'Zeit der Freundinnen' - Kapitel 06 - 13

  • Ja, wir wissen an dieser Stelle sicher noch nicht, weshalb Jodie so reagiert.
    Aber ich nehme ihr ab, dass ihre Gefühle echt sind.


    Und mir geht es hier gar nicht darum, was Charlotte gebraucht hätte oder nicht gebraucht hätte.
    Gefühle kann man nicht auf Abruf bestellen.
    Und um nichts anderes geht es bei Mitleid und Mitgefühl.


    Helen erledigt ihren Job - aber das Ganze kommt mir sehr gefühllos vor ( muss es wahrscheinlich auch sein ). Jede Reaktion, jedes Wort, jede Handlung ist genau "geplant", bzw. wird bewusst eingesetzt.
    Das ist sicher wichtig und gut so - aber irgendwie auch abschreckend. Besonders im Hinblick auf die Transplantationen ( die Zeit drängt, der Job von Helen sollte möglichst schnell erledigt sein ).

  • Zitat

    Original von Rosenstolz


    Helen erledigt ihren Job - aber das Ganze kommt mir sehr gefühllos vor ( muss es wahrscheinlich auch sein ). Jede Reaktion, jedes Wort, jede Handlung ist genau "geplant", bzw. wird bewusst eingesetzt.
    Das ist sicher wichtig und gut so - aber irgendwie auch abschreckend. Besonders im Hinblick auf die Transplantationen ( die Zeit drängt, der Job von Helen sollte möglichst schnell erledigt sein ).


    Das sehe ich auch so. Der Grundglaube ist zwar da, aber vieles wird "zweckmäßig" eingesetzt.
    Bellie geht wohl auch nicht zur Sonntagsschule.

    Don't live down to expectations. Go out there and do something remarkable.
    Wendy Wasserstein

  • Ich verstehe, dass die "mechanische Art", mit der wir unsere Arbeit verrichten, sehr schwer nachzuempfinden ist. Doch ist es schlichtweg so, dass ich es in meinem Arbeitsfeld IMMER mit entsetzlichen Tragödien zu tun habe. Ein Kind sitzt arglos im Wohnzimmer vor dem Computer und wird von einer Kugel getroffen, die ein Junkie aus einem fahrenden Auto schießt - grundlos. Eine Mutter will eben noch Milch im Supermarkt kaufen und wird frontal von einem LKW erwischt, weil der Fahrer sie einfach nicht gesehen hat.
    Die Gefühle der Angehörigen sind dermaßen überwältigend, dass man sich ihnen nicht aussetzen KANN. Würde man das tun, ginge man in der Zimmerecke in die Knie mit beiden Händen über dem Kopf. Da werden Laute ausgestoßen, die schwerlich zu beschreiben sind. Da ist eine von Schmerz und Grauen erfüllte Energie im Raum, die im schlimmsten aller Fälle zu Selbstzerstörung oder Gewaltausübung führen kann.
    Immer wieder müssen wir Kurse besuchen, in denen immer wieder das gleiche gelehrt wird: Sich niemals von den Gefühlen der Angehörigen berühren zu lassen, damit wir ihre Gefühle in eine konstruktive, für alle Teile ungefährliche Richtung lenken können.

  • Zitat

    Original von dbhellmann
    Da werden Laute ausgestoßen, die schwerlich zu beschreiben sind.


    Das kann ich mir gut vorstellen. Als ich etwa elf war (also etwa 1969), wurde - als ich vom Schulschwimmen heim kam und aus dem Bus ausstieg, wo mich meine Mutter abholte - ein Nachbarkind, das auch mit diesem Bus gekommen war vor unser aller Augen (auch seine Mutter war da) von einem Auto erfaßt und schwer verletzt. Sinnigerweise war das so ziemlich die einzige 30-km-Zone, die es zu dieser Zeit gab. Den Schrei der Mutter "Der Knabe ist tot!" habe ich heute noch im Ohr. Rund vierzig Jahre später. Ich vermute, daß ich deshalb heute noch sage, wenn ich langsam bzw. vorsichtig mit dem Auto unterwegs bin "damit ich kein Kind überfahre".


    Ich habe keine Ahnung (und will es auch gar nicht wissen), wie ich reagieren würde, wenn meinem Kind etwas passieren würde.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von Rosenstolz


    Helen erledigt ihren Job - aber das Ganze kommt mir sehr gefühllos vor ( muss es wahrscheinlich auch sein ). Jede Reaktion, jedes Wort, jede Handlung ist genau "geplant", bzw. wird bewusst eingesetzt.
    Das ist sicher wichtig und gut so - aber irgendwie auch abschreckend. Besonders im Hinblick auf die Transplantationen ( die Zeit drängt, der Job von Helen sollte möglichst schnell erledigt sein ).


    Ich hatte in dem Buch nie, wirklich nie das Gefühl, dass Helen ihren Job gefühllos erledigt. Ganz im Gegenteil. Natürlich verhält sie sich bewusst, überlegt und geschult handelnd, dass muss sie ja auch. Welchen Sinn hätte sonst diese Arbeit? Aber sie hat es fast immer dabei geschafft, voller ehrlichem Mitgefühl genau die richtigen Worte zu finden, die den völlig mutlosen, verzweifelten, zutiefst geschockten Hinterbliebenen in dem Moment ein ganz klein wenig Trost gespendet haben. Gerade das hat mich jedes Mal so bewegt.


    Dass wiederum im Hintergrund die Zeit drängt, was die Organspende anbelangt, ist völlig schrecklich, aber nun mal leider auch Realität, gerade wenn sich jemand zu Lebzeiten bewusst für eine Organspende entschieden hat. Doch auch da hatte ich immer ein wirklich gutes Gefühl bei Helen, dass sie diese Gratwanderung erstaunlich sensibel gemeistert hat. Wenn Hinterbliebene noch nicht so weit waren, hat sie durch eindringliche Blicke dem an der Tür stehenden Arzt signalisiert, jetzt noch nicht!!!

  • Zitat

    Original von Rosenstolz
    Diana : Deshalb habe ich ja auch geschrieben, dass Helen sehr wahrscheinlich so handeln muss. :-)


    Ja, um sich selbst zu schützen, und um vor allem überhaupt helfen zu können!
    Man stelle sich vor, Ärzte und Krankenschwestern auf der Krebsstation würden wirklich bei jedem Patienten mitleiden, die wären doch absolut handlungsunfähig. Man braucht einen Selbstschutz, einen gewissen Abstand, um überhaupt helfen zu können, und damit man nicht selbst verrückt wird.
    Ich erlebe das auch oft bei der Arbeit, und jeder, der in einem Krankenhaus arbeitet, ganz gewiss auch.
    Was hier gefühllos rüberkommt, ist ganz einfach eine gewissen "Professionalität" - so schrecklich das klingt - die man braucht, um so was überhaupt durchzustehen und seine Arbeit erledigen zu können.


    Das Jodies Gefühle in diesem Moment echt waren, daran zweifle ich nicht. Aber sie waren unverhältnismäßig. Womit das zu tun hat, erfahren wir noch später im Buch. ;-)

    Worte sind Waffen. Wenn Ihnen etwas ganz stark am Herzen liegt, legen Sie Ihre Waffe an und feuern. (James N. Frey)

  • Das "Mitleid", das die Jodie im Buch Charlotte gegenüber an den Tag legt, kennen viele Menschen, denen ein großer Verlust widerfahren ist.
    Ich habe hier in Los Angeles eine sehr liebe Freundin, die ich seit vielen Jahren kenne. Sie macht jede Beerdigung zu einem Spektakel. Gleichgültig, wer stirbt, sie wird bei den Feierlichkeiten dermaßen die Fassung verlieren, dass man meinen möchte, sie sei die Hauptleidtragende.
    Dieser Jammer, den sie da an den Tag legt, ist echt. Der kommt bei ihr von tief drinnen. Sie hat nie den Tod ihrer Mutter verkraftet, hat Todesangst davor, weitere Verluste in ihrem Leben erleiden zu müssen und vermeidet gezielt, sich mit diesem Gemisch aus Trauer und Angst auseinanderzusetzen. Im Alltag klappt das großartig. Aber wehe, es stirbt einer!
    Das Problem ist, dass man diejenigen, die in einer Stunde Null tatsächlich einen Verlust erlitten haben, in diesem Moment vor dieser Frau schützen muss. Sie fühlen sich beim Anblick von so viel Mega-Trauer für einen "Bekannten" wie gefühllose Klötze. Das "Klageweib" muß gestützt und mit Wasser versorgt werden, während der Witwer oder die Witwe mit leeren Augen fragt, wie man denn hier jetzt an Wasser kommt. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man glatt darüber lachen.

  • Zitat

    Original von dbhellmann
    Das "Mitleid", das die Jodie im Buch Charlotte gegenüber an den Tag legt, kennen viele Menschen, denen ein großer Verlust widerfahren ist.
    Ich habe hier in Los Angeles eine sehr liebe Freundin, die ich seit vielen Jahren kenne. Sie macht jede Beerdigung zu einem Spektakel. Gleichgültig, wer stirbt, sie wird bei den Feierlichkeiten dermaßen die Fassung verlieren, dass man meinen möchte, sie sei die Hauptleidtragende.
    Dieser Jammer, den sie da an den Tag legt, ist echt. Der kommt bei ihr von tief drinnen. Sie hat nie den Tod ihrer Mutter verkraftet, hat Todesangst davor, weitere Verluste in ihrem Leben erleiden zu müssen und vermeidet gezielt, sich mit diesem Gemisch aus Trauer und Angst auseinanderzusetzen. Im Alltag klappt das großartig. Aber wehe, es stirbt einer!
    Das Problem ist, dass man diejenigen, die in einer Stunde Null tatsächlich einen Verlust erlitten haben, in diesem Moment vor dieser Frau schützen muss. Sie fühlen sich beim Anblick von so viel Mega-Trauer für einen "Bekannten" wie gefühllose Klötze.


    Für mich ein sehr bewegender Beitrag und genau auf den Punkt gebracht. Am Anfang unserer Leserunde hatte ich mal geschrieben, wie gern ich so eine Arbeit machen würde, wie erfüllend ich das fände. Und ich hab mich auch nicht für völlig untalentiert gehalten. Doch mittlerweile ist mir klar geworden, wie weit entfernt ich davon bin, Helens Arbeit machen zu können. Dass Sensibilität, Mitgefühl, Zuhörenkönnen etc. nur ein ganz kleiner Teil davon sind. Jetzt weiß ich erst, wie unbedingt nötig für mich zuvor all die vielen Fortbildungen wären.


    Auch für die Hospiz-Arbeit braucht man wahrscheinlich viel mehr Wissen, als ich mir im Moment vorstelle. Ich hatte einmal ganz unerwartet ein zutiefst beeindruckendes Gespräch mit einer sehr netten Hospiz-Mitarbeiterin, dass leider viel zu früh unterbrochen wurde, weil die Trauergesellschaft plötzlich aufbrach, während ich am liebsten noch geblieben wäre. Obwohl wir uns völlig fremd waren, hatten wir sofort einen Draht zueinander ... unglaublich.

  • Die Vorstellung und die Realität von Hospiz-Arbeit sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Nur die wenigsten Patienten möchten in dieser letzten Phase ihres Lebens Philosophie oder Religion diskutieren oder den vermeintlichen Weg, den ihre Energie vielleicht, sofern es sie überhaupt gibt, bla-bla ... Die meisten Patienten müssen furzen und können nicht, müssen scheißen und können nicht, haben einen trockenen Mund, bringen aber nichts herunter, sind genervt von Kuebler-Ross-Zitaten und Gedichtbänden, die sich auf ihrem Nachttisch häufen. Die Trennung von Körper und Seele ist eine anstrengende und wenig appetitliche Sache. Die Tür öffnet sich manchmal vorab und erlaubt einen Blick, aber dann kommt der nächste Furz, oder es kommt die Angst, oder es kommt gar die Nachbarin, die gehört hat, dass die Indianer bei ihren Sterbenden immer trommeln und das soll beruhigend wirken.
    Ich habe bei meiner Hospizarbeit vornehmlich Endbetreuung gemacht. Ich war für viele der letzte neue Mensch, den sie in ihrem Leben kennenlernten, und das habe ich meist offen so gesagt, wenn wir einander begegneten. Meine Aufgabe war es, mit purer Anwesenheit dafür zu sorgen, dass sie nicht allein waren in dieser letzten Phase, und nichts zu unternehmen, wenn akute Lebensgefahr eintrat, lediglich zu versuchen, sie dabei zu beruhigen, soweit man das überhaupt kann.
    Erfolgreich ist man gewesen, wenn der Patient tot ist. A job well done. "Wrap & Die" nannten wir das untereinander.

  • Glasklare Worte! Die mich aufgrund meiner ungefähren Vorstellung, die ich hatte, aber nicht schockieren. Dass da nichts mehr diskutiert werden möchte, war mir ziemlich klar. Sondern dass es um schlichte Anwesenheit geht, um zu unterstützen, zu beruhigen, helfend einzugreifen, wo immer nötig, Angst zu nehmen, vielleicht die Hand zu halten usw.


    "Erfolgreich ist man gewesen, wenn der Patient tot ist. A job well done." Das klingt hart, ist aber wohl so.


    "Wrap & Die", finde ich entschieden herzlicher gesagt, das ist genau das, was für mich den entscheidenden Unterschied ausmacht, ob ich in einem Krankenhaus sterben muss oder menschlich gut betreut in einem Hospiz.

  • Zitat

    Original von dbhellmann
    Nur die wenigsten Patienten möchten in dieser letzten Phase ihres Lebens Philosophie oder Religion diskutieren oder den vermeintlichen Weg, den ihre Energie vielleicht, sofern es sie überhaupt gibt, bla-bla ... Die meisten Patienten müssen furzen und können nicht, müssen scheißen und können nicht, haben einen trockenen Mund, bringen aber nichts herunter, sind genervt von Kuebler-Ross-Zitaten und Gedichtbänden, die sich auf ihrem Nachttisch häufen.


    So schonungslos deutliche Erfahrungen mit dem Tod hab ich in diesem Leben noch nicht gemacht - aber alles, was du dazu sagst, leuchtet mir ein.
    Man kann sich im Leben sicher noch so sehr mit Philosophie, Religion und Spekulationen über die geistige Dimension verlieren - wenn man selbst an der Schwelle steht, geht es wohl nur noch darum, wie man am besten drüber kommt.


    Mir kam beim Lesen spontan der Gedanke, dass es sich ganz ähnlich mit der Geburt verhält.
    Man beschäftigt sich in den Monaten davor ja kaum mit was anderem, rackert sich bei der Schwangerengymnastik ab, schaut sich tausend verschiedene Kliniken an, liest dicke Wälzer über Leboyer, Wassergeburt, die richtige Atmung und Schlagmichtot ... wenn es dann so weit ist, dann ist das alles so was von egal. Man will es nur noch hinter sich bringen - völlig egal wie. Ist seinem Körper völlig ausgeliefert, der macht, was er will. Und liebevoll gemeinter Beistand ist sogar manchmal lästig, ich wollte nicht mal von meinem Mann angefasst werden.
    Ebenso extrem ist es wohl auch für das Kind, das da zur Welt kommt, es erlebt ja auch eine absolute Stresssituation.


    Aber danach - wenn Geburt oder Sterben schließlich überstanden ist - ist man mehr als belohnt für alle Mühen und kann feiern: Die Geburt auf Erden oder aber die Geburt im Himmel. Und vielleicht Leben und Tod als zwei Seiten derselben Tür erkennen.


    War mal so ein Gedanke, der mir gerade kam: Dass Ausnahmezustände im Leben wie Geburt und Tod sich doch mehr zu ähneln scheinen, als man sich vielleicht vorstellt.

    Worte sind Waffen. Wenn Ihnen etwas ganz stark am Herzen liegt, legen Sie Ihre Waffe an und feuern. (James N. Frey)