Apostoloff - Sibylle Lewitscharoff

  • Suhrkamp, gebundene Ausgabe: 245 Seiten
    Februar 2009 erschienen


    Kurzbeschreibung:
    Zwei Schwestern. Die eine auf der Rückbank, die andere auf dem Beifahrersitz, die eine scharfzüngig und kampflustig, die andere nachsichtig und höflich: Sie sind unterwegs im heutigen Bulgarien. Auf der ersten Hälfte ihrer Reise waren sie Teil eines prächtigen Limousinenkonvois, der die Leichen von 19 Exilbulgaren - in den Vierzigern von Sofia nach Stuttgart ausgewandert - in ihre alte Heimat überführte. Darunter der frühverstorbene Vater der Schwestern. Jetzt sind sie Touristinnen, chauffiert vom langmütigen Rumen Apostoloff. Er möchte den beiden die Schätze seines Landes zeigen, die Keramik mit Pfauenaugendekor (dessen Kobaltblau giftig ist), die Schwarzmeerküste (komplett versaut), die Architektur (ein Verbrechen des 20. Jahrhunderts). Die Jüngere, die Erzählerin, spuckt Gift und Galle.


    Apostoloffs Vermittlungsversuche zwischen Sofia und Stuttgart sind zunächst wenig erfolgreich. Denn das bulgarische Erbe der Schwestern wiegt schwer - wenn der Vater, der erfolgreiche Arzt und schwermütige Einwanderer, in ihren Träumen auftaucht, schlängelt das Ende des Stricks, an dem er sich erhängt hat, noch hinter ihm her. Doch dem »Unglück, das dieses Aas von einem Vater auf Häupter und Herzen seiner Töchter geladen hat« wird nicht auf melancholische Art begegnet.


    Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman ist eine Suada von der Rückbank, die bissige, rabenschwarze und erzkomische Abrechnung einer Tochter mit dem Vater und seinem Land.


    Über die Autorin:
    Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, studierte Religionwissenschaften in Berlin, lebte jeweils ein Jahr in Buenos Aires und Paris und danach wieder in Berlin. Sie ist Autorin von Radiofeatures und Hörspielen und hat ein Grammatik-Brettspiel erfunden.
    Bisherige Bücher: 36 Gerechte, Pong, Der höfliche Harald, Montgomery, Consummatus


    Meine Meinung:
    Sybille Lewitscharoff hat schon viele Preise gewonnen: z.B. den Ingeborg Bachmann-Preis 1998 in Klagenfurt. Dabei wurde schon deutlich, wie präzise, wie ungewöhnlich die Autorin schreibt. Dann folgten der Kranichsteiner Literaturpreis, der Preis der Literaturhäuser, der Marie-Luise-Kaschnitz-Preis der Evangelischen Akademie Tutzing
    Mal abwarten, welche Preise sie mit ihrem neuen Buch Apostoloff abräumt. Denn das sie stilistisch zu den talentiertesten Autorinnen Deutschlands gehört, ist offensichtlich.


    Der Plot mit zwei Schwestern, die durch Bulgarien reisen, nachdem sie die Leiche ihres in Stuttgart gestorbenen Vaters in seine alte Heimat überführt haben, bietet viel Raum für ungewöhnliche Textstellen.


    Bemerkenswert ist übrigens, dass auch die Autorin aus Stuttgart stammt und einen bulgarischen Vater hatte, ein Arzt der vor dem kommunistischen Regime floh und sich später in Deutschland das Leben nahm. Autobiographische Bezüge zum Roman sind daher gegeben.


    Die erwartete Selbstzerfleischung bleibt aber überwiegend aus. Eine Abrechnung in Form eines klagenden Tons sehe ich nicht. Der Roman ist sprachlich stark, aber zahmer als erwartet.
    Der Text ist zwar intensiv geschrieben, sogar teilweise innovativ, aber vieles verläuft leider ins Leere, es warten Verständnisschwierigkeiten auf den Leser und so richtig spannend wird es nie. Die Ironie wird nur angedeutet, funktioniert für mich aber leider nicht so ganz.


    Doch immerhin gibt es auch gute Passagen, zum Beispiel der eigenwillige Blick der Protagonisten auf Bulgarien während der gesamten Fahrt.


    Dann sind einzelne Sätze stilistisch wirklich außergewöhnlich, und sagen etwas aus.
    Zum Beispiel: “Ich finde nichts Zartes oder Schwebendes in mir, fühle mich randvoll ausgegossen mit Beton.“ (Seite 124)


    Oder die Erinnerung der Erzählerin an ihre Kindheit, als sie nachts den Dackel mit ins Bett nahm, wenn sie noch etwas las: „Obwohl ich längst keinen Hund mehr besitze, brauche ich im Bett nur ein Buch aufzuschlagen, und schon fühle ich das warme Dackelohr auf meinen Handrücken zucken.“ (Seite 46)
    Solche Stellen haben schon fast etwas von Marcel Proust.


    Der Autorin gelingt es ebenfalls Vergangenes mit der Gegenwart zu verknüpfen.
    Am Ende bleibt der Leser trotzdem etwas ratlos zurück. „Alles Weitere bleibt geheim“ heißt das letzte Kapitel des Romans.
    Vielleicht ist Apostoloff letztlich wirklich ein Buch, das man mehr als einmal lesen muss.

  • Danke für schöne Rezension, Herr Palomar :-)


    Das Buch habe ich auf meiner Suchauftrags-Liste, würde es auch gerne lesen -aber da kann ich auf das Taschenbuch warten.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Stand auch auf meiner inneren Wunschliste, Die Rezi von Denis Scheck hat mich dann wieder abgeschreckt. Da musste erst der Leipziger Buchpreis kommen und heute hab ich mir das Buch doch zugelegt.


    Mich hat Sibylle Lewitscharoff damals beim Bachmannpreis mit ihrer Sprachkunst sehr begeistert, dann hab ich sie ein wenig aus den Augen verloren.

  • Gestern abend gab es ein Interview mit der Autorin auf 3sat. Sympatisch wirkte sie auf mich nicht.


    Die Geschichte macht mich trotzdem neugierig. Mal sehen, wann es das bei uns in der Bibliothek gibt. Kommt auf meine Wunschliste.

  • Mir hat das Buch gut gefallen.
    Die Idee, die Toten gefriergetrocknet nach Bulgarien zu überführen, ist skurril.
    Auch die Mischung Reisebericht und Familiengeschichten, die Gegensätze schwäbisch und bulgarisch finde ich gelungen.


    Eine meiner Lieblingsstelle:
    "Der Clou des Monuments bestand darin: Wenn am Tage der Auferstehung die Stuttgarter Bulgaren gemeinsam aus ihren Urnenhäuschen flögen, würden sie als erstes den Schneegipfel des Vitoscha-Gebirges erblicken. Tabakoff stellte sich die Sache unbedingt mit Schnee vor, obwohl es auf dem Vitoscha inzwischen selten schneit, in Zukunft womöglich überhaupt nicht mehr. Und noch eins: da sich bei Tabakoff inner schon alles um Amerika gedreht hatte, war in seine religiösen Vorstellungen ein tröstlicher Kinderglaube gezogen, in dem er so rosa und hellblau zuging wie auf seinen Hollywoodschaukeln, nicht düster und streng wie in dem orthodoxen Milieu, in dem er aufgewachsen war.
    Beim Nachtmal im Principe di Savoia ließ uns seine rostige Stimme wissen, wie er sich die Auferstehung dachte: in einem fliegenden Wusch. Zarte Wolken am Himmel. Gott wartet in einem rosa Gewand. die Türchen würden aufspringen, die Deckel der Urnen ebenso, und was darin noch an Krümeln sein mochte, würde dabei herausfliegen und sich in neue, leichte Leiber verwandeln. er selbst natürlich mit von der Partie - bis dahin wäre er ja längst tot -, aber nicht nur das: er würde der Mannschaft vorausfliegen, sie waren seine Flugschüler, er sein Kapitän." (S. 83/84)"


    Sprachlich finde ich das Buch sehr gelungen und gerade habe ich mir "Pong" ertauscht. ;-)

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Meine Meinung:


    Ich war aufgrund des Klappentextes sehr skeptisch, als ich das Buch zum ersten Mal in die Hand genommen habe und wurde im Verlauf der Lektüre positiv überrascht. Ich muss dazu sagen, dass der Klappentext irreführend ist, dieser Roman ist weder eine Komödie noch ein Roadtrip im eigentlichen Sinne sonders eher ein langer Monolog / Bewusstseinsstrom und eine Abrechnung mit dem längst an Suizid verstorbenen Vater in Gedanken.


    Die Autorin hat eine sehr eigenartige, unverwechselbare Sprache, die nicht unbedingt einfach zu lesen ist, dafür aber einfallsreich und interessant. Die provokative Art und Weise gefällt mir gut. Dagegen haben mich andere Aspekte ziemlich gestört, zum Beispiel die vielen Zitate quer durch die Literatur- und Philosophiegeschichte von Homer über Nietzsche bis Murakami, die meiner Meinung nach nicht unbedingt den Text unterstützten sondern eher so aussehen, als ob sie in den Roman reingestreut würden, um die Belesenheit der Autorin zu beweisen. Ein anderer Minuspunkt, der mich gestört hat, war die alte Rechtschreibung mit Wörtern wie muß, gefaßt, gefloßen usw., die in einem Buch, das 2009 erschienen ist, nichts zu suchen haben.


    Dieses Buch ist stark autobiographisch und persönlich, die Autorin bringt auch ihre persönliche Weltanschauung in diesem Buch zum Vorschein, insbesondere Antistalinismus / -sowjetismus und ihre christlich-religiös geprägte Anschauung dringen stark durch. An sich habe ich daran nichts zu kritisieren, nur die Art und Weise, wie sie durchdringen, hat mir nicht gefallen, mir war es stellenweise zu aufdringlich und hat mich abgestoßen.


    Trotz alldem finde ich die Sprachgewandtheit der Autorin bemerkenswert, trotz der ungewöhnlichem Wortgebrauch kann man den Text fließend lesen. Obwohl es im Roman kaum Handlungen gibt, und es hauptsächlich aus einem Monolog/Gedankenstrom besteht, blieb es für mich spannend, ich habe es in kurzer Zeit ohne Langeweile gelesen, was für das Buch spricht.


    Ich kann die kontroversen Rezensionen zu dem Buch nun gut nachvollziehen. Es ist auf keinem Fall ein "schlechtes" Buch, nur der Stil muss einem zusagen. Für mich war es zwar ein neuartiges, aber nicht unbedingt ein herausragendes Leseerlebnis, von mir 6/10 Punkte.

  • Herr Palomar
    Auch von mir ein herzliches Dankeschön für Deine Rezis zu dieser Autorin. Zu den von Dir rezensierten Romanen kann ich nichts sagen, nicht einmal, das ich deren Lektüre (nicht) erwäge.


    Sibylle Lewitscharoff wurde im Herbst 2016 zu den Poetik-Vorlesungen an der Universität Wien eingeladen. Durch die Video-Aufzeichnung ihres dortigen Vortrags über ihr jüngstes Buch "Das Pfingstwunder" (2016) bin ich überhaupt auf sie aufmerksam geworden und habe mir diesen Roman entliehen - mit übergroßen Erwartungen, die nun enttäuscht worden sind.


    Ich komme mit Lewitscharoffs Erzählstil nicht klar. Anfangs dachte ich, ich wäre einfach mit einem Brett vorm Hirn bedacht worden im Zuge der Grippewelle, aber es ist wohl doch ihr extrem "elaborierter" sprachlicher Stil. Ich komme einfach in keinen Lesefluss hinein.


    Es interessiert mich, was Dennis Scheck über diese preisgekrönte Autorin gesagt hat. "Das Pfingstwunder" werde ich wieder in die Bücherei zurückbringen.


    Insofern vielen Dank an Eure geposteten Eindrücke. Ich hatte ernsthaft an mir zu zweifeln begonnen, ob ich vielleicht im fortgeschrittenen Alter nur mehr "leichte" Literatur lesen kann.