Das Licht brennt ein Loch in den Tag – Wilhelm Genazino

  • Verlag: Rowohlt
    Taschenbuch: 125 Seiten
    1996,


    Kurzbeschreibung:
    Ein Erzähler, durch aktuelle Erinnerungslücken beunruhigt, findet einen ungewöhnlichen Ausweg, dem vorstellbar gewordenen Verlust des Gedächtnisses zu begegnen. Er "verteilt" die wichtigsten seiner Erlebnisse mündlich und in Briefen an seine Freunde. Eines Tages, so sein Auftrag, wenn ihm gewisse Details der eigenen Biographie nicht mehr zur Verfügung stehen, sollen ihm die Freunde seine Erinnerungen "zurückerzählen".


    Über den Autor:
    Wilhelm Genazino, geboren 1943 in Mannheim, arbeitete nach dem Abitur zunächst als freier Journalist, später als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften (u. a. für Pardon). Seit 1971 ist er als freier Schriftsteller tätig. Von 1980–1986 war er Mitherausgeber von Lesezeichen. Er ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, u.a. dem Kunstpreis Berlin 2003 und dem Georg-Büchner-Preis 2004. Seit 2004 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er lebt in Frankfurt.


    Meine Meinung:
    Dieses kleine, schon etwas ältere Buch von Wilhelm Genazino ist für mich eins seiner liebenswertesten. Eigentlich hat mich schon der Titel alleine überzeugt, aber auch die Grundidee. Ein Mann hat Angst, seine Erinnerungen eines Tages zu verlieren und teilt sie daher seinen Freunden stückweise mit. Zwischen vielen kleinen, alltäglichen Erinnerungsepisoden sind Briefe des Protagonisten W. an seine Freunde verteilt. Es sind insgesamt 105 kurze Kapitel, die durch einen roten Faden zusammengehalten werden, daraus entsteht ein ungewöhnlicher Lesefluss. Es sind unglaublich viele ungewöhnliche, originelle und absurde Bilder die Genazino in seinen Erinnerungen formt. Es liegt viel Witz und ein wenig Wehmut darin, welche Erinnerungen er für wichtig und erinnernswert hält.
    Das geht von kleinen Details von z.B. Straßenbahnen mit Schildern auf denen stand „Nicht auf den Boden spucken“ oder das Lesen eines bestimmten Buches hin bis zu dem letzten Satz, den seine Mutter im Krankenhaus kurz vor ihrem Tod sagte. Aber vieles ist verschachtelt, in einer späteren Episode erfährt man, dass seine Mutter im Krankenhaus nichts mehr gesagt hatte und er sich diesen Satz nur ausgedacht hatte. Selbst seine Selbsttäuschungen will er nicht durch Vergessen verlieren.


    Dabei erfolgen das Erinnern und das Beobachten in einer großen Genauigkeit. Allerdings lässt er auch Unstimmigkeiten zu, denn Erinnerungen sind auch manchmal inkohärent.
    Es sind überwiegend nur alltägliche kleine Erinnerungen, kaum mal etwas dramatisches. Durchaus auch peinliches. Sogar das gilt es aufzubewahren.


    Dass Wilhelm Genazino den Wert von Erinnerungen so hoch festlegt, seien sie auch noch so klein und nebensächlich, nimmt dem Buch das banale.


    Abschließend ist zu erwähnen, dass „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ wahrscheinlich nicht das geeignete Einstiegsbuch in Genazinos Werk ist, da die Kurzprosa schwer fassbar ist und wer keinen Zugang findet, der wird sich vermutlich langweilen.
    Für andere ist es ein zeitloses Buch voller Reichtum an Sprachwitz und Originalität.


    ASIN/ISBN: 3499226944

  • Eine schöne Rezi Herr Palomar und bei 6,50 € kann man ja eigentlich nix verkehrt machen.


    Können sich eigentlich eher Männer mit diesen Erinnerungen identifizieren oder ist das auch für das weibliche Geschlecht interessant?

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Ja, das "Licht" ist auch eins meiner liebsten Genazino-Bücher!


    Das große Thema Erinnerung... dem so viel Wichtigkeit beigemesseen wird, obwohl W. immer wieder Richtigstellungen und Änderungen nachschieben muss, so dass der Leser bald merkt: W. ist kein wirklich zuverlässiger Erzähler.
    Aber darauf kommt es tatsächlich auch nicht an, denn die große Frage, was Erinnerungen eigentlich sind, wie 'real' sie sind und wozu sie dienen, wird in diesem Roman auf ganz eigene Art behandelt!


    Zitat: "Ich möchte das Erstarrte nicht ebenso erstarrt in der Erinnerung wiederholen müssen." (S. 92)


    Zitat

    Die Perspektive ist wie meistens bei Genazino eher männlich gehalten, doch das solte kein Problem sein.


    In seinem Roman Die Obdachlosigkeit der Fische wählte er hingegen eine weibliche Perspektive.



    Wobei ich so meine Zweifel habe, ob sich da wirklich die Perspektive ändert, oder nicht eigentlich nur das Personalpronomen....


    und auch, ob es sich bei Genazino um eine so 'typisch männliche' Perspektive handelt... hmm... also ich (als Frau) habe jedenfalls noch nie Probleme gehabt, mich in seine Protagonisten einzufinden, außer ausgerechnet in der Obdachlosigkeit...! :gruebel

    Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist. (Michel Houellebecq, Elementarteilchen)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Q-fleck ()

  • Ich habe eher gemeint, dass seine angesprochenen "Themen" eventuell eher in ein Männerleben gehören und für Frauen langweilig sind, weil Herr Palomar ja angesprochen hat, dass da nix besonders spannendes dabei ist. Wobei ich jetzt nicht sagen will, dass das nicht sprachlich schön und interessant dargestellt werden kann. Da wäre ich wieder beim Preis angelangt, der mir zuflüstert: "einfach mal Klappe halten und lesen und wenn es nichts für dich ist, sind 6 Euronen nicht die Welt"
    Das Thema Erinnerungen interessiert mich, weil ich ein Typ bin der so gar nicht in Erinnerungen schwelgt. Ich vergesse im Vergleich zu meinem Mann oder der Nachbarin sehr viele Dinge, die wir gemeinsam erlebt haben. Mich interessiert, an was sich der Mann erinnert...

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Zitat

    Original von Q-fleck
    ..., obwohl W. immer wieder Richtigstellungen und Änderungen nachschieben muss, so dass der Leser bald merkt: W. ist kein wirklich zuverlässiger Erzähler.
    ...!


    Das macht sogar einen gewissen Reiz beim Lesen aus!

  • Zitat

    Original von Suzann
    Ich habe eher gemeint, dass seine angesprochenen "Themen" eventuell eher in ein Männerleben gehören und für Frauen langweilig sind, weil Herr Palomar ja angesprochen hat, dass da nix besonders spannendes dabei ist. Wobei ich jetzt nicht sagen will, dass das nicht sprachlich schön und interessant dargestellt werden kann. Da wäre ich wieder beim Preis angelangt, der mir zuflüstert: "einfach mal Klappe halten und lesen und wenn es nichts für dich ist, sind 6 Euronen nicht die Welt"
    ...


    Mein Kommentar sollte keineswegs bedeuten, dass dein Einwand irgendwie nutzlos oder gar dumm war, im Gegenteil.
    Ich finde gerade bei Genazino die Perspektive sehr spannend, weil ich den Eindruck habe, dass er eher 'asexuell' erzählt, also eine allgemein menschliche, nicht unbedingt geschlechtsbedingte Perspektive einnimmt, auch wenn seine Protagonisten zum großen Teil Männer sind und das männliche Geschlechtsteil manchmal eine nicht geringe Rolle spielt ;-)

    Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist. (Michel Houellebecq, Elementarteilchen)

  • Zitat

    Original von Q-fleck


    Mein Kommentar sollte keineswegs bedeuten, dass dein Einwand irgendwie nutzlos oder gar dumm war, im Gegenteil.
    Ich finde gerade bei Genazino die Perspektive sehr spannend, weil ich den Eindruck habe, dass er eher 'asexuell' erzählt, also eine allgemein menschliche, nicht unbedingt geschlechtsbedingte Perspektive einnimmt, auch wenn seine Protagonisten zum großen Teil Männer sind und das männliche Geschlechtsteil manchmal eine nicht geringe Rolle spielt ;-)


    :yikes
    immer her damit
    :rofl

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Ja, das hört sich schon paradox an, klar.


    Aber es geht dabei schließlich um Entfremdung - auch vom eigenen Körper.
    Mehr verrate ich nicht, falls jemand es noch lesen möchte ;-)


    Aber wenn ich mich richtig erinnere, ist dieser Aspekt in "Das Licht brennt ein Loch in den Tag" so oder so nicht besonders stark. Eher in "Mittelmäßiges Heimweh" zum Beispiel

    Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist. (Michel Houellebecq, Elementarteilchen)