Obwohl die Nebeldämonen zurückgeschlagen werden konnten, ist Sonja noch nicht aus Parva zurückgekehrt. Das liegt zum einen daran, daß sie sich von all dem, was ihr in diesem fremden Land liebgeworden ist, noch nicht trennen möchte, zum anderen an ihrem Stolz auf ihre Leistung als Auserwählte der Göttin Aruna. Beides zusammengenommen macht sie aber auch übermütig. Prompt läßt sie sich auf eine halsbrecherische Unternehmung ein. Sie verspricht, Königin Aletheia aus dem Reich der Nebeldämonen zu retten. Nicht einmal Nachtfrosts Einwände können sie abhalten. Sonja ist schon auf dem Weg, als ihr dämmert, daß sie diesesmal ohne Amulett und außerhalb jeder Prophezeiung handelt. Als Nachtfrost dann auch noch eigene Wege gehen muß, ist das Unglück vorprogrammiert. Einer der mächtigsten der Nebelkönige hat schon auf sie gewartet. Er will Sonja für seine eigenen Zwecke benutzen.
Melanie, die auf ihrer Flucht aus Chiarron und vor den Weißen Schwestern lange Zeit in der Geisterwelt zwischen den Spiegeln verloren gegangen war, muß sich nach ihrer überraschenden Rettung der Tatsache stellen, daß sie vor allem Durcheinander angerichtet hat, das keinem nützte. Unversehens aber werden von ihr Entscheidungen verlangt, bei denen Selbstmitleid nur fehl am Platz ist. Melanie muß im Wortsinn einen Sprung ins Nichts hin zur Verantwortung für sich und für andere machen.
Am Ende ist alles gut, obwohl es nicht unbedingt ein gutes Ende nimmt.
Der sechste Band um Sonja und Nachtfrost ist eine gewagte Angelegenheit. Er ist notwendig, weil es aus den vorhergehenden Bänden genug Überhangmaterial und lose Fäden gab, die unbedingt verarbeitet und verwahrt werden mußten. Auf der Ebene des Mädchenbuchs klappt es im Großen und Ganzen auch gut, vor allem, wenn man ihn als die bislang fehlende Geschichte Melanies sieht. Diese entfaltet sowohl in dieser Welt als auch in Parva ihre volle Wirkung. Der Handlungsstrang mit den Alraunen ist, trotz des deutlichen ET-Touches, einfach nur schön. Die Figur Sebastians von den Hell’s Devils auszubauen, wie sie ausgebaut wurde, ist eine Überraschung, die rundum gelingt.
Die Lösung des Problems ‚Idore und Isarde’ enthält Strafe und Komik zu gleichen Teilen. Ben gewinnt einige Dimensionen, die Richtung, die das Verhältnis zwischen Melanie und Sonjas ältestem Bruder Philipp einschlägt, ist wirklich fein ausgedacht und lebensecht. Überzeugend und klug werden Elemente des allerersten Bands aufgenommen und sicher verknotet.
Weniger überzeugend, wenn auch spannend genug, ist die Handlung auf der Nebelinsel. Das ist zu kurz, zu skizzenhaft geraten. Das Grüppchen Darian, Elri, Lorin muß vorübergehend sogar ganz ausgeblendet werden, weil der Raum einfach zu eng ist. Das wiederum läßt den Höhepunkt bei aller Dramatik merkwürdig blaß erscheinen. Die Entscheidungen, die die Figuren treffen müssen, sind nicht recht nachvollziehbar, sie rutschen in den Bereich ‚anbehauptet, nicht illustriert’. Tatsächlich wird hier ein mehrgängiges Menü als Fünf-Minuten-Terrine serviert.
Das hatt seinen Grund darin, daß in diesem sechsten Band zutage tritt, was sich spätestens ab dem vierten Teil der Geschichte um das Amulett des Wolfsgotts angekündigt hat: die zunächst kleine Geschichte über Parva ist gewachsen, so sehr, daß sie eine Eigendynamik entwickelt hat, die den Rahmen einer Erzählung für Mädchen sprengt. Drängte es in Band vier schon gelegentlich hart an den Rand der Seiten, war der Druck im fünften Band hoch genug, daß man häufig ein Überquellen befürchten mußte. Im sechsten nun wurde hochtaugliches Fantasymaterial von beträchtlicher Eigenständigkeit dem kindlich definierten Kosmos angepaßt, und zwar gewaltsam. Dem Buch als Mädchenbuch schadet das nicht unbedingt, dennoch müssen auch die Leserinnen der Zielgruppe einen neuen Ton hinnehmen. Er ist ernster, dunkler, ‚erwachsener’. Er paßt zum Aufbruch in eine neue Phase, aber er zeigt auch, daß es höchste Zeit ist, mit der Geschichte Parvas nur aus Kinderaugen aufzuhören. Das kühle Silber mit dem eher blaugrundigen Violett fängt die neue Stimmung ganz gut ein.
Der sechste Band ist ein faszinierendes, vorwärtsweisendes Leseerlebnis. Für das kindliche Publikum ist es ein durchaus befriedigender Abschluß, der allerdings stärker von Trauer geprägt ist als die vorhergehenden Bände.
Insgesamt gehören die sechs Bücher zu denen, die eine mehrfache Lektüre gut vertragen. Es gibt immer wieder etwas zu entdecken, zu erkennen, anders zu deuten. Es sind Bücher, die man auch nach Jahren noch aus dem Regal ziehen kann, ohne das leise Gefühl der Scham zu spüren darüber, ‚daß man als Kind so etwas Seichtes gelesen hat’. Es sind Bücher zum Liebhaben, es ist eine Geschichte zum Lieben und eine, von der sicher manche Szene und so mancher Name für alle Zeiten bei einer bleibt, auch wenn man die genauen Zusammenhänge irgendwann vergißt.
Der sechste Band und damit die Reihe ‚Einhornzauber’ endet dann auch voll Liebe, nämlich mit zwei Personen ‚Hand in Hand’. Es ist kein geringer Verdienst der Autorin, daß es sich dabei nicht um ein klassisches Liebespaar handelt. Es ist, genau in diesem Moment, etwas viel Wichtigeres: die beste Freundin der Welt!