugendes Buch über eine Fünfzehnjährige zu Beginn der 1980er Jahre, das aber nichts an Aktualität verloren hat.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus