"Alle, alle lieben dich" von Stewart O'Nan

  • Da die Suche keine bereits vorhandenen Rezensionen ergeben hat, hoffe ich, dass ich hier richtig bin :-):


    Alle, alle lieben dich" von Stewart O’Nan


    Klappentext: Es ist ihr letzter Sommer vor dem College, der beste Sommer seit der achten Klasse. Kim badet im Fluss, steigt in ihren alten Chevy und macht sich auf den Weg zum Schnellrestaurant, wo sie arbeitet. Dort kommt sie nie an.


    Meine Meinung:
    In seinem aktuellen Roman zeichnet Stewart O’Nan mit beklemmender Präzision das Psychogramm einer Familie im Ausnahmezustand. Kim, die älteste Tochter verschwindet an einem Nachmittag spurlos:
    „(...) Als erstes rief ihre Mutter Nina an.
    Als nächstes J.P.
    Dann Connie im Krankenhaus.
    Und schließlich die Polizei.
    (...)“


    Schon zwei Tage nach Kims Verschwinden rollt eine Suche an, bei der alle helfen: die Polizei, Freunde, Bekannte, Nachbarn und die Bewohner von Kingsville. Mich hat sehr fasziniert, wie professionell diese Suche abläuft, eine Professionalität, der für mich beinahe etwas Perverses anhaftet: Für die Vermissten-Flugblätter gibt es Vorlagen im Internet, Fran, die Mutter, muss nur die leeren Felder ausfüllen und ein Foto von Kim hochladen. Es gibt einen Leitfaden, wie sich die Eltern am Besten verhalten ("Lassen Sie im Zimmer oder Bad Ihres Kindes alles unverändert, ganz besonders den Abfall. Bewahren Sie alle getragenen Kleidungsstücke auf.(...)"). Es werden Plastikschleifen und Bänder verkauft, um eine möglichst hohe Belohnung ausschreiben zu können. Die Interviews mit dem Fernsehen werden vorher geprobt:
    (...) Was für Fragen würden sie stellen?
    „Ganz einfache Sachen“, sagte Jocelyn und zählte alles an den Fingern ab. „Welche Fortschritte es gibt. Wie die Familie klarkommt. Ob ihr eine Nachricht an Kim habt.“
    „Keine, nicht gut und ‚Komm nach Hause’.“
    „Falsch. Wir bekommen eine unglaubliche Unterstützung. Die ganze Gemeinde hilft bei der Suche, und die Polizei geht allen Hinweisen nach.“
    „Die hat keinen Handschlag getan.“
    „Sachte, sachte.“
    „Stimmt aber.“
    „Du kannst doch im Fernsehen nicht über die Polizei herziehen“, sagte Connie. „Alle waren unheimlich hilfsbereit, das Ganze hat die Familie zusammengeschweißt, und du willst Kim sagen, dass du sie liebst. Mehr ist nicht nötig.“
    (...)


    Die Suche bleibt erfolglos und bald darauf übernimmt die Bundespolizei und schließlich das FBI den Fall. In dieser Zeit begleitet der Autor die Familie Larsen und die engen Freunde der Vermissten, die zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen hektischem Aktivismus und Lethargie schwanken, bis sie Jahre später endlich die erlösende und zugleich schreckliche Gewissheit erhalten.
    In manchen Rezensionen wurden dem Buch Längen vorgeworfen, aber ich habe das beim Lesen nicht so empfunden. Meiner Meinung nach ging es dem Autor nicht darum, diese Geschichte mit dem größtmöglichen Thrill zu erzählen, sondern mit der größtmöglichen Authentizität. Dass nichts passiert, dass nach und nach alle Anhaltspunkte im Nichts verlaufen, dass aus Tagen Wochen und dann Monate und schließlich Jahre werden, dieses Verstreichen der Zeit, das die Familie nicht aufhalten kann, dieses Loch, das bleibt und im Alltag allgegenwärtig ist, diese verdammte Hilflosigkeit – darauf richtete O’Nan meiner Meinung nach den Fokus. Und das ist ihm sehr gut gelungen.


    Stewart O’ Nan erzählt die Geschichte aus wechselnden Perspektiven, und er wechselt auch innerhalb der Abschnitte die Perspektiven. Dadurch erhält der Roman eine „distanziert-schwebende“ Atmosphäre, die Unsicherheit der gesamten Situation ist so beim Lesen spürbar.


    Von Stewart O’Nan haben mich schon viele Romane begeistert - und auch der neue konnte mich überzeugen. Er ist leiser als die anderen, aber genau dadurch wird das Können des Autors für mich offensichtlich.


    Liebe Grüße
    Lille

  • Danke für die tolle Rezi, Lille. :wave


    Ich bin ein großer Fan von Stewart O´Nan. Das Buch steht natürlich auch auf meiner Wunschliste. Mal sehen, ob es gleich noch mit in den Einkaufswagen bei amazon hüpft. :-] Wenn da bloß nicht schon so viele Bücher drin wären :schuechtern

  • Ich kann der schoenen Besprechung von Lille nur applaudieren.
    Das Buch ist mein Monatshighlight und beweist die Klasse dieses praezisen, unaufgeregten Erzaehlkuenstlers einmal mehr.


    Alles Liebe von Charlie

  • Zitat

    Original von Eskalina
    :yikes Achduje, wenn ihr euch hier herumtreibt, dann ist das Buch ja auch was für meine WL....


    Danke für die schöne Rezi Lille, du hast mir das Buch wirklich schmackhaft gemacht. :wave


    Witzig oder, bei manchen Eulen, weiß man direkt, daß sich da ein zweiter Blick in die Rezi lohnt, wenn sie sie kommentieren. :lache

  • Zitat

    Original von Eskalina
    Stimmt, wir haben oft schon festgestellt, dass unser Büchergeschmack wohl auf einer Linie liegt. Es verlängert allerdings die WL zusätzlich um ein paar Meter. :grin


    Wir haben unseren "Club" wohl erweitert :grin.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Jetzt hätte ich fast vergessen, etwas über das Buch zu schreiben.


    Das einzige Ärgerliche ist, dass es vom Verlag als literarischer Thriller angepriesen wird, denn ein Thriller ist es sicher nicht.


    Kim verschwindet im Sommer, bevor sie auf das College kommt spurlos. Ob sie abgehauen ist, einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist, entführt wurde, bleibt unklar.


    O'Nan beschreibt nun in seinem Roman, was mit der Familie, den Freunden, Bekannten und Nachbarn passiert.


    Und er zeichnet dabei eine überaus präzise Charakterstudie. Ganz deutlich werden die verschiedenen "Phasen", die nach dem Verschwinden von Kim durchlaufen werden.


    Nach dem ersten Schock macht sich Aktionismus breit, fast die ganze Kleinstadt sucht nach Kim.
    Die Mutter wendet sich an die Medien, der Vater dagegen wird zunehmend apathisch.
    Sehr berührt hat mich auch die jüngere Schwester Lindsay, die durch das Verschwinden ihrer Schwester gar keine Jugend mehr haben kann.


    Die Zeit vergeht, aus Tagen werden Wochen, Monate, ja Jahre.
    In der Kleinstadt ist natürlich längst wieder der Alltag eingekehrt, aber für die Nahestehenden hat sich für immer etwas verändert.


    O'Nan beschreibt dies alles so präzise und ungeschönt, das ich beim Lesen oft eine Gänsehaut hatte.


    Das Buch war mein Monatshighlight im Februar.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Messerscharfe Bestandsaufnahme


    Rowohlt wirbt für diesen Roman mit der Kategorisierung "hochliterarischer Thriller". Dieses Buch ist - auf seine Art - spannend, fraglos, aber es ist ganz sicher kein Thriller.


    Die achtzehnjährige Kim verschwindet nach einer Strandparty mit Freunden, und ihrer Familie wird bald klar, dass der Ausnahmefall eingetreten ist. Beinahe umgehend wird eine akribisch organisierte Suche nach dem hübschen, intelligenten Mädchen gestartet. Fran und Ed, die Eltern, entwickeln sich in kurzer Frist zu Experten. Die Organisation der Suche gerät zum emotionalen Ablenkungsmanöver, das Elternpaar und die jüngere Schwester verändern sich und ihr Leben, das fortan der Detektiv- und Öffentlichkeitsarbeit untergeordnet wird, wobei die Familie die gesamte Stadt einbezieht. Während Fran, die Mutter, die Zuständigkeit für Organisatorisches und Pressearbeit übernimmt, findet der Vater seine Aufgabe im generalstabsmäßig geplanten Durchforsten der Umgebung. Dann entdeckt die Polizei das Auto des vermissten Mädchens, weit vom Heimatort Kingsville entfernt.


    O'Nan erzählt aus wechselnden Perspektiven, distanziert-beobachtend, aber aus sehr geringer Entfernung, wobei mal ein Elternteil im Vordergrund steht, dann Lindsay, die kleine Schwester, die nach und nach aus dem Schatten der vermissten Kim hervortritt, aber auch J.P., Kims Freund, und Nina, die beste Freundin, übernehmen zuweilen die Führung. Der Autor verzichtet dabei auf Kommentare, er berichtet äußerst präzise, nachvollziehbar und schnörkellos. Gelegentlich hat das Buch die erzählerische Qualität eines Polizeiberichts, aber es wäre falsch, dies für die literarische Einordnung heranzuziehen. Die Detailgenauigkeit und hohe gefühlte Authentizität des Geschehens und seine Reflexion machen den großen Reiz dieses Romans aus. Dass es unausweichlich auf das wahrscheinlichste Ende hinausläuft, nimmt dem nur wenig. "Alle, alle lieben Dich" ist kein Schema-F-Roman mit Whodunnit-Showdown, und, wie erwähnt, ganz sicher kein Thriller. Es ist die messerscharfe Bestandsaufnahme einer Grenzsituation, in die niemand je kommen möchte, und eine genaue Skizze der beteiligten Figuren, ihrer Handlungsweisen und Motivationen. Effekthascherei findet nicht statt, ganz im Gegenteil. Die erzählerische Akribie treibt Steward O'Nan allerdings manchmal etwas zu weit; das Buch hätte verlustfrei auch hundert Seiten kürzer ausfallen können.


    Es ist ausgesprochen ergreifend und sehr interessant, die Veränderung dieser Familie mitzuerleben, letztlich über mehrere Jahre hinweg. Der Zurückhaltung des Autors zugunsten seiner Figuren ist es in erster Linie geschuldet, dass dabei ein enorm lesbarer und hochwertiger Roman entstanden ist.

  • Meine Meinung:


    Ich habe es heute zu Ende gelesen und muss leider feststellen, dass es mich absolut kalt gelassen hat.
    An falschen Vorstellungen kann es sicher nicht liegen, denn ich hatte keinen "Thriller" erwartet, wie es der Klappentext dämlicherweise nahelegt.
    Der distanzierte Erzählstil wurde ja schon mehrfach erwähnt. Mir war er zu distanziert. Zu kalt. Zu nüchtern.
    Kurzum, dieser Roman vermochte mich weder zu berühren noch zu überzeugen.

  • Dieses Buch im Klappentext als Thriller auszuloben war wirklich eine Schnapsidee, denn das ist es wirklich nicht. Es ist die Geschichte einer Familie, die das Verschwinden der ältesten Tochter wie der Blitz aus heiterem Himmel trifft, die über lange Zeit hin und her schwankt zwischen Hoffnung, das Kind lebend wieder zu sehen und dem Bangen, mit der schlimmsten aller Nachrichten konfrontiert zu werden. Jeder der Protagonisten geht anders mit der Situation um: Die Mutter stürzt sich in Arbeit, organisiert Wohltätigkeitsveranstaltungen, Suchaktionen und Kampagnen und behält dieses Verhalten über Jahre bei, während der Vater sich zunächst ebenfalls engagiert, im Laufe der Zeit aber lieber akzeptieren würde, dass sein Kind nicht mehr wiederkommt. Dadurch gerät er in einen Zwiespalt, fühlt sich fast schon schuldig, weil das in seinen Augen einer Aufgabe gleich kommt. Dazwischen die jüngste Tochter, die sich nun einer stärkeren Überwachung ihrer Eltern ausgesetzt sieht, die Angst haben, auch das zweite Kind könnte irgendwann verschwinden. Es ist für alle Protagonisten nicht leicht, loszulassen, die Situation zu akzeptieren und zu Normalität zurückzukehren.


    Stewart O'Nan zeichnet ein sehr intensives Bild und fesselt den Leser an seine Protagonisten, lässt während des ganzen Buches sowohl über ihnen als auch dem Leser die Ungewissheit schweben. Der Leser weiß nie mehr als die Protagonisten, hat den selben Kenntnisstand und die selben Hoffnungen. Dieses Buch kommt völlig ohne Tempo aus und wird doch nie langweilig. Vielleicht ist es gerade die Trägheit, die diesen Sog entwickelt, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen will. Distanz zu den Protagonisten habe ich beim Lesen nicht empfunden. Mich haben ihre Ängste, ihre Sorgen und Hoffnungen beim Lesen sehr berührt.